12
Als Venetia am nächsten Morgen aufwachte, war sie sich einer Bedrückung bewußt, die nicht leichter wurde, als sie gleich darauf entdeckte, daß ihre einzige Gesellschafterin am Frühstückstisch Mrs. Scorrier war, da Charlotte noch im Bett lag und Aubrey Ribble aufgetragen hatte, ihm Kaffee und Butterbrot in die Bibliothek zu bringen. Mrs. Scorrier begrüßte sie entschlossen liebenswürdig, ließ aber in Venetia eine ungewohnte Wut aufwallen, als sie sie aufforderte, ihr doch zu sagen, ob sie gern Sahne in ihrem Kaffee hätte. Einen Augenblick traute sie sich keine Antwort zu, aber nachdem sie sich sagte, ihr Zorn sei übertrieben, gelang es ihr, ihn zu unterdrücken, und sie antwortete, Mrs. Scorrier möge sich doch nicht die Mühe machen, sie zu bedienen. Mrs. Scorrier, von der plötzlichen Flamme in jenen für gewöhnlich lächelnden Augen eingeschüchtert, drängte nicht weiter in sie, sondern Ließ ein überströmendes Loblied vom Stapel, sowohl über das Bett, in dem sie geschlafen hatte, wie über die Aussicht von ihrem Fenster und das Fehlen jeden Straßenlärms. Venetia ging sehr höflich darauf ein, aber als Mrs. Scorrier ihr Erstaunen ausdrückte, daß Venetia Aubrey erlaubte, sein Frühstück einzunehmen, wann und wo es ihm gerade gefiel, war der Ton, in dem sie antwortete: «Nein, wirklich Ma'am?» äußerst entmutigend.
«Vielleicht bin ich altmodisch», sagte Mrs. Scorrier, «aber ich bin für strengste Pünktlichkeit. Ich kann jedoch gut verstehen, daß der arme Junge ein schwieriger Schützling für Sie sein mußte. Sobald Sir Conway heimkommt, wird er sicher wissen, wie er mit ihm fertig wird.»
Darüber mußte Venetia lachen. «Meine liebe Mrs. Scorrier, Sie sprechen, als sei Aubrey noch ein Kind! Er wird bald siebzehn, und da er jahrelang mit sich selbst fertig wurde, wäre es ganz vergeblich, sich jetzt noch in seine Lebensweise einzumischen. Und um Conway Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, er würde das auch gar nicht versuchen.»
«Was das betrifft, Miss Lanyon, wage ich zu sagen, daß ich sehr erstaunt wäre, wenn Sir Conway es Aubrey erlaubte, Auftrag zu geben, daß ihm die Mahlzeiten auf dem Tablett serviert werden, ohne auch nur um die Erlaubnis dazu zu bitten, jetzt, da Undershaw eine Herrin hat, denn das ist durchaus nicht das Wahre. Ich bin überzeugt, Sie verzeihen, wenn ich so offen spreche!»
«Gewiß, Ma'am, denn das erlaubt mir, selbst ein bißchen offen zu reden!» antwortete Venetia prompt. «Ich bitte Sie, geben Sie jede Hoffnung auf, die Sie vielleicht hegen, Aubrey umzuerziehen, denn weder Sie noch Ihre Tochter haben das geringste Recht, sich in seine Angelegenheiten zu mischen! Die gehen nur ihn etwas an, und in gewissem Grad mich.»
«Nein, wirklich? Ich scheine demnach seltsam schlecht informiert zu sein, denn ich hielt ihn für das Mündel Sir Conways!»
«Nein, Sie wurden nicht falsch informiert, aber Conway ist der erste, der Ihnen sagen würde, Aubrey sei mir zu überlassen. Es ist nur recht und billig, wenn ich Sie warne, Ma'am, daß Conway Aubrey zwar wegen seines Gebrechens tief bemitleidet, aber eine geradezu alberne Ehrfurcht vor seiner geistigen Überlegenheit hegt. Ferner hat Conway zwar viele Fehler, aber er ist nicht nur äußerst gutmütig, sondern besitzt außerdem eine Ritterlichkeit, die es ihm unmöglich machen würde, unduldsam zu sein – vielleicht närrischerweise! –, selbst wenn Aubrey noch zehnmal so schikanös wäre, als er es schon ist! Das ist alles, was ich Ihnen dazu zu sagen habe, Ma'am, und ich hoffe, Sie verzeihen, wenn ich so offen gesprochen habe, ebenso wie ich es Ihnen verzeihe. Bitte, entschuldigen Sie, wenn ich Sie jetzt verlasse. Ich habe heute morgen ziemlich viel zu tun. Ich habe Mrs. Gurnard den Auftrag gegeben, sich zu Charlottes Verfügung zu halten – wollen Sie so freundlich sein und Charlotte sagen, sie brauche nur Post in das Zimmer der Haushälterin zu schicken, sobald sie bereit ist?»
Sie verließ das Wohnzimmer, bevor noch Mrs. Scorrier Zeit zu einer Antwort hatte, aber obwohl sie wußte, daß Powick schon im Verwalterzimmer auf sie wartete, ließ sie etwa zwanzig Minuten verstreichen, bevor sie zu ihm hinüberging. Sie war entsetzt, als sie entdeckte, wie sehr sie von ihrem Zorn erschüttert war – bevor sie dem Verwalter vor Augen trat, ohne ihm ihre Erregung zu zeigen, brauchte sie eine Zeitspanne ruhiger Überlegung. Dies half ihr zwar, ihre Selbstbeherrschung zurückzugewinnen, jedoch keineswegs, die unmittelbare Zukunft ohne trübe Vorahnungen zu sehen. Sie schalt sich, daß sie Mrs. Scorrier erlaubt hatte, sie zu einem Verweis zu reizen, hatte jedoch das Gefühl, daß sie früher oder später doch gezwungen sein würde, sich gegen eine Frau zu stellen, deren Herrschsucht, falls ihr nicht Einhalt geboten würde, den ganzen Haushalt in Aufruhr bringen mußte. Sie hegte keine Hoffnung, daß Mrs. Scorrier ihr nicht grollen würde – sie hatte unerbittliche Feindschaft in den Augen dieser Dame gelesen und wußte, daß sie von nun an keine Gelegenheit versäumen würde, Venetia zu verletzen und zu ärgern.
Es war Mittag vorbei, als Venetia Powick verließ. Ein Vormittag in der Gesellschaft dieses eigensinnigen, phlegmatischen Yorkshire-Mannes trug mehr dazu bei, ihr Gleichgewicht wiederherzustellen, als es noch so ruhige Überlegungen vermocht hätten, und die Beschäftigung mit Buchhaltung übte auf sie die gleiche beruhigende Wirkung aus, wie es das Studium Platons auf Aubrey tat.
Von Charlotte und ihrer Mutter war im Hauptflügel des Hauses nichts zu sehen, aber Ribble, der gerade in die Halle kam, als Venetia in den Garten hinausgehen wollte, teilte ihr mit, daß die beiden Damen unter Führung von Mrs. Gurnard den Küchenflügel inspizierten. Er übergab Venetia ein versiegeltes Billett, das der Stalljunge, der in der Früh nach Ebbersley geschickt worden war, mitgebracht hatte, und wartete, bis Venetia den Brief gelesen hatte. Er war kurz, nur ein Dank für ihren Brief, aber liebevoll geschrieben. Lady Denny wollte den Boten nicht warten lassen, sondern bat Venetia nur, sobald es ihr möglich sei, nach Ebbersley zu kommen. In einer Nachschrift fügte sie hinzu, sie sei sehr beschäftigt, weil sie für Oswald packte, der am nächsten Tag zu einem Besuch ins Rutlandshire abreisen würde.
Venetia schaute auf und blickte in Ribbles Augen, die ängstlich auf ihr Gesicht geheftet waren. Einen Augenblick lang schwieg sie, sagte dann aber traurig: «Ich weiß, Ribble, ich weiß! Wir sitzen in der Tinte – aber wir werden das schon irgendwie hinkriegen!»
«Ich hoffe, Miss», sagte er mit einem riefen Seufzer.
Sie lächelte ihn an. «Sind Sie bei ihr in Ungnade gefallen? Ich versichere Ihnen, ich auch!»
«Ja, Miss – wie ich es bereits Mrs. Gurnard mitzuteilen wagte. Wenn sie gehört hätte, was ich gehört habe, wüßte sie freilich, wo der Hieb wirklich gesessen hat. Wenn ich es sagen darf – ich habe mich sehr energisch zusammennehmen müssen, gestern abend, um nicht überzukochen! Oh, Miss Venetia, was ist doch nur über Sir Conway gekommen? Undershaw wird nie wieder das alte sein!»
«Doch, Ribble, das wird es wieder – bestimmt!» sagte sie. «Warten Sie nur, bis Conway heimkommt! Ihnen gegenüber brauche ich keine Bedenken zu haben, wenn ich gestehe, daß wir in einer Patsche sitzen und Mrs. Scorrier ein abscheuliches Frauenzimmer ist. Aber ich glaube – oh, ich bin sogar überzeugt –, daß ihr Lady Lanyon sehr bald so gern haben werdet wie – wie mich!»
«Nein, Miss, das ist unmöglich. Es wird sich in Undershaw alles sehr verändern, und ich stelle mir vor, Ihre Gnaden wird wünschen, Veränderungen vorzunehmen. Sicherlich zu verstehen – aber ich bin nicht mehr so jung, wie ich war, und ich leugne das auch gar nicht, und wenn Ihre Gnaden das Gefühl hat, daß ...»
Sie unterbrach ihn schnell: «Hat sie nicht! Ja, ich weiß genau, was Sie mir eben sagen wollen, und Sie sind ein ganz großer Dummkopf! Wie können Sie sich bloß einbilden, daß mein Bruder je einen anderen Butler haben möchte als unseren lieben, guten Ribble!»
«Danke, Miss – Sie sind sehr lieb!» sagte er mit etwas zitternder Stimme. «Aber wir haben gehofft – Mrs. Gurnard und ich –, falls Sie vorhaben, Ihren eigenen Haushalt einzurichten, mit Master Aubrey zusammen, wie Sie immer gesagt haben, dann möchten Sie vielleicht, daß wir mit Ihnen gehen, was wir sehr gerne täten.»
Sie war sehr gerührt, sagte aber aufmunternd: «O nein, nein! Wie könnten sie denn dann in Undershaw ohne euch auskommen? Wie könnte ich so entsetzlich schlecht sein, euch meinem Bruder zu stehlen? Ich denke nicht daran! Und wie glücklich ich auch in einem solchen Fall darüber wäre, euch bei mir zu haben – ihr würdet euch fern von Undershaw elend fühlen. Das weiß ich, und ihr wißt es auch.»
«Ja, Miss, und ich habe ja auch nie daran gedacht, Undershaw zu verlassen, auch Mrs. Gurnard nicht, aber wir haben nicht das Gefühl, daß wir bleiben könnten, nicht, wenn Mrs. Scorrier hierbleibt. Und ebenso haben wir nicht das Gefühl, daß – nun, Miss, um offen zu sein, wenn Sie mir die Freiheit verzeihen –, jeder kann doch sehen, woher der Wind weht, und wir möchten nicht gern plötzlich hinausgeschmissen werden. Das aber kann durchaus passieren, noch bevor Sir Conway seine Visage zeigt, wie er immer sagt. Ich bin zu alt zum Umlernen, und wenn es so weit kommt, daß man mir sagt, ich dürfe keine Befehle von Master Aubrey entgegennehmen, ohne daß Ihre Gnaden zustimmt – na, Miss, eines Tages werde ich wirklich einfach nicht imstande sein, meine Zunge im Zaum zu halten, und ich weiß sehr gut, das ist genau das, worauf Mrs. Scorrier hofft, damit sie Ihre Gnaden bearbeiten kann, daß sie mich fortjagt!»
«Das soll sie probieren!» sagte Venetia mit flammenden Augen. «Ich kann Ihnen versichern, da holt sie sich kalte Füße dabei! Ich glaube nicht, daß man Lady Lanyon zu so etwas bewegen könnte, und falls es ihr doch gelänge, müßte ich ihr denn doch sagen, daß es nicht in ihrer Macht steht, Sie zu entlassen. Bis zu Sir Conways Heimkehr bin weiterhin ich die Herrin hier – und wenn er kommt, gebe ich Mrs. Scorrier eine Woche, bevor er sie fortjagt! Nur Geduld, Ribble!»
Er sah allmählich etwas heiterer drein, und als Venetia ihm – sehr unschicklicherweise – anvertraute, daß Conway Mrs. Scorrier schon von Cambray verscheucht hatte, faßte er frischen Mut und kicherte vor sich hin, als er sie verließ. Diesen Leckerbissen würde er bestimmt Mrs. Gurnard und möglicherweise sogar Nurse weitergeben. Da es aber unwahrscheinlich war, daß die Vorgesetzten einen von der jüngeren Dienerschaft für würdig befinden würden, ihn in ihr Vertrauen zu ziehen, bedrückte Venetia keinerlei Schuldbewußtsein.
Sie ging in den Garten und war eben dabei, die verwelkten Blüten einiger Spätblüher abzuschneiden, als sie ihre Schwägerin aus dem Haus treten sah; Charlotte blieb zögernd stehen und blickte schüchtern uni sich, als fürchtete sie, daß plötzlich irgendein Menschenfresser über sie herfallen würde. Venetia winkte ihr zu, und als Charlotte auf sie zukam, schlenderte sie ihr entgegen. Die junge Frau war in einen Schal gehüllt und sah blaß und ziemlich mitgenommen aus. Sie sagte mit ihrem nervösen Lächeln: «Oh, guten Morgen, Miss Lanyon – Venetia, meine ich! Ich dachte, ich könnte eine Runde durch den Garten machen, oder – oder vielleicht gerade nur ein bißchen in der Sonne sitzen. Ich habe etwas Kopfweh, und es war so heiß in der Küche, und ich kann nicht kochen und weiß – und weiß auch keine Rezepte, daher schlüpfte ich hinaus. Mama – Mama sagte Ihrer – deiner Köchin gerade, wie man Kalbfleisch auf französische Art zu einem Ragout macht.»
«Wie gescheit von dir, daß du dich gedrückt hast!» sagte Venetia lachend. «Ich kann mir das Schauspiel gut vorstellen und hoffe nur, daß die Fleischaxt nicht griffbereit liegt!»
«Mama meint, sie sei eine sehr gute Köchin!» sagte Charlotte schnell. «Sie machte ihr Komplimente über ihre Kuchen und ...»
«Meine Liebe, ich habe doch nur Spaß gemacht! Hat man dich bis zur Erschöpfung durch das ganze Haus geschleppt?»
«O nein!» antwortete Charlotte und sank ziemlich schlapp auf eine Gartenbank. «Das heißt – es ist so sehr groß und weitläufig, und ich verstehe so gar nichts davon, wie man ein Haus führt! Ich bin überzeugt, Mrs. Gurnard verachtet mich schrecklich – obwohl sie sehr höflich war! O Miss – o Venetia, ich weiß, es ist dumm, sich vor einer Mamsell zu fürchten, aber ich weiß nicht, was ich zu ihr sagen soll, weil ich ihr keine Fragen stellen kann wie Mama! Ich wollte, Mama hätte mir diese Sachen beigebracht!»
«Wirklich? Dann kann ich dir genau sagen, was du tun sollst!» sagte Venetia aufmunternd. «Und außerdem würde Mrs. Gurnard nichts mehr freuen, als daß du eines Tages, wenn du eine freie Stunde hast, in Mrs. Gurnards Zimmer gehst und ihr genau das sagst, was du jetzt mir gesagt hast. Sie weiß natürlich, daß du noch nie ein Haus geführt hast, und wird dich um so lieber haben, wenn du das zugibst. Bitte sie darum, daß sie es dich lehrt. Du wirst daraufkommen, daß du bald mit ihr auf dem angenehmsten Fuß stehen wirst.»
«Glaubst du?» sagte Charlotte ziemlich zweifelnd. «Ich möchte es ja so gern lernen, aber vielleicht würde Mama nicht wünschen, daß ich Mrs. Gurnard bitte ...»
«Vielleicht nicht», stimmte ihr Venetia trocken zu. «Aber Conway würde es von dir wünschen!»
Sie ließ das zuerst einmal einsickern. Charlotte saß da, erwog es und seufzte gleich darauf. «Oh, wenn nur Conway da wäre!» Sie wandte sich ab und sagte nach einer Weile mit zitternder Stimme: «Weißt du, ich habe nicht geglaubt, daß ich ohne ihn herkommen müßte! Ich will damit nicht sagen – natürlich bin ich gern in Undershaw – und du bist so sehr ...» Tränen erstickten alles weitere.
«Ich weiß genau, was du sagen willst», sagte Venetia und tätschelte ihre Hand. «Es war einfach infam von Conway, dich auf diese Art heimzuschicken! Aber, Charlotte, wir sind wirklich alle sehr glücklich, daß du hier bist, und wir werden versuchen, dich ebenso glücklich zu machen. Und Conway wird ja bald wieder bei dir sein, nicht?»
«O ja! Du bist so sehr gütig zu mir! Ich wollte wirklich nicht klagen!» sagte Charlotte und trocknete sich hastig die Augen. «Verzeih, bitte! Es war nur, weil ich mich nicht sehr wohl fühlte, und dann, weil ich mit Mama und Mrs. Gurnard gehen mußte –. Aber das ist alles Unsinn! Nurse sagte – o Venetia, Nurse ist doch sehr lieb, nicht?»
«Ah, da hast du also schon Nurse kennengelernt, ja? Das freut mich ja so – und daß du sie magst!»
«ja, wirklich, sie hat es mir so gemütlich gemacht! Sie hat mir einen heißen Ziegel ins Bett gesteckt, als ich gestern abend hinaufkam, und half mir beim Ausziehen, und ich mußte einen Milchgrog trinken, und sie erzählte mir von Conway, als er noch ein kleiner Junge war! Und sie war es auch, die mir mein Frühstückstablett hinaufbrachte.»
Froh, daß Charlottes Gedanken eine erfreulichere Richtung einschlugen, ermutigte sie Venetia, weiterzureden, und wurde darin gleich darauf von Nurse persönlich unterstützt, die auftauchte und Charlotte eine Tasse heißer Milch brachte. Es wurde Venetia sofort klar, daß Nurse beschlossen hatte, Charlotte in die Reihe ihrer Schützlinge aufzunehmen, denn sie begann zu schelten, fast bevor sie noch in Hörweite war, und wollte wissen, was denn das eigentlich heißen solle, Ihre Gnaden hätten kein Mittagessen haben wollen, wie sie gehört habe? Auf Charlottes schwache Ausrede, sie sei nicht hungrig, antwortete sie streng: «Völlig gleichgültig, ob Sie hungrig sind, Mylady! Sie haben jetzt zwei zu füttern, und werden schön das tun, was Nurse sagt, und Schluß mit dem Unsinn! Jetzt trinken Sie schön artig diese gute Milch!» Als sie Charlotte die Tasse reichte, schaute sie sie scharf an und sagte: «Wer hat Sie aus der Fassung gebracht, Mylady? Miss Venetia bestimmt nicht, das weiß ich!»
«O nein, nein! Ich war nur dumm – es ist nichts!»
«Conway geht ihr ab», erklärte Venetia.
«Und ob, aber Weinen bringt ihn auch nicht früher heim», sagte Nurse munter. «So, jetzt, Mylady, schön Ihre Milch austrinken, und gleich werden Sie sich wohler fühlen! Was Sie gern tun möchten, ist nämlich, mit Miss Venetia einen Spaziergang im Park machen, statt hier Trübsal zu blasen. Bevor Sie noch wissen, wie Ihnen geschieht, werden Sie Ihre Mama hier haben, und für einen Tag sind Sie schon genug gequält worden. Sie nehmen Sie mit, Miss Venetia, aber nicht zu weit, wohlgemerkt!»
«Tue ich, und gern außerdem», sagte Venetia und stand auf. «Würde es dir Spaß machen, Charlotte?»
«Ja, bitte – nur, wird es nicht zu feucht sein? Mama sagte ...»
«Also was habe ich Ihnen gesagt, Mylady?» sagte Nurse. «Daß Sie sich absolut nicht verzärteln sollen. Davon halte ich gar nichts, und habe nie was davon gehalten, und das werde ich auch Ihrer Mama sagen.»
«O Nurse, bitte ...!» hauchte Charlotte flehentlich.
«Zerbrechen Sie sich darüber nicht Ihr hübsches Köpfchen!» riet ihr Nurse mit einem grimmigen kleinen Lachen. «Los, jetzt gehen Sie mit Miss Venetia, und Schluß mit dem Unsinn!»
«Ich will die Hunde holen – sie brauchen Auslauf», sagte Venetia, ohne zu merken, daß sie Charlotte einen Schrecken einjagte.
«Das können Sie nicht, Miss, weil sie nämlich Master Aubrey mitgenommen hat», sagte Nurse zu Charlottes großer Erleichterung. «Ja, Sie können gut Augen machen! Weggeritten ist er, und nicht ein bißchen hat er auf mich gehört, außer daß er sagte, wenn er nicht versucht, ob es ihm weh tut, kommt er nie drauf. Das nächste wird sein, daß wir ihn traurigerweise wieder im Bett haben, denn <jener, der ein trutzig Herz hat, findet keine Güte>, Miss Venetia, wie ich ihm immer wieder gesagt habe!»
«Wenn Nurse in die biblische Tour gerät, ist das ein Zeichen, daß sie sehr bewegt ist!» sagte Venetia, als sie mit Charlotte den Rasen überquerte. «Aubrey hatte vor ein paar Wochen einen Unfall, und wir fürchten, daß sein schwaches Bein noch nicht zum Reiten taugt. Aber ich hoffe, daß er nicht darauf besteht, wenn er merkt, daß es ihm weh tut, und auf jeden Fall nützt es nichts, wenn man versucht, ihn zu verhätscheln – weißt du, er hat es nicht gern, wenn man sein Lahmsein erwähnt.»
Sie führte Charlotte in den Park und plauderte über Banalitäten, wie sie, so hoffte sie, dem Mädchen die Schüchternheit nehmen konnten. Charlotte hatte sie schon gefragt, ob sie sehr «auf Bücher versessen» sei, und Venetia hatte schon erfaßt, daß diese Redewendung für Charlotte alles höchst Bestürzende bedeutete. Als Venetia eine Anekdote aus ihrer Kindheit erzählte, mußte sie unwillkürlich denken, nach dieser Plauderei würde Charlotte wohl wenig Grund haben, sie für sehr klug zu halten.
Charlotte schien den Spaziergang zu genießen, aber da sie es vorzog, nur bummelnd vorwärtszukommen, und nichts als einige ziemlich abgedroschene Bemerkungen über die Landschaft, eine Beschreibung ihres Hochzeitskleides und mehrere uninteressante Geschichten über eine Schulfreundin zum Gespräch beitrug, langweilte sich Venetia bald von Herzen. Sie wollte eben vorschlagen, es sei vielleicht Zeit, zurückzukehren, als das Geräusch galoppierender Pferde sie veranlaßte, sich umzudrehen und über den Rasen zur Allee hinüberzuschauen. Die Reiter waren Aubrey und Damerel. Venetia winkte ihnen sofort zu und sagte zu Charlotte: «Sollen wir ihnen entgegengehen? Der Herr in Begleitung Aubreys ist Lord Damerel, unser nächster Nachbar. Ich nehme an, Aubrey hat ihn mitgebracht, damit er dir seine Aufwartung macht.»
Charlotte stimmte zu, aber in einer furchtsamen Stimme, die Venetia ihrer Schüchternheit zuschrieb, und es daher für das beste hielt, sie zu ignorieren. Charlotte dachte jedoch nicht an den Fremden, den sie kennenlernen sollte – sie hoffte sehr, daß die gräßlichen Hunde, die hinter den Pferden einhersprangen, nicht bissig waren. Die Pferde wurden angehalten; Damerel zog den Zügel über Crusaders Kopf und legte ihn Aubrey in die Hand. Zum Entsetzen der armen Charlotte kamen drei der schrecklichen Hunde auf sie zugerast. Sie schreckte instinktiv zurück, war aber erleichtert, als sie entdeckte, daß die Spaniels nicht daran dachten, sie zu beißen, und sie überhaupt nicht beachteten, sondern mit einem so überströmendem Entzücken um Venetia herumkläfften, als hätten sie sie wochenlang nicht mehr gesehen. Ein Pfiff Aubreys, sie rasten wieder davon, und Charlotte war froh, als sie sah, daß er zu den Ställen weiterritt und die Hunde mitnahm.
Damerel, der mit seinem legeren Schritt auf die Damen zukam, blickte einen Moment lang bedeutungsvoll in Venetias Augen, bevor er sich schnell abschätzend dem Gesicht der jungen Frau zuwandte. Diese stumme Verständigung einer Sekundenlänge war fast zuviel für Venetias Fassung; ihre Stimme schwankte ganz leicht, als sie ihn begrüßte. «Guten Morgen! Mein gräßlicher kleiner Bruder ist mir also zuvorgekommen und hat Ihnen unsere aufregende Neuigkeit schon mitgeteilt. Mir bleibt also nur mehr übrig, Sie meiner Schwägerin vorzustellen. Zwar ist dies eine sehr angenehme Aufgabe, aber ich hatte gehofft, daß ich selbst Sie hätte überraschen können! Das ist Lord Damerel, Charlotte – unser guter Freund und Nachbar.»
Als Charlotte Damerel die Hand reichte und ein paar konventionelle Phrasen mit ihm wechselte, sah Venetia mit Genugtuung, daß Charlotte nicht schüchterner war als es sich ziemte, so nervös und schweigsam sie sonst war, wenn sie versuchte, mit ihrem jungen Schwager und ihrer Schwägerin zu plaudern. Venetia hatte bereits gefürchtet, sie würde auf die nachbarlichen Edelleute einen schlechten Eindruck machen. Venetia selbst war der äußere Anstrich ziemlich gleichgültig, und sie wußte wenig von der Welt, war aber intelligent genug zu erraten, daß die Heimlichkeit, in die Conway seine Heirat leider gehüllt hatte, die Creme des North Riding mit reicher Nahrung für Klatsch und Vermutungen versorgte, und sie hielt es für höchst wichtig, daß Charlotte niemandem Grund gäbe, zu sagen, hinter ihrem ungewöhnlichen Unbehagen müsse offenkundig irgend etwas Diskreditierendes an dieser geheimnisvollen und seltsamen Heirat stecken. Aber Charlottes gesellschaftliches Benehmen war tadellos. Sie mochte schüchtern sein, sie mochte nichts als Gemeinplätze von sich geben, aber Venetia neigte sehr zu der Meinung, daß selbst derart scharfäugige Kritikerinnen wie Lady Denny von ihr sagen würden, sie benähme sich sehr nett.
Sie gingen zum Haus zurück, Damerel zwischen ihnen, und es dauerte nicht lange, bis Charlotte glücklich über Paris und Cambray dahinplauderte, über Sonntagsfahrten nach Longchamps, über Gesellschaften im Hauptquartier Lord Hills, wie freundlich Lord Hill gewesen war und was er, ach, so liebenswürdig über sie zu Conway gesagt hatte. Venetia, die zuerst über dieses plötzliche Aufblühen staunte, erkannte sehr schnell, daß dies nicht auf irgendeine Neigung zu Koketterie an Charlotte zurückzuführen war, sondern auf deren geschickte Behandlung durch einen Fachmann. Sie konnte nur staunen, bewundern und gleichzeitig amüsiert und betrübt sein. Sie hatte sich so sehr bemüht, Charlotte aus sich herauszulocken, und hatte damit so wenig Erfolg gehabt. Damerel aber hatte es, keine fünf Minuten, nachdem er sie kennengelernt hatte, zustande gebracht, und anscheinend mühelos. Er brachte Charlotte sogar zum Lachen, denn als sie über die Wonnen des Einkaufens in Paris sprach und er sagte: «Und für Hüte erstklassiger Eleganz: Phanie!» war Charlotte so überrascht, daß sie in fröhliches Gelächter ausbrach. «Ja! Woher wissen Sie das?» fragte sie und schaute unschuldig zu ihm auf.
Venetia verschluckte sich fast und sah, wie ein Muskel in Damerels Mundwinkel zuckte. Aber er sagte ernst: «Ich glaube, ich muß den Namen von irgendeiner Dame meiner Bekanntschaft gehört haben.»
«Ja, ihre Hüte sind ganz hinreißend, aber ganz schrecklich teuer!»
«Das sind sie wirklich – falls es stimmt, was man mir erzählt hat!»
«O ja, denn mein Mann hat mir einen dort gekauft, und als ich den Preis hörte, fiel ich fast in Ohnmacht und mußte wirklich mißbilligend den Kopf über ihn schütteln. Aber er kaufte ihn trotzdem, und ich trug ihn bei dem Frühstück, das für den Herzog von Wellington gegeben wurde, als er ins Hauptquartier kam.»
So lief das Gespräch harmlos weiter, bis sie in Sicht des Hauses kamen. Als sie sich dem Torbogen näherten, durch den Venetia Charlotte in den Park geführt hatte, schloß sich ihnen Aubrey an, und es war Schluß mit Charlottes Vertraulichkeit. Sie war vor Aubrey geradezu albern nervös, sein Hinken schien sie verlegen zu machen, und sie schaute immer weg, wenn er sich bewegte, in einer zu betonten Art, als daß es seiner Aufmerksamkeit entgangen wäre, wie Venetia wußte. Als er auf sie zukam, zog er sein Bein stärker als gewöhnlich nach, was den Schluß zuließ, daß sein Versuchsritt verfrüht gewesen war.
Er nickte Charlotte zu und sagte: «Puxton ist gerade mit Ihrer Zofe aus York angekommen. Nein, das habe ich falsch gesagt – mit Ihrer Kammerfrau! Du hättest William Coachman mit seiner Kutsche hinschicken sollen, Venetia – sie ist es nicht gewöhnt, von einem Stalljungen in Gigs gefahren zu werden.»
Das versetzte Charlotte in Aufregung, und nachdem sie Venetia unzusammenhängend versichert hatte, daß Mama zwar Miss Trossen in London engagiert hatte, aber sie die erste sein würde, eine solche Anmaßung zu unterdrücken, entschuldigte sie sich und eilte ins Haus.
«Ist das nicht geradezu lächerlich!» rief Venetia aus. «Was kann sich nur Mrs. Scorrier dabei vorgestellt haben, daß Charlotte in Undershaw eine Kammerfrau brauchen würde?» Sie schaute mit einem spitzbübischen Gesicht zu Damerel auf. «Was aber Sie betrifft, mein Herr, mit Ihren Putzmacherinnen, deren Preise – wie Sie gehört haben wollen – derart erpresserisch hoch sind – wie konnten Sie nur die Keckheit haben ...!»
«Oder Sie die Ungehörigkeit, Ma'am, sich zu verraten, daß Sie die Umstände verstanden haben, durch die ich mit Mlle. Phanie bekannt geworden bin ...!» gab er zurück.
Sie lachte, sagte aber: «Ja natürlich, ich hätte so tun sollen, als wüßte ich nichts – und das hätte ich auch, wenn es jemand anderer als Sie gewesen wäre. Wie geschickt es Ihnen übrigens gelungen ist, meiner Schwägerin die Schüchternheit zu nehmen!»
«Aber natürlich!» murmelte er aufreizend.
«Was hältst du von ihr?» unterbrach ihn Aubrey.
«Oh, dein Pope-Zitat trifft den Nagel auf den Kopf! Todlangweilig, aber ohne Arglist noch Bosheit – die wird euren Frieden nicht stören.»
«Nein. Auch glaube ich nicht», sagte Venetia nachdenklich, «daß Conway gezwungen war, sie zu heiraten, obwohl ich es zunächst vermutet habe, als ich hörte, daß sie ein Kind bekommt.»
«Ja, ich auch», bemerkte Aubrey. «Aber Nurse sagt, sie erwartet die Entbindung für Mai, also kann das nicht stimmen. Nichts Verdächtiges daran.»
«Na, sag das nur nicht so, als wäre es dir lieber, es wäre verdächtig gewesen!» sagte Damerel sehr amüsiert. «Werde ich das Privileg haben, die Mama kennenzulernen, oder wäre das unklug?»
«Ich glaube schon, falls Sie ihr ein Begriff sein sollten», antwortete Venetia, die Angelegenheit ernsthaft erwägend.
«Gehen wir in die Bibliothek. Obwohl es sein kann, daß sie nichts weiß, denn wenn sie auch nicht gerade vulgär ist ...»
«Sie ist äußerst vulgär», warf Aubrey ein.
«Oh, sie hat eine sehr vulgäre Gesinnung», stimmte ihm Venetia zu. «Ich meine nur, daß sie nicht schlecht erzogen ist, wie etwa die arme Mrs. Huntspill, oder jenes fremde Frauenzimmer, das ich kennenlernte, als ich mit Tante Hendred in Harrogate war, und das die ganze Zeit von Herzoginnen redete, als wären sie alle ihre engsten Freundinnen gewesen, was überhaupt nicht stimmte, wie mir die Tante versicherte. In dieser Art prahlt Mrs. Scorrier nicht. Zwar ist sie nicht aufrichtig und ist ganz abscheulich anmaßend, aber ihre Manieren widern einen nicht an. Nur glaube ich nicht, daß sie zur Creme der Gesellschaft gehört.»
«Wenn sie diejenige ist, die ich vermute, dann ist sie die Tochter irgendeines kleinen Landedelmannes», sagte Damerel und folgte Venetia in die Bibliothek. «Nach allem, was Aubrey mir erzählt, dürfte Ihre Schwägerin die Tochter Ned Scorriers sein – in welchem Fall Sie sich der Heirat Ihres Bruders nicht zu schämen brauchen. Die Scorriers sind ziemlich gut – nicht höchste Kreise, aber gute Familie, typisch Staffordshire. Ned Scorrier war einer der jüngeren Söhne und mit mir zugleich in Eton, wenn auch ein paar Jahrgänge höher. Ich weiß nur, daß er Offizier wurde und keine gute Partie machte – er heiratete schon mit zwanzig –, aber was später aus ihm wurde, weiß ich nicht.»
«Er ist in Spanien an Fieber gestorben», sagte Venetia. «Ich nehme an, das muß er gewesen sein, denn Mrs. Scorrier machte tatsächlich eine Bemerkung, daß die Familie ihres Mannes im Staffordshire lebt. Sie hat sich mit ihnen zerstritten.» Sie runzelte die Stirn. «Zumindest habe ich das dem entnommen, was mir Charlotte erzählte, aber es dürfte idiotisch von ihr gewesen sein, in ihren Verhältnissen! Sie ist nicht sehr gut dran, wissen Sie – und gibt das auch gar nicht vor. Man müßte daher annehmen, daß sie sich vorgesehen hätte, sich gerade mit der Familie ihres Mannes zu überwerfen.»
«Einer der Vorteile eines zurückgezogenen Lebens ist», sagte Damerel lächelnd, «daß Sie bisher noch nie der Sorte Frauen begegnet sind, die sich einfach nicht zurückhalten können, mit allen, die ihren Weg kreuzen, zu streiten. Es geschieht ihr ewig Unrecht, und sie hat das Pech, sich immer nur mit Leuten so schlechten Charakters zu befreunden, daß sie sie früher oder später ganz gräßlich behandeln! Sie selbst hat natürlich nie einen Streit gesucht – sie ist das liebenswürdigste und langmütigste aller Geschöpfe. Es ist ja gerade ihre Vertrauensseligkeit, durch die sie die Beute bösartiger Menschen wird, die sie ohne jeden Grund unweigerlich derart unerträglich beleidigen, daß sie einfach gezwungen ist, jede Verbindung abzubrechen. Stimmt's?»
«So ziemlich!» sagte Aubrey mit einem schiefen Grinsen.
«Fügen Sie noch Eifersucht hinzu», sagte Venetia, «und außerdem eine ganz unvernünftige! Sowie sie meiner nur ansichtig wurde, war sie auch schon eifersüchtig auf mich und konnte mich nicht leiden, und ich kann nicht daraufkommen, warum eigentlich, denn ich glaube wirklich nicht, daß ich ihr dazu Grund gegeben hätte!»
«Aber Sie geben ihr sogar einen sehr wichtigen Grund», sagte Damerel, und seine Augen lächelten. «Wären Sie eine dunkle Schönheit, dann läge der Fall ganz anders, denn dann hätten Sie als Folie für diese fade blonde Tochter dienen können. Aber Sie sind blond, meine Liebe, und überstrahlen dieses Mädchen. Glauben sie mir, das Gold stellt das Flachsblond gründlichst in den Schatten, was Mrs. Scorrier sehr gut weiß!»
«Beim Jupiter, ich glaube, du hast recht!» rief Aubrey aus und betrachtete seine Schwester kritisch. «Ich glaube, Venetia ist wirklich ein bemerkenswert schönes Mädchen! Die Leute jedenfalls halten sie dafür.»
«Und selbst du gibst zu, daß sie erträglich ist! Daran besteht kein Zweifel!»
«Danke! Ich bin euch beiden sehr verbunden!» sagte Venetia lachend. «Ich muß schon sagen, ihr wißt, welch großen Sinn ich für das Lächerliche habe. Ihr werdet aber Charlotte doch wenigstens die Gerechtigkeit widerfahren lassen und zugeben, daß sie ein sehr hübsches Mädchen ist!»
«Sicherlich – wie eine Marionette, ohne Gesicht.»
«Na, ich sehe nichts an ihr, was über das gewöhnliche Maß hinausginge», erklärte Aubrey. «Und falls Conway zu der Zeit nicht besoffen war, will ich verdammt sein, wenn ich weiß, warum er um sie anhielt!»
«Aber sie werden reizend miteinander auskommen», sagte Venetia. «Ich weiß genau, warum er um sie anhielt! Sie ist hübsch und sagt, sie bewundere ihn über alles – ja, ich glaube sogar, sie betet ihn an! –, sie hat nicht einen Gedanken im Kopf, der ihm lästig fallen könnte, und sie wird immer überzeugt sein, er sei ebenso klug, wie er hübsch ist!»
«Dann wird er überhaupt unerträglich werden», sagte Aubrey und zog sich aus seinem Stuhl hoch. «Ich muß mich um Bess kümmern – sie hat sich einen Dorn eingetreten.»
Er hinkte hinaus. Als sich die Tür hinter ihm schloß, sagte Damerel: «Ich habe kein Interesse an der blonden Charlotte und noch weniger an ihrer Mama, aber ich gestehe, daß ich schon äußerst neugierig auf Ihren Bruder Conway bin, mein liebes Entzücken! Was zum Teufel soll dieser groteske Streich bedeuten? Was für ein Mensch muß das sein, daß er Ihnen einen derartigen Streich gespielt hat?»
Venetia erwog, wie sie ihren Bruder Conway schildern sollte. «Nun, er ist groß und hübsch», versuchte sie ihn zu beschreiben. «Er schaut willensstark aus, aber in Wirklichkeit ist er äußerst nachgiebig und nur hie und da starrköpfig. Er ist auch nett, und ich muß sagen, ich halte es für eine große Tugend von ihm, daß er es nicht krummnimmt, wenn man ihn aufzieht. Ja, wann immer Aubrey ihm einen seiner schneidenden Aussprüche sagt, ist er ganz stolz bei dem Gedanken, daß der arme kleine Bursche, wie winzig er auch immer sein mag, eine verteufelt kluge Zunge hat.»
Damerel zog die Brauen hoch. «Aber Sie zeichnen ja das Porträt eines schätzenswerten Mannes, meine Liebe!»
«Das ist er auch – in vieler Hinsicht», antwortete Venetia herzlich. «Nur ist er eben egoistisch und indolent, und trotz all seiner Liebenswürdigkeit nützt es nichts, anzunehmen, daß er sich für irgend jemanden exponiert, weil er zwar nie so unliebenswürdig wäre, sich geradeheraus zu weigern, doch es entweder vergißt oder immer irgendeinen vorzüglichen Grund dafür fände, warum es für alle Beteiligten viel besser ist, wenn er keinen Finger rührt. Er mag keine Unbequemlichkeit, wissen Sie. Und im übrigen – oh, er ist ein mutiger Parforcereiter, ein erstklassiger Violinspieler und ein erträglich guter Schütze! Er liebt einfältige Witze, und wenn er sie zum zehnten Mal erzählt, lacht er genauso herzlich darüber wie beim ersten Mal.»
«Aubrey ist nicht die einzige tödlich scharfe Zunge in der Lanyon-Familie!» bemerkte er anerkennend. «Nun erklären Sie mir bitte, warum dieser Bursche, der seine Bequemlichkeit so liebt, sich mit einer derartigen Beißzange von Schwiegermama behaftet hat!»
«Oh, er wollte Charlotte haben, also überließ er es der Zukunft, alles einzurenken! Als Mrs. Scorrier es ihm in Cambray unbehaglich machte, hat er sie sich vom Hals geschafft, und ich zweifle nicht im geringsten, daß er es ohne eine unangenehme Szene zustande brachte – indem er Charlotte bloß in der Einbildung bestärkte, daß sie sich nicht wohl fühle, und sie und Mrs. Scorrier davon überzeugte – und dich selbst genauso –, daß es geradezu seine Pflicht sei, sie nach England heimzuschicken. Ich bin überzeugt, er wäre froh, wenn ich Undershaw von Mrs. Scorrier befreien würde, und zwar noch bevor er heimkommt. Freilich zweifle ich daran, ob mir das gelingt, und ich habe jedenfalls nicht vor, auch nur den Versuch zu machen. Das muß er schon selbst besorgen. Das wird er auch – was sie, wie ich mir einbilde, noch nicht vermutet!» Venetia kicherte. «Natürlich hätte er nie mit ihr in Cambray gestritten, wo sie großen Lärm geschlagen hätte, und er sich hätte ihretwegen schämen müssen, aber hier macht es ihm keinen Deut aus, wieviel Lärm sie schlägt! Und ich würde mich nicht wundern, wenn er sogar Charlotte dazu brächte, ihrer Mama zu sagen, sie solle gehen, und während sie das tut, selbst den ganzen Tag auf die Jagd geht!»
Damerel lachte, sagte aber: «Bis dahin aber untergräbt sie euren ganzen Frieden hier, zum Teufel noch einmal!»
«Ja», gab sie zu. «Aber ich bin überzeugt, nicht auf lange. Und wenn ich sie bloß davon überzeugen kann, daß ich nicht den geringsten Wunsch hege, Charlotte ihren Platz streitig zu machen, gelingt es uns vielleicht sogar, erträglich gut nebeneinander dahinzuleben.»