19

Wenn sich Mrs. Hendred in London aufhielt, wurde ihr das Frühstück immer auf einem Tablett ins Schlafzimmer hinaufgebracht. Venetia hingegen pflegte wie viele andere Damen energischeren Wesens, als Mrs. Hendred es besaß, beizeiten aufzustehen und auszugehen, entweder um langweiligere Einkäufe zu erledigen oder in einem der Parks einen Spazierging zu machen. Das Frühstück wurde ihr nach ihrer Heimkehr in einem Salon auf der Rückseite des Hauses serviert, und die Dienerschaft schätzte sie derart hoch, daß Worting persönlich sie bediente, statt sein Amt dem zweiten Butler zu übertragen. Worting hatte ebenso wie Miss Bradpole auf den ersten Blick erkannt, daß Mrs. Hendreds Nichte aus Yorkshire kein Fräulein vom Land war, das sich in London bewähren sollte, oder eine arme Verwandte, die sich keinerlei außergewöhnliche Höflichkeit erwartete. Miss Lanyon war Klasse, und man merkte gut, daß sie in einem aristokratischen Haus zu herrschen gewöhnt war. Außerdem war sie eine sehr angenehme junge Dame, der zu dienen ein Vergnügen war, denn sie war weder zu vertraulich noch hochgestochen. Sie konnte ein freches Londoner Stubenmädel mit einem einzigen Blick bändigen, aber Worting hatte so manchen Plausch mit ihr im Frühstückszimmer genossen. Sie besprachen so interessante Themen wie häusliche Wirtschaftswissenschaft, das Stadtleben im Gegensatz zum Landleben und die Veränderungen, die sich im Lauf der Jahre vollzogen hatten, seit Worting seine vornehme Laufbahn eingeschlagen hatte. Er war es, der Venetias wichtigster Führer durch London wurde, denn sie hielt es durchaus nicht unter ihrer Würde, ihn um seinen Rat zu fragen. Er sagte ihr, welche Stätten eines Besuches würdig und wie sie zu erreichen waren, und wieviel Trinkgeld für Sesselträger oder Droschkenkutscher angemessen war.

An dem Morgen nach Edward Yardleys mißglücktem Theaterabend ging Venetia nicht schon vor dem Frühstück aus, noch wünschte sie sich über irgendeine historische Stätte zu informieren. Sie wollte wissen, welches die elegantesten Hotels der Stadt waren, und hätte sich da kaum an jemand besser Unterrichteten wenden können. Worting konnte ihr über alle etwas erzählen, er war nur zu glücklich, es zu tun, und zählte ihr mit einer Menge Einzelheiten eine fürchterlich lange Liste auf, die von Herbergen wie Osborne's Hotel in der Adam Street – vornehme Unterkunft für Familien und alleinstehende Herren – bis zu Unternehmen wie The Grand im Covent Garden – vortrefflich – reichte, und – falls Miss eines der ersten Häuser benötigte – Grillon's, The Royal, The Clarendon, The Bath und The Pulteney, die alle – neben einer großen Zahl anderer – ausschließlich der Hocharistokratie und der Aristokratie zur Verfügung standen. Worting selbst neigte dazu, The Bath zu begünstigen, auf der Südseite des Piccadilly, neben der Arlington Street – ein weitläufiges Haus, konservativ geführt und von Persönlichkeiten von Geschmack und Noblesse bevorzugt, aber falls Miss etwas im Sinn hatte, das höchst modern war, würde er empfehlen, sich um Zimmer für ihre Freunde im Pulteney zu erkundigen.

Miss hatte genau dies im Sinn. Und als sie noch dazu erfuhr, daß während der etwas verfrühten Friedensfeiern, die 1814 in London abgehalten worden waren, das Pulteney keine geringere Persönlichkeit als den Zaren von Rußland beherbergt hatte – nicht zu erwähnen seine eindrucksvolle Schwester, die Großherzogin von Oldenburg –, beschloß sie, es an die Spitze ihrer Liste der Hotels zu setzen, in denen sie Sir Lambert und Lady Steeple am wahrscheinlichsten entdecken würde. Nachdem sie Worting aufgetragen hatte, seiner Herrin mitzuteilen, daß sie gezwungen war, eine dringende Einkaufstour zu absolvieren, machte sie sich gleich darauf auf den Weg, reizend gekleidet in eine blaue Samtpelisse, mit Chinchilla verbrämt, und ein bezauberndes Samthütchen mit drei gekräuselten Straußenfedern und einer hoch aufgeschlagenen Krempe, mit gefältelter Seide ausgeschlagen. Dazu trug sie einen großen Chinchilla-Muff und bot alles in allem einen so entzückenden Anblick, daß der Wettstreit um ihre Kundschaft, als sie den Droschkenstand in Oxford Street erreichte, unter den versammelten Wagenlenkern wütend und äußerst lärmend wurde.

Als sie beim Pulteney ankam, das an der Nordseite des Piccadilly lag, und mit Aussicht auf den Green Park, sah sie, daß ihr Instinkt nicht geirrt hatte – Sir Lambert und Lady Steeple bewohnten dieselbe Zimmerflucht, die vor vier Jahren Seine Kaiserliche Majestät innehatte.

Venetia sandte ihre Karte hinauf. Kurz darauf wurde sie in einen pompösen Salon im ersten Stock geführt, wo Sir Lambert, gar prächtig in einen Morgenmantel mit Schnurbesatz gehüllt, soeben – und ziemlich hastig – den letzten Bissen eines ausgiebigen und reichhaltigen Frühstücks hinuntergeschluckt hatte.

Die Liebenswürdigkeit, mit der er sie empfing, hätte nicht erfreulicher sein können. Sie war sogar vielleicht um eine Spur zu freundlich, denn nachdem er Venetia sehr schnell mit dem Auge des Connoisseurs überflogen hatte, beanspruchte er das Recht des Stiefvaters für sich, sie mit einem Kuß zu begrüßen. Venetia akzeptierte dies zurückhaltend und unterdrückte die starke Neigung, sich aus dem Kreis seiner Arme zurückzuziehen, lächelte ihn aber verwirrend süß an.

Er war entzückt. Er drückte ihre Taille ganz leicht und sagte: «Ei, ei, ei, wer hätte gedacht, daß ein so trüber grauer Morgen eine so wunderschöne Überraschung bringen würde? Ich behaupte, die Sonne ist heute trotzdem aufgegangen! Und du bist also meine Tochter! Laß dich einmal anschauen!» Er hielt sie auf Armeslänge von sich ab, schaute sie von Kopf bis Fuß abschätzend an und in einer Art, die ihr das unbehagliche Gefühl verursachte, daß sie sich zu leicht gekleidet hinausgewagt hätte. «Auf mein Wort, ich hätte nie gedacht, daß ich ein derart liebliches Mädel als Tochter habe!» sagte er. «Aha, da wirst du rot – und verteufelt hübsch siehst du dabei aus, meine Liebe! Aber du brauchst gar nicht rot zu werden, weißt du! Wenn dein Stiefpapa dir nicht ein Kompliment machen darf, dann möchte ich gern wissen, wer sonst! Und da bist du uns also besuchen gekommen! Ich wundere mich nicht. Nein, denn ich habe erst gestern abend zu Aurelia gesagt, daß du ganz danach aussiehst, daß du ein liebes Mädel bist, und das bist du auch. Als sie dich mit Maria Hendred zusammen sah, erriet sie sofort, wer du bist, aber – <Verlaß dich drauf!> sagte sie. <Maria wird schon aufpassen, daß sie sie nicht in Hörweite an mich heranläßt!>»

«Hat – hat meine Mutter gewünscht, mich zu sehen?» fragte Venetia.

«Wer würde das nicht, meine Liebe? Jaja, ich wage zu behaupten, daß sie sogar verteufelt froh sein wird, daß du gekommen bist. Sie hat nicht davon gesprochen, weißt du, aber ich bilde mir ein, daß es ihr durchaus nicht gleichgültig war, als dieser Bruder da von dir sie nie besuchen kam. Ein schöner junger Mann – aber trägt die Nase viel zu hoch.»

«Conway!» rief sie aus. «Wo war das, Sir – in Paris?»

«Nein, nein, in Lissabon! Der dumme Schlingel hat nicht mehr getan, als gerade nur sich verbeugt – genauso hoch hinaus wie sein Vater! Tja, und einen schönen Mist hat er da mit seiner Heirat angerichtet, was? Himmel, meine Liebe, wie ist der in diese Falle geraten? <Na>, hab ich gesagt, als ich hörte, daß <die Witwe> ihn geschnappt hat, <das ist jetzt der Sturz aus einer luftigen Höhe!> – Und was bringt dich nach London, mein hübsches Töchterchen?»

Sie erzählte ihm, sie sei bei ihrer Tante auf Besuch, und als er erfuhr, daß es ihr erster Londoner Aufenthalt war, rief er aus, er wünschte, er hätte sie ausführen können, damit sie alle die großen Gesellschaftslöwen kennenlernte.

Nach ungefähr zwanzig Minuten kam ein schickes französisches Zöfchen ins Zimmer und meldete, daß «Miladi» jetzt bereit sei, «Mademoiselle» zu empfangen. Venetia wurde durch einen kleinen Salon und ein Vorzimmer in ein großes, luxuriöses Schlafzimmer geführt. Es duftete üppig nach einem feinen Parfüm; Venetia blieb plötzlich auf der Schwelle stehen und rief unwillkürlich aus: «Oh, dein Parfüm! Ich erinnere mich daran – ich erinnere mich ja so gut daran!»

Ein glockenhelles Lachen begrüßte sie. «Wirklich? Ich habe es immer benützt – schon immer! Oh, du hast immer dagesessen und hast mir zugeschaut, wenn ich mich für eine Gesellschaft ankleidete, nicht? Du warst ein so drolliges Geschöpfchen, aber ich dachte schon damals, daß du höchstwahrscheinlich hübsch werden würdest, wenn du einmal groß sein wirst!»

Aus ihrem plötzlichen Heimweh zurückgerufen, stammelte Ve netia bei ihrem Knicks: «Oh, ich bitte vielmals um Verzeihung, Ma'am! How – how do you do?»

Lady Steeple lachte wieder und erhob sich von ihrem Stuhl vor einem Toilettetisch, der mit Tiegelchen, Fläschchen und Schmuckschachteln bedeckt war, kam auf ihre Tochter zu und streckte ihr die Hände entgegen. «Ist das nicht einfach absurd?» sagte sie und bot Venetia eine zart geschminkte und gepuderte Wange zum Kuß. «Ich habe das Gefühl, es ist einfach nicht möglich, daß ich eine erwachsene Tochter habe!»

Einem Rippenstoß ihres Schutzengels gehorchend, antwortete Venetia: «Das würde auch kein Mensch glauben, Ma'am – nicht einmal ich!»

«Du Darling! Was haben sie dir über mich erzählt – Francis und Maria und ihre ganze muffige Clique?»

«Nichts, Ma'am, außer, daß ich niemals so wunderschön werden würde wie Sie, und das habe ich nur von Nurse! Bis gestern habe ich geglaubt, Sie seien gestorben, als Sie uns verließen.»

«O nein, wirklich? Hat dir das Francis gesagt? Ja, bestimmt, denn das sähe ihm ja so ähnlich! Der Arme, ich war ja eine solch schwere Heimsuchung für ihn! Hast du ihn gern gehabt?»

«Nein, überhaupt nicht», antwortete Venetia ruhig.

Darüber mußte Ihre Gnaden wieder lachen. Sie bedeutete Venetia mit einer Geste, Platz zu nehmen, setzte sich wieder vor ihren Toilettetisch und betrachtete ihre Tochter kritisch. Venetia hatte jetzt Muße zu erkennen, daß das Gewoge aus Spitze und Gaze, in das Ihre Gnaden gehüllt war, in Wirklichkeit ein Morgenmantel war. Es war durchaus nicht die Art Kleidungsstück, das zu tragen man von seiner eigenen Mama erwartet hätte, denn es war ebenso unanständig, wie es hübsch war. Venetia fragte sich, ob Damerel der Anblick seiner jungen Frau in genauso einer durchsichtigen Wolke aus Gaze gefallen würde, und neigte stark zu der Meinung, daß es ihm sehr gefallen würde.

«Also jetzt erzähle mir einmal alles über dich!» forderte Lady Steeple Venetia auf, während sie ihren Handspiegel aufnahm und ernst ihr Profil studierte. «Du siehst mir äußerst ähnlich, aber deine Nase ist nicht so gerade wie die meine, und ich bilde mir ein, daß dein Gesicht kein ganz perfektes Oval ist. Und ich meine wirklich, Liebstes, daß du gerade nur um eine Spur, aber doch zu groß bist. Trotzdem hast du dich bemerkenswert gut herausgemacht! Conway ist auch sehr hübsch, aber so steif und dumm, daß er mich an seinen Vater erinnerte, und ich konnte mir nicht helfen, ich mochte ihn einfach nicht. Was hat er doch da in Paris zusammengepfuscht! Hätte es dich gefreut, wenn ich den Plan der Witwe durchkreuzt hätte? Ich bin überzeugt, es wäre mir gelungen, denn sie ist eine derart reputierliche Person, daß sie geradezu besessen ist, so zu tun, als existiere ich überhaupt nicht. Ich habe das von irgendwem gehört, der weiß, daß das Tatsache ist! Ich hatte große Lust, ihr einen Besuch abzustatten – um die Bekanntschaft meiner zukünftigen Schwiegertochter zu machen, weißt du! Es wäre ja ein solcher Spaß geworden! Ich habe vergessen, warum ich dann doch nicht hinging – ich vermute, ich hatte zuviel zu tun, oder vielleicht hat Lamb – o nein, jetzt erinnere ich mich! Es war so heiß in Paris, daß wir uns in unser château zurückzogen – mein Trianon! Lamb hat es gekauft und mir als Überraschung zum Geburtstag geschenkt – der reizendste Fleck, den man sich vorstellen kann! Na schön, wenn Conway daraufkommt, daß er sich an eine stumpfsinnige kleine nigaude gekettet hat, geschieht ihm sehr recht! Warum bist eigentlich du noch nicht verheiratet, Venetia? Wie alt bist du? Es ist so dumm, sich nicht an Zahlen zu erinnern, aber ich kann das nie!»

«Über fünfundzwanzig, Ma'am!» antwortete Venetia mit einem ziemlich spitzbübischen Zwinkern.

«Fünfundzwanzig!» Lady Steeple schien einen Augenblick zurückzuschrecken und hob doch tatsächlich die Hand, als wollte sie etwas Häßliches abwehren. «Fünfundzwanzig!» wiederholte sie und schaute instinktiv mit prüfend zusammengekniffenen Augen in den Spiegel. «Oh, unmöglich! Ich war natürlich noch das reinste Kind, als du geboren wurdest! Aber was in aller Welt hast du mit dir angestellt, daß du entschieden sitzengeblieben bist?»

«Gar nichts, Ma'am», sagte Venetia und lächelte sie an. «Sehen Sie, bevor ich vor einem Monat nach London kam, hatte ich noch keine größere Stadt als York gesehen, noch bin ich weiter von Undershaw fortgekommen als bis Harrogate!»

«Guter Gott, das ist doch nicht dein Ernst?» rief Lady Steeple aus und starrte sie an. «So etwas Entsetzliches habe ich noch nie im Leben gehört! Erzähl mir doch!»

Venetia erzählte ihr also, und obwohl der Gedanke an Sir Francis als Einsiedler Lady Steeple wieder in ihr entzückendes Lachen ausbrechen ließ, war sie von der Geschichte wirklich entsetzt und rief, als Venetia geendet hatte: «Oh, du armes kleines Ding! Haßt du mich jetzt deshalb?»

«Nein, natürlich nicht!» antwortete Venetia beruhigend.

«Weißt du, ich wollte wirklich nie Kinder haben!» erklärte Ihre Gnaden. «Sie ruinieren einem die Figur, und wenn man schwanger ist, schaut man einfach abscheulich aus, und sie schauen auch abscheulich aus, ganz rot und verschrumpft, obwohl ich sagen muß, du und Conway, ihr wart sehr hübsche Babys. Aber mein letztes – wie war doch der Name, auf dem Francis bestand? Oh, Aubrey, nicht? Nach einem seiner dummen Ahnen. Ja, Aubrey! Nun, der schaute wie ein kranker Affe aus – fürchterlich! Natürlich hielt es Francis für meine Pflicht, daß ich ihn selbst stille, als wäre ich eine Bauerndirne gewesen! Ich kann mir nicht erklären, wie er auf einen derart vulgären Einfall kam, denn ich jedenfalls weiß, daß die alte Lady Lanyon immer eine Amme anstellte! Aber es ging nicht gut aus, denn es machte mich ganz krank, ein solches verschrumpeltes Geschöpf anschauen zu müssen. Außerdem war er so lästig, daß er mich nervös machte. Ich hätte nie geglaubt, daß er am Leben bleibt, aber er lebt doch, nicht?»

Im Schutze ihres Muffs ballte Venetia die Hände, bis die Nägel in die Handflächen schnitten, aber sie antwortete kühl: «O ja! Vielleicht war er wegen seiner Hüfte lästig. Er hat ein krankes Hüftgelenk, müssen Sie wissen. Es ist jetzt besser, aber er hat sehr viel gelitten, als er jünger war, und er wird immer hinken.»

«Der arme Junge!» sagte Ihre Gnaden mitleidig. «Ist er mit dir nach London gekommen?»

«Nein, er ist im Yorkshire geblieben. Ich glaube nicht, daß ihm viel an London läge. Ja, es liegt ihm überhaupt nicht viel an etwas anderem als an seinen Büchern. Er ist ein Gelehrter – ein glänzender Gelehrter!»

«Heiliger Himmel, wie gräßlich langweilig!» bemerkte Lady Steeple mit schlichter Aufrichtigkeit. «Zu denken, daß du mit einem Einsiedler und einem Gelehrten eingesperrt warst, deprimiert mich direkt. Du armes Kind! Oh, du warst das Dornröschen. Wie rührend! Aber es hätte doch ein Prinz kommen müssen, der dich wach küßt. Es ist zu schlimm!»

«Der ist auch gekommen», sagte Venetia. Sie errötete leicht. «Nur hat er es sich in den Kopf gesetzt, daß er kein Prinz, sondern nur ein Thronräuber im Prinzengewand ist.»

Lady Steeple war sehr erheitert. «Oh, aber das verpatzt die Geschichte!» protestierte sie. «Außerdem, warum soll er sich für einen Thronräuber halten? Das ist ganz unwahrscheinlich!»

«Ja, aber Sie wissen doch, wie Prinzen im Märchen sind, Ma'am! Jung und schön und tugendhaft! Und wahrscheinlich todlangweilig», fügte sie nachdenklich hinzu. «Nun, mein Thronräuber ist in Wirklichkeit nicht sehr jung und nicht schön und bestimmt nicht tugendhaft – ganz im Gegenteil. Anderseits – langweilig ist er nicht.»

«Du hast dich ganz klar in einen Wüstling verliebt! Aber wie interessant! Erzähle mir doch alles über ihn!»

«Ich glaube, Sie kennen ihn wahrscheinlich, Ma'am.»

«Ach nein, wirklich? Wer ist es?»

«Damerel», antwortete Venetia.

Lady Steeple gab es einen Ruck. «Was?! Unsinn, du schwindelst. Bestimmt!» Sie brach ab und runzelte die Bräuen. «Ich erinnere mich jetzt – sie haben doch einen Besitz dort, nicht? – die Damerels –, nur waren sie kaum je dort. Also hast du ihn doch kennengelernt – und natürlich hat er dich herumgekriegt – und du hast dein Herz an ihn verloren, Teufel, der er ist! Na, meine Liebe, ich muß schon sagen, er hat außer deinem noch Dutzende anderer Herzen gebrochen, also trockne deine Tränen und mach dich daran, selbst ein paar zu brechen. Es ist bei weitem amüsanter, versichere ich dir!»

«Ich kann mir nichts vorstellen, was derart amüsant wäre, als mit Damerel verheiratet zu sein», sagte Venetia.

«Mit ihm verheiratet! Himmel, sei keine Gans! Damerel hat noch nie in seiner ganzen skandalösen Laufbahn jemanden heiraten wollen!»

«O doch, Ma'am, er wollte! Er wollte einmal Lady Sophia Vobster heiraten, nur hat sie sich höchst glücklicherweise in jemand anderen verliebt; und jetzt will er mich heiraten.»

«Irregeleitetes Mädchen! Er hat dich angeschwindelt!»

«Ja, er hat versucht, mich anzuschwindeln, so daß ich denken sollte, er hätte nur mit mir gespielt, und wenn sich meine Tante nicht die Wahrheit hätte entschlüpfen lassen, wäre es ihm wirklich gelungen. Das – das ist der Grund, warum ich zu Ihnen gekommen bin, Ma'am. Sie allein könnten mir helfen – wenn Sie wollten!»

«Ich dir helfen?» Lady Steeple lachte, diesmal aber nicht so melodiös. «Etwas Besseres ist dir nicht eingefallen? Laß mich dir sagen – ich könnte dich viel leichter ruinieren!»

«Ich weiß, daß Sie das könnten», sagte Venetia freimütig. «Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie das selbst sagen, weil es mir viel weniger peinlich macht, Ihnen das Ganze zu erklären. Sehen Sie, Ma'am, Damerel glaubt, wenn er mir einen Heiratsantrag macht, würde er mir ein großes Unrecht zufügen, weil er und mein Onkel Hendred miteinander gefunden haben, daß ich andernfalls eine glänzende Partie machen würde, während ich, wenn ich ihn heirate, sehr wahrscheinlich von der guten Gesellschaft gemieden und eine Vagabundin werden würde wie er. Mir gefiele das außerordentlich, daher ist das, was ich jetzt tun muß, ihn überzeugen, daß ich, statt eine glänzende Partie zu machen, am Rand des totalen gesellschaftlichen Ruins stehe. Ich habe mir das Gehirn zermartert, wie ich das anstellen könnte, aber ich konnte keinen Ausweg finden – zumindest keinen, der zweckdienlich wäre! – und ich war so schrecklich verzweifelt – oh, so elend! Und dann, gestern abend, als mir meine Tante erzählte – sie dachte, ich würde entsetzt sein, aber ich war überglücklich, weil ich blitzartig sah, daß Sie der einzige Mensch sind, der mir helfen kann!»

«Zum gesellschaftlichen Ruin! Na, ich muß schon sagen!» rief Ihre Gnaden. «Und das alles, damit du den Wüstling Damerel heiraten kannst – was ich nicht glaube! Nein, ich glaube es einfach nicht!»

Aber als sie die Geschichte jener Herbstidylle gehört hatte, glaubte sie es. Sie schaute ihre Tochter seltsam an und begann dann mit den Tiegeln auf ihrem Toilettetisch herumzuspielen, stellte sie auf und wieder um. «Du und Damerel!» sagte sie nach langem Schweigen. «Bildest du dir ein, daß er dir treu bleiben würde?»

«Ich weiß es nicht», sagte Venetia. «Ich glaube, er wird mich immer lieben. Sehen Sie, wir sind so gute Freunde.»

Lady Steeple hob schnell die Augen und starrte Venetia an. «Du bist ein seltsames Mädchen», sagte sie abrupt. «Aber du weißt nicht, was es bedeutet, ein – gesellschaftlich ein Outcast zu sein!»

Venetia lächelte. «Aber dank Ihnen und Papa, Ma'am, war ich das doch mein ganzes Leben.»

«Ich nehme an, du gibst mir die Schuld daran – aber wie hätte ich ahnen sollen ...»

«Nein, wirklich, ich gebe Ihnen keine Schuld, aber Sie werden zugeben, Ma'am, daß Sie mir auch keine Ursache gaben, Ihnen dankbar zu sein», sagte Venetia schroff.

Lady Steeple zuckte die Achsel und sagte etwas schmollend: «Nun, ich habe ja nie Kinder haben wollen! Das habe ich dir schon gesagt.»

«Aber ich kann nicht glauben, daß Sie wünschten, uns unglücklich zu machen.»

«Natürlich nicht! Aber was ...»

«Ich bin aber unglücklich», sagte Venetia und richtete den Blick fest auf das liebliche, leicht verdrossene Gesicht. «Sie könnten eine ganz kleine Kleinigkeit für mich tun – eine so winzige Kleinigkeit! – und ich könnte vielleicht wieder glücklich werden und Ihnen so sehr, so aus Herzensgrund dankbar sein!»

«Das ist zu schlimm von dir!» rief Lady Steeple. «Ich hätte doch wissen sollen, daß du nur versuchen würdest, meine Ruhe zu stören, mich in eine Nervenkrise zu bringen –. Was stellst du dir vor, daß ich für dich tun kann?»

Sir Lambert, der es eine halbe Stunde später wagte, in das Zimmer zu lugen, fand seine Stieftochter dabei, sich zu verabschieden, und seine Frau in einer unbestimmbaren Laune zwischen Lachen und Ärger. Es überraschte ihn nicht. Er hatte gefürchtet, daß sie diese Begegnung mit ihrer lieblichen Tochter etwas aufregend finden würde. Zum Glück brachte er eine Nachricht, die geeignet war, ihre Laune zu heben.

«Oh, bist du das, Lamb?» rief sie aus. «Komm herein und sag mir, wie dir meine Tochter gefällt! Ich bin überzeugt, du hast schon mit ihr geflirtet, denn sie ist ja so hübsch! Nicht wahr? Meinst du nicht auch?»

Er kannte diese Stimme, etwas höhergeschraubt als gewöhnlich, voll brüchiger Heiterkeit. Er sagte: «Ja, das ist sie! Auf mein Wort, es ist verteufelt schwer, euch beide auseinanderzuhalten! Aber ich bilde mir ein, du hast ihr einen Vorteil voraus – ganz kommst du leider deiner Mama nicht gleich, meine Liebe, und du wirst mir doch nicht übelnehmen, wenn ich es sage, denn weißt du, ihre Züge sind vollkommen. Jaja, genau das hat Lawrence gesagt, als er ihr Porträt malte! Vollkommene Züge!»

Lady Steeple saß an einem kleinen Schreibtisch, aber sie stand auf, kam hastig herbei, stellte sich neben Venetia und drehte sie herum, damit sie in einen Stehspiegel schauen konnte. Eine Minute lang starrte sie auf die zwei Gesichter im Spiegel, und dann, zu Venetias Bestürzung, warf sie sich an Sir Lamberts stattliche Brust und weinte: «Sie ist fünfundzwanzig, Lamb! Fünfundzwanzig!»

«Na, mein Hübsches, na, na!» sagte er und tätschelte sie beruhigend. «Da hat sie ja noch eine Menge Zeit, um doch noch eine solche Schönheit zu werden, wie ihre Mama! Na, na, na!»

Lady Steeple lachte hysterisch auf und riß sich los: «Oh, du bist wirklich zu albern! Nimm sie weg! Ich muß mich ankleiden! Ich hasse Morgenbesucher! Ich schau einfach gräßlich aus!»

«Nun, ich kann Ihnen sagen, daß das nicht stimmt», sagte Venetia und stopfte einen versiegelten Brief in ihr Retikül. «Wissen Sie, als ich ein kleines Mädchen war, dachte ich immer, daß Sie wie eine Fee seien, und das sind Sie auch. Ich habe mich im Leben noch nie neben jemandem so sehr wie ein Tölpel gefühlt wie neben Ihnen! Wenn ich doch bloß wüßte, wie man das macht – so gehen, als schwebe man!»

«Schmeichlerin! Da, küß mich, und fort mit dir, dein Glück suchen. Ich wünsche dir, daß du es findest. Natürlich wirst du das nicht, aber gib dann nur ja nicht mir die Schuld!»

«Auf Glückssuche ist sie, so?» sagte Sir Lambert. «Da habt ihr zwei also ein Geheimnis miteinander? Aber da ist deine Zofe, schon ganz nervös, dich fertigzumachen, damit du, ich weiß nicht wieviel, Leute empfängst, die von Robert herübergeschickt worden sind!»

«Oh, mein neuer Reitanzug!» rief Lady Steeple, und ihr Gesicht hellte sich auf. «Schick mir sofort Louise, Lamb! Liebes Kind, ich muß dir Adieu sagen – ich muß einfach! Nicht ein Franzose ist imstande, einen Reitanzug zu machen: Robert macht sie mir, seit ich Debütantin war! Deshalb bin ich ja mit Lamb hergekommen. Ich hasse London einfach – und noch dazu im November!»

Noch einmal wurde Venetia die weiche, duftende Wange zum Kuß geboten; sie sagte: «Leben Sie wohl, Ma'am – und ich danke Ihnen ja so! Sie waren sehr, sehr gütig zu mir!»

Sie knickste, als Lady Steeple ihr eine Grimasse schnitt, und dann führte Sir Lambert sie aus dem Zimmer und sagte, als er die Tür schloß: «Bist ein braves Mädchen! Ich bin froh, daß du ihr das gesagt hast! Sie spürt's, weißt du – wird schwermütig. Nicht mehr so jung, wie sie war! Es hat dir doch nichts ausgemacht, daß ich gesagt habe, du kämst ihr nicht gleich?»

Venetia beruhigte ihn. Er sagte, er wolle sie noch die Treppe zu ihrer Zofe hinunterbegleiten, und als sie ihm gestand, daß sie allein gekommen war, erklärte er, er wolle sie zum Cavendish Square begleiten. Sie bat ihn, sich nicht zu bemühen, und sagte, sie sei gewöhnt, allein zu gehen, und hätte vor, noch eine Kleinigkeit in der Bond Street zu besorgen – aber es nützte ihr nichts.

«Nein, nein, das geht nicht! Ich staune über Maria Hendred, auf mein Wort, wirklich! Ein bezauberndes Mädchen ganz allein gehen zu lassen! Ja, und daß dich alle die Bond-Street-Beaus anglotzen, die Schurken! Du mußt mir schon das Vergnügen machen, dich begleiten zu dürfen, und brauchst dich nicht zu sorgen, daß es deiner Mama vielleicht nicht recht wäre, wenn ich mit dir gehe. Ich versichere dir, sie wird sich nicht ärgern, denn», sagte Sir Lambert schlicht, «ich werde es ihr nicht erzählen.»

Als daher Sir Lamberts Kammerdiener seinem Herrn in den Mantel geholfen und ihm Flut, Handschuhe und Spazierstock gereicht hatte, machte sich Venetia in seiner Gesellschaft auf den Weg, nicht unerfreut, so vielen Bekannten ihrer Tante, wie sie nur glücklicherweise treffen mochten, zu demonstrieren, daß sie mit ihrem disreputierlichen Stiefvater auf dem besten Fuß stand. Sir Lambert war eine imposante Gestalt, und da ihm seine Korpulenz ein schnelles Vorwärtskommen unmöglich machte, kamen die beiden nur langsam voran. Als sie in die Bond Street eingebogen waren, waren sie schon dicke Freunde geworden, und Sir Lambert, abgesehen davon, daß er sich seiner schönen Gefährtin gegenüber höchst galant betrug, hatte sie mit verschiedenen Anekdoten aus seiner Jugend ergötzt, über die sie in einer Art lachen mußte, die ihn sehr entzückte und ihn ermutigte, ihr verschiedene ziemlich heiklere Anekdoten anzuvertrauen. Er begleitete sie in das Geschäft eines Stoffhändlers und war ihr bei der Auswahl von Musselin für ein Kleid von größter Hilfe. Als sie das Geschäft verließen, würde er ihr das Päckchen getragen haben, wenn sie es nicht in ihren Muff gestopft und ihm gesagt hätte, sie habe noch nie einen Star der noblen Kreise gesehen, der etwas so Plumpes wie ein mit Bindfaden verschnürtes Päckchen trug.

Auf der Straße gab es ziemlich viele Kutschen und eine ganze Menge modisch gekleideter Spaziergänger, aber erst als sie Grosvenor Square erreichten, hatte Venetia die Genugtuung, jemanden zu erblicken, den sie kannte. In dem verdutzten Gesicht erkannte sie eine Dame, die sie am Cavendish Square kennengelernt hatte, und verneigte sich leicht. Sir Lambert, wie immer höflich, zog den Kastorhut von seinen pomadisierten Locken und verbeugte sich ebenfalls. Das Cumberland-Korsett, das er trug, krachte protestierend, aber Venetia war ziemlich verblüfft, als sie sah, mit was für majestätischer Grazie ein so stattlicher Mann diese Höflichkeitsgeste auszuführen vermochte.

Sie waren vor einem Juwelierladen angekommen, und Sir Lambert, dem ein glücklicher Einfall gekommen war, sagte: «Weißt du, mein Liebes, ich glaube, wenn es dir nicht unangenehm ist, wollen wir da einmal hineinschauen. Die arme Aurelia hat oft Anfälle von Niedergeschlagenheit, und sie war zweifellos ein bißchen außer sich. Du sollst mir eine Kleinigkeit aussuchen helfen, um sie abzulenken!»

Sie war sehr gern dazu bereit und amüsierte sich sehr dabei, als sie entdeckte, daß sich das, was er unter «einer Kleinigkeit» verstand, als ein Diamantanhänger erwies. Aurelia, sagte er, liebe Diamanten. Venetia dünkte, daß er bei seiner Wahl nicht viel ihres Rates bedurfte, aber sie entdeckte bald, daß er es gern hatte, wenn man seinem Geschmack zustimmte; so hörte sie auf, die Anhänger, die ihm nicht gefielen, besser zu finden, und bewunderte pflichtgetreu alle drei, die ihn offenkundig ansprachen. Als er schließlich seine Wahl getroffen hatte, verlangte er einige Broschen zu sehen, und hier durfte Venetia ihren Geschmack sprechen lassen. Sie konnte beim besten Willen eine luxuriöse Brosche aus Saphiren und Diamanten nicht schöner finden als eine sehr hübsche aus Aquamarinen. Er tat sein Bestes, sie zu überzeugen, daß Aquamarine bloßer Plunder seien, aber als sie ihn auslachte und darauf beharrte, daß sie reizend seien, sagte er: «Schön, schön, wenn du das wirklich meinst, will ich sie kaufen, denn du hast einen vorzüglichen Geschmack, meine Liebe, und weißt es wirklich am besten!»

Als sie aus dem Laden auftauchten, entdeckten sie Edward Yardley, wie er, die Hände auf dem Rücken verschränkt, aufmerksam ein Brett mit Ringen studierte, das in einem der Schaufenster ausgestellt lag. Er wandte den Kopf gerade, als Venetia den angebotenen Arm Sir Lamberts nahm, und stieß derart laut hervor, daß sich ein Passant nach ihm umdrehte: «Venetia!»

«Guten Morgen, Edward!» sagte sie mit einer, wie er es empfand, unverfrorenen Ruhe. «Ich freue mich sehr, dich zu treffen, aber ich möchte schon bitten, daß du nicht die ganze Straße mit meinem Namen beglückst! Sir, erlauben Sie mir, Ihnen Mr. Yardley vorzustellen? Er ist ein alter Freund von mir, aus Yorkshire. Edward, ich nehme an, du kennst meinen Stiefvater noch nicht – Sir Lambert Steeple!»

«How-de-do?» sagte Sir Lambert und reichte Edward zwei Finger. «Aha – Sie wünschen mich nach Jericho, nicht? Na, das kann ich Ihnen nicht übelnehmen, aber meine Beute gebe ich Ihnen doch nicht ab. Nein, nein, Sie können mich so durchbohrend anschauen, wie Sie wollen, aber dieses Händchen bleibt, wo es ist!»

Man konnte von Edward wohl sagen, daß er die Erlaubnis, die ihm so herzlich gewährt wurde, voll ausnützte. Während Sir Lambert sprach, tätschelte er das Händchen auf seinem Arm väterlich und lächelte in Venetias fröhliche Augen in einer Art herunter, die von väterlich so weit entfernt war, daß sich Edward einfach nicht zurückhalten konnte, sondern mit beträchtlich weniger als seiner gewohnt ernsten Überlegenheit sagte: «Ich bin auf meinem Weg zum Cavendish Square, Sir, und werde Miss Lanyon begleiten!»

Sir Lambert amüsierte sich. Seine vorquellenden blauen Augen maßen Edward von Kopf bis Fuß, und es entging ihnen nicht eine Einzelheit, die Edward als den wohlhabenden Edelmann vom Lande ohne eine Spur mondänen Anstrichs kennzeichnete. Das also war der unvermeidliche Prätendent, und nach der Vertrautheit, mit der Venetia ihn angesprochen hatte, zu urteilen, erfreute er sich ihrer Gunst. Sir Lambert meinte, sie hätte es zwar besser treffen können, aber der junge Bursche schaute nicht übel aus, und zweifellos wußte sie am besten, was sie zu tun hatte. Er schaute auf sie herunter, mit einem spitzbübischen Glitzern in den Augen. «Sollen wir ihn mit uns gehen lassen, meine Liebe, oder sollen wir ihn einfach schneiden? Was meinst du?»

Das war zuviel für Edward. Sein Gesicht war schon unnatürlich rot, denn seine Wut war nicht nur vom Anblick Venetias am Arm Sir Lamberts geweckt worden, sondern sein Selbstgefühl wand sich unter dem zwar jovialen, aber leicht verächtlichen, forschenden Blick des erfahrenen Roués. Sir Lambert mochte fast doppelt so alt sein wie Edward, aber Edward war die nonchalante Selbstsicherheit des großen Herrn zuwider, und noch zuwiderer war es ihm, von Sir Lambert als eifersüchtiger Grünschnabel angesehen zu werden. Er stierte noch wilder drein und sagte mit gräßlicher Höflichkeit: «Miss Lanyon ist Ihnen sehr dankbar, Sir, aber wollen Sie sich nicht weiter die Mühe machen, sie zu begleiten!»

Sir Lambert kicherte. «Jaja, ich sehe schon, wie es ist! Sie möchten es gern mit mir in der Morgendämmerung austragen! Das nenn ich doch einen Dandy! Es gefällt mir, wenn ein junger Bursche bereit ist, die Farben seiner Dame ins Turnier zu tragen! Himmel, ich war zu meiner Zeit selbst ein Hitzkopf, aber das war noch, bevor Sie auf der Welt waren, mein Junge! Sie können mich gar nicht fordern, das wissen Sie ja! Ei, ei, es ist ja wirklich zu schlimm von mir, Sie aufzuziehen! Kommen Sie doch mit uns bis zum Ende der Straße, und dann, falls es meinem hübschen Töchterchen überhaupt paßt, dürfen Sie sie den Rest des Weges allein begleiten.»

Edward erstickte fast. Bevor er noch aussprechen konnte, was ihm an schroffen Worten auf der Zunge lag, schaltete sich Venetia ein und sagte kühl amüsiert: «Oswald Denny, wie er leibt und lebt! Mein lieber Edward, ich bitte dich, mach dich nicht lächerlich.»

«Und wer», fragte Sir Lambert angenehm neugierig, «ist nun wieder dieser Oswald Denny, wie? Oh, du kannst ja spröde dreinschauen, aber du kannst mich nicht beschwindeln, Kätzchen! Jaja, ich jedenfalls merke, wie du zwinkerst! Ich wette, du hast alle die jungen Hähne im Yorkshire gegeneinander gehetzt.»

Sie lachte, lenkte aber ab und leitete das Gespräch in Bahnen, die für Edward weniger erbitternd waren. Entschlossen, sie nicht mit Sir Lambert zusammen zu verlassen, und doch nicht imstande, sie mit Gewalt von diesem ältlichen Lebemann loszuringen, blieb ihm nichts übrig, als sich ihnen anzuschließen und in steifer Einsilbigkeit auf Bemerkungen zu antworten, soweit sie von Zeit zu Zeit an ihn gerichtet wurden.

Als sie zum Ende der Straße gekommen waren, blieb Venetia stehen, zog ihre Hand aus Sir Lamberts Arm, wandte sich ihm zu und sagte mit ihrem freundlichsten Lächeln: «Danke, Sir, Sie sind viel zu lieb gewesen, daß Sie mich schon so weit begleitet haben, und es wäre geradezu infam von mir, wollte ich Sie noch weiter zerren. Ich bin Ihnen schon so sehr zu Dank verpflichtet – und Sie hatten wirklich vollkommen recht –, der indische Musselin wird viel besser wirken als der mit dem Rankenmuster!»

Sie streckte ihm die Hand hin, und er drückte sie warm, während er seinen glänzenden Kastorhut mit der geschwungenen Krem pe in einer schwungvollen Geste lüftete, um die ihn so mancher angehende Dandy beneidet hätte. Sie merkte, daß er ihr das kleine der beiden Schmuckschächtelchen in die Hand drückte, und war einen Augenblick lang bestürzt. «Aber Sir ...!»

Er schloß ihre Finger um das Schächtelchen. «Aber – das ist doch nichts! Plunderzeug – doch anscheinend hat es dir am besten gefallen! Du wirst mir doch erlauben, dir ein kleines Geschenk zu machen – eine Kleinigkeit von deinem Stiefvater!»

«O nein!» rief sie aus. «Wirklich, Sir, das dürfen Sie nicht! Ich bitte Sie ...!»

«Nein, nein, nimm es nur, mein Liebes! Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du es annimmst! Ich habe nie eine Tochter gehabt, weißt du, aber wenn ich eine gehabt hätte, dann hätte ich gern gesehen, daß sie so ist wie du, mit deinem süßen Gesichtchen und deiner lieben Art!»

Sie war sehr gerührt, und ohne sich um die Passanten oder Edwards sprachlosen Ärger zu kümmern, hob sie sich auf die Fußspitzen, legte ihm eine Hand um die Schulter und küßte Sir Lambert auf die Wange. «Und ich wünschte so sehr, daß Sie mein Vater gewesen wären, Sir», sagte sie. «Ich hätte Sie viel mehr lieb gehabt, als ich je meinen eigenen hatte, denn Sie sind so viel gütiger! Danke, ich nehme es wirklich, und werde an Sie denken, wann immer ich es trage, das verspreche ich Ihnen!»

Er umarmte sie ebenfalls, indem er den Arm um sie legte und sie an sich drückte. «Braves Mädelchen!» sagte er. Dann stupste er Edward mit dem Knauf seines Spazierstocks in die Seite und sagte, indem er freilich leicht aus seiner väterlichen Rolle fiel: «Na, Sie junger Hund, jetzt dürfen Sie sie haben, aber wenn ich auch nur um zehn Jahre jünger wäre, verdammich, wenn ich Sie nicht ausstechen würde!»

Nachdem er noch eine seiner routinierten Verbeugungen ausgeführt und den schicken Hut wieder aufgesetzt hatte, schlenderte er die Straße hinunter davon und hielt ein aufmerksames Auge nach jedem ansehnlichen Frauenzimmer offen, das ihm etwa in den Gesichtskreis kommen konnte.

«Weißt du, er mag ja ein alter Taugenichts sein, aber er ist doch der liebste Mensch!» sagte Venetia und vergaß ganz, daß Edwards Stimmung kaum mit der ihren übereinstimmte.

«Ich kann nur annehmen, daß du verrückt geworden bist!» sagte er.

Sie hatte mit einem leisen Lächeln erheiterter Anerkennung Sir Lamberts Wandel die Straße hinunter verfolgt, daraufhin aber wandte sie den Kopf und sagte beträchtlich scharf: «Ich habe angenommen, daß bestimmt du verrückt geworden bist! Was kann dich nur überkommen haben, daß du dich derart ungezogen benommen hast? Ich war noch nie in einer derartigen Verlegenheit!»

«Ach, du warst noch nie in einer derartigen Verlegenheit?!» sagte er. «Ich verstehe nicht, Venetia, wie du hier stehen kannst und so reden!»

«Ich habe nicht vor, überhaupt hier zu stehen und so zu reden», unterbrach sie ihn, stieg vom Gehsteig und folgte dem Knirps, der eifrig den Übergang über die Straße für sie freimachte. «Hör auf, wie ein schmollender Bär dreinzuschauen, und gib dem Jungen lieber einen Penny!»

Er holte sie ein, als sie die gegenüberliegende Seite der Oxford Street erreicht hatte. «Wie kommt es, daß du in der Gesellschaft dieses alten Pikbuben warst?» fragte er rüde.

«Erinnere dich, bitte, daran, daß du von meinem Stiefvater sprichst!» antwortete sie kalt. «Ich habe meine Mutter besucht, und er war so liebenswürdig, mich heimzugeleiten.»

«Deine Mutter besucht?!» wiederholte er, als könne er seinen Ohren nicht trauen.

«Gewiß. Hast du vielleicht etwas dagegen, bitte?»

Er antwortete mit entschlossen beherrschter Stimme: «Ich habe alles dagegen einzuwenden, und du wirst sofort erfahren, was alles. Ich ziehe es vor, mit dir keinen Wortwechsel in der Öffentlichkeit zu führen. Wir werden schweigen, bitte ich!»

Sie gab ihm keine Antwort, sondern ging mit unbekümmertem Gesicht weiter. Er blieb mit gerunzelter Stirn und grimmig verbissenen Lippen im Schritt mit ihr. Sie machte keinen Versuch, mit ihm zu sprechen, bis sie auf den Stufen zum Haus ihres Onkels standen und sie, ihn nachdenklich betrachtend, sagte: «Du darfst mit hereinkommen, falls du es wünschst, aber zeige dem Türhüter nicht dieses Gesicht, wenn ich bitten darf. Du hast schon genug Leuten dein Mißfallen zu sehen gegeben.»

Während sie noch sprach, ging die Tür auf, und sie trat ein. Es war der zweite Butler, der sie eingelassen hatte, und sie blieb stehen, um ihn zu fragen, ob seine Herrin daheim sei. Als sie erfuhr, daß Mrs. Hendred, die eine gestörte Nacht hinter sich hatte, ihr Schlafzimmer noch nicht verlassen habe, nahm sie Edward in den Salon mit und sagte, während sie die Handschuhe abstreifte: «Jetzt sage mir, was du sagen willst, aber versuche, dich zu erinnern, Edward, daß ich meine eigene Herrin bin! Du scheinst zu glauben, daß du eine Autorität über mich besitzt. Die aber hast du nicht, und das habe ich dir auch immer wieder gesagt.»

Er stand da, schaute sie düster an und sagte schließlich: «Ich habe mich in deinem Charakter geirrt. Ich habe es zugelassen, mich in dem Glauben zu wiegen, daß die Leichtfertigkeit, über die zu Magen ich häufig Ursache hatte, einer angeborenen Lebhaftigkeit entsprang und nicht einer mangelhaften Veranlagung. Mir sind die Augen weiß Gott geöffnet worden!»

«Ich freue mich außerordentlich, das zu hören, denn es war wirklich an der Zeit. Beschuldige mich jedoch nicht, daß ich dich getäuscht hätte. Du hast dich selber getäuscht, denn du hast mir nie glauben wollen, daß ich die Dinge, die ich sage, auch wirklich meine. Die Wahrheit ist, Edward, daß wir himmelweit voneinander verschieden sind. Ich achte dich sehr ...»

«Ich wollte, ich könnte dasselbe von dir sagen!»

«Das war aber jetzt sehr ungezogen! Komm, schütteln wir einander die Hände und sagen wir nichts weiter, außer, daß wir einander alles Gute wünschen!»

Er rührte sich nicht, um die Hand, die ihm hingestreckt wurde, zu ergreifen, sondern sagte düster: «Meine Mutter hat recht gehabt!»

Ihr stets bereiter Sinn für das Lächerliche gewann die Oberhand über ihren Ärger. Ihre Augen begannen zu tanzen. Sie sagte herzlich: «Und ob!»

«Sie bat mich, nicht zuzulassen, daß ich mein Urteil von meiner Verblendung hinreißen lasse. Wenn ich doch nur auf sie gehört hätte! Es wäre mir dann die Demütigung erspart geblieben, zu entdecken, daß die Frau, die ich zu meiner Gattin machen wollte, weder Herz noch Takt besitzt.»

«Nun, dasselbe hätte ich auch gewünscht, aber, weißt du, Ende gut, alles gut! In Zukunft wirst du tun, was dir deine Mutter sagt, und ich bin überzeugt, sie wird genau die richtige Frau für dich finden, die dir das Leben behaglich macht. Ich hoffe aufrichtig, daß sie das tut.»

«Ich hätte wissen müssen, was ich zu erwarten hatte, als du trotz meiner Vorhaltungen schon keine Gewissensbisse hattest, die Priory täglich zu besuchen. Du scheinst eine Vorliebe für Wüstlinge zu haben!»

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht und verwandelte es. «Das ist sehr wahr, Edward – die habe ich wirklich! Jetzt aber, glaube ich, ist es besser, du gehst. Du hast mir eine wunderschöne Szene gemacht, und es ist Zeit, daß ich hinaufgehe und schaue, wie es meiner Tante geht.»

«Ich werde London morgen früh mit der ersten Postkutsche verlassen!» verkündete er, und mit diesem Ausspruch zum Abschied stelzte er aus dem Zimmer.

Kaum war sein Schritt auf der Treppe verklungen, als sich die Tür öffnete, um diesmal Mrs. Hendred einzulassen, die sehr erschreckt dreinschaute und sofort ausrief: «Mein Liebes, was ist denn geschehen, das Mr. Yardley in einer derartigen Erregung verjagt hat? Ich bin gerade die Treppe heruntergekommen, als er mit einem Gesicht aus diesem Zimmer stürzte, daß ich ganz erschrocken war! Ich habe ihn, wie du dir denken kannst, angesprochen und gefragt, ob irgend etwas nicht stimme, aber er wollte gar nicht erst stehenbleiben – sagte nur, du würdest es mir erzählen, und fort war er, bevor ich noch Atem holen konnte! Oh, Venetia, erzähl mir nur ja nicht, daß ihr gestritten habt!»

«Nun, ich erzähle es Ihnen nicht, wenn es Ihnen lieber ist, liebe Tante, aber es stimmt trotzdem!» antwortete Venetia lachend. «O Himmel, wie gräßlich lächerlich er sich doch gemacht hat! Ich könnte ihm deshalb fast verzeihen. Ich fürchte, Sie werden genauso entsetzt sein, wie er es war, Ma'am: ich habe Mama einen Besuch abgestattet, und Edward hat mich auf dem Heimweg in der New Bond Street getroffen, am Arm Sir Lamberts!»

Sie mußte diese Beichte wiederholen, bevor Mrs. Hendred sie überhaupt fassen konnte, und dann die arme Dame zu ihrem Lieblingsstuhl führen. Diese zweite Katastrophe, die dem Schock des Vorabends folgte, erwies sich als zuviel für Mrs. Hendreds zerrüttete Nerven: sie brach in Tränen aus, und in ihrem kläglichen Schluchzen erleichterte sie sich zwischendurch mit einem unzusammenhängenden Monolog, der zugleich eine Jeremiade und eine Strafpredigt war. Venetia machte keinen Versuch, sich gegen die diversen Anklagen zu verteidigen, die auf sie abgefeuert wurden, sondern widmete sich der Aufgabe, ihre bekümmerte Verwandte mit liebevoller Behandlung halbwegs zu beruhigen. Erschöpft vor Aufregung lehnte sich Mrs. Hendred schließlich mit geschlossenen Augen in ihren Stuhl zurück und wies ihre undankbare Nichte nur leise stöhnend und schwach zurück. Venetia schaute sie zweifelnd an, entschied sich, keinerlei weitere Ankündigungen zu machen, und ging hinaus, um Miss Bradpole zu rufen. Sie vertraute Mrs. Hendred deren sachverständige Fürsorge an, verlief? das Haus wieder und ging zum Droschkenstand. «Zur Lombard Street, bitte!» sagte sie zum Kutscher. «Hauptpostamt.»

Der Nachmittag war schon beträchtlich vorgeschritten, als sie wieder zum Cavendish Square zurückkehrte. Sie erfuhr von Miss Bradpole, daß sich Mrs. Hendred ins Bett zurückgezogen, aber alle Angebote, den Arzt zu rufen, abgelehnt hatte. Man hatte sie überredet, in einem leichten Mittagessen herumzustochern – gerade nur eine Tasse Brühe, ein Stückchen Huhn und etwas Fruchtlikörcreme –, und sie schien sich nun um eine Spur wohler zu fühlen und dem Schlaf geneigt zu sein. Venetia, die eine entsprechende Besorgnis an den Tag legte, gönnte Miss Bradpole eine zungenfertige Erklärung des Kollaps ihrer Tante und ging in ihr eigenes Zimmer.

Erst viel später wagte sie sanft an Mrs. Hendreds Tür zu klopfen. Eine versagende Stimme hieß sie eintreten. Sie fand ihre Tante gegen einen Berg Kissen gelehnt, mit einem sehr hübschen, unter dem Kinn gebundenen Nachthäubchen vor, das Taschentuch in der einen Hand, das Riechfläschchen in der anderen, und auf einem Tisch neben dem Bett eine Batterie von Beruhigungs- und Stärkungsmitteln. Als sie Venetias Stimme hörte, richtete sie vorwurfsvolle Augen auf die Tür und gab einen herzzerreißenden Seufzer von sich. Dann erkannte sie, daß Venetia unter einem warmen Umhang ein Reisekleid trug. Ihr Verhalten änderte sich abrupt. Sie setzte sich mit einem Ruck auf und verlangte in Tönen, die weit entfernt von denen einer Sterbenden waren, zu wissen: «Warum bist du so angezogen? Wohin gehst du?»

Venetia trat an das Bett, beugte sich über die Tante und küßte liebevoll ihre Wange: «Liebste Tante, ich fahre heim!»

«Nein, nein!» rief Mrs. Hendred und packte ihren Ärmel. «O Himmel, ich werde noch vollkommen verrückt! So habe ich es doch nicht gemeint! Der Himmel weiß, was da zu tun ist, aber deinem Onkel wird bestimmt etwas einfallen, verlaß dich darauf! Venetia, wenn ich etwas gesagt habe ...»

«Aber natürlich haben Sie nichts gesagt, Ma'am!» sagte Venetia, lächelte sie an und tätschelte liebkosend ihre Schulter. «Aber Sie können ja doch nicht hoffen, meinen Ruf wiederherzustellen, und ich möchte so viel lieber, daß Sie es erst gar nicht versuchen. Sie waren schon viel zu gütig zu mir, und ich bin ein elendes Ding, weil ich Ihnen soviel Unbehagen verursachte. Aber, sehen Sie, es geht um mein ganzes Leben, um das ich kämpfe, und ich bin gar nicht sicher, ob es selbst jetzt nicht schon zu spät ist! Ich bitte Sie sehr, versuchen Sie, mir zu verzeihen, meine liebe Tante, und – und mich ein bißchen zu verstehen!»

«Venezia, so bedenke doch bloß!» flehte Mrs. Hendred. «Guter Gott, du kannst dich doch unmöglich diesem Mann an den Hals werfen! Was würde er bloß von dir denken?»

«Das habe ich bedacht. Es erscheint wirklich ganz schrecklich, nicht? Ich hoffe, mein Mut hält durch. Aber ja, ich glaube, das wird er, weil es nichts gibt, was ich ihm nicht sagen könnte oder er nicht verstehen würde. Seien Sie nicht verzweifelt. Ich wünschte, ich hätte Sie nicht wieder aufregen müssen, aber ich konnte nicht wegfahren, ohne Ihnen Lebewohl zu sagen und Ihnen zu danken, daß Sie so überaus gütig zu mir waren. Ich habe Bradpole und Worting gesagt, daß mir Edward schlechte Nachrichten über Aubrey brachte und mich mit der Post bis York begleiten wird, so müssen Sie sich nicht darüber aufregen, was die Dienerschaft denken wird. Und ich habe meinen Koffer gepackt und Betty gebeten, ihn zuzuschnüren und ihn mit der Paketpost zu schicken – sobald ich schreibe, um Ihnen meine Anschrift mitzuteilen, denn ich kann ja nicht mehr als eine Reisetasche in der Postkutsche mitnehmen, wie Sie wissen.»

«Hör zu, Venetia – warte doch bloß, bis wir deinen Onkel um Rat fragen können!» sagte Mrs. Hendred fieberhaft. «Er wird morgen zum Frühstück daheim sein – oder er kann vielleicht sogar schon heute abend kommen! Schau, bitte, bitte ...»

«Nicht um alles in der Welt!» sagte Venetia, und Gelächter zitterte in ihrer Stimme. «Ich bin meinem Onkel sehr dankbar, aber der bloße Gedanke, daß ihm wieder etwas anderes einfallen könnte, um mich vor meinem liebsten Wüstling zu retten, versetzt mich in Angst und Schrecken!»

«Warte, liebes Kind! Ich habe einen sehr guten Einfall. Wenn du entdeckst, daß sich deine Zuneigung nicht geändert hat, bis du Zeit gehabt hast, mehr von der Welt zu sehen – nein, nein, so hör doch nur! – will ich nicht ein Wort gegen diese gräßliche Heirat sagen! Aber Lord Damerel würde dir ja selbst sagen, daß es noch viel zu früh ist, daß du dich bindest! Dein Onkel soll sich etwas ausdenken, was alles gutmacht, das heute geschehen ist, und ich werde Theresas Debüt auf den Frühling verlegen und statt dessen dich in die Gesellschaft einführen!»

«Oh, die arme Theresa!» rief Venetia aus und lachte laut auf. «Wo sie doch schon die Tage bis dahin zählt!»

«Sie kann gut noch ein Jahr warten», sagte Mrs. Hendred resolut. «Ja, ich neige sehr zu der Ansicht, daß sie es sogar sollte, denn ich habe unlängst abends einen Fleck auf ihrem Gesicht bemerkt, und weißt du, meine Liebe, wenn sie in diese ärgerliche Art verfällt, die junge Mädchen an sich haben, immer dann Pusteln zu kriegen, wenn man besonders wünscht, daß sie am besten aussehen, dann wäre es einfach nutzlos, sie schon nächstes Jahr herauszubringen! Nun, was sagst du dazu?»

«Gräßlich!» antwortete Venetia und rieb ihre Wange leicht an der ihrer Tante, bevor sie sich aus dem Griff an ihrem Ärmel losmachte und zur Tür ging. «Lange bevor die Saison zu Ende ist – wenn nicht sogar bevor sie anfängt –, wäre Damerel weiß der Himmel wo und würde Rosenblätter für irgendein loses Frauenzim mer herumstreuen, damit sie drauftreten kann! Nun, zu einem jedenfalls bin ich entschlossen! Wenn er schon solchen verschwenderischen Gewohnheiten frönen muß, dann soll er seine Rosenblätter für mich herumstreuen, und nicht für eine seiner lächerlichen Kurtisanen!» Sie warf ihrer Tante eine Kußhand zu und war im nächsten Augenblick fort.