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«Heute nacht ist ein Fuchs unter die Hennen geraten und hat eine unserer besten Legerinnen entführt», bemerkte Miss Lanyon. «Noch dazu eine Urgroßmutter! Er sollte sich wirklich schämen!» Da sie keine Antwort bekam, fuhr sie mit veränderter Stimme fort: «Ja, wirklich! Das ist zu schlimm. Was sollen wir jetzt tun?»
Ihr Gefährte wurde aufmerksam, hob die Augen von dem Buch, das offen neben ihm auf dem Tisch lag, und schaute sie, etwas geistesabwesend, fragend an. «Was soll das? Hast du etwas zu mir gesagt, Venetia?»
«Ja, Liebling», antwortete seine Schwester heiter, «aber es war ganz und gar unwichtig, und ich habe auf alle Fälle gleich für dich geantwortet. Du würdest wirklich staunen, wenn du wüßtest, was für interessante Gespräche ich mit mir führe und wie ich sie genieße.»
«Ich habe gelesen.»
«Stimmt – und deinen Kaffee kalt werden lassen, abgesehen davon, daß du das Butterbrot nicht fertiggegessen hast. So iß es doch auf! Ich glaube wirklich, ich sollte dir nicht erlauben, bei Tisch zu lesen.»
«Och, ohnehin nur am Frühstückstisch!» sagte er verächtlich. «Probier's, ob du mich davon abhalten kannst!»
«Natürlich kann ich das nicht. Was ist es eigentlich?» gab sie zurück und schaute den Band an. «Ach, Griechisch! Zweifellos irgendeine erbauliche Geschichte.»
«Die Medea», sagte er zurückhaltend. «In der Ausgabe von Porson, die mir Mr. Appersett geliehen hat.»
«Und ob ich die kenne! Sie war doch dieses bezaubernde Geschöpf, das ihren Bruder zerschnippelt und die Stücke ihrem Papa vor die Füße geworfen hat, nicht? Sicher eine absolut liebenswürdige Person, wenn man sie erst näher kennt.»
Er zuckte ungeduldig die Achsel und antwortete wegwerfend: «Das verstehst du nicht, und es ist pure Zeitverschwendung, dir das zu erklären.»
Sie zwinkerte ihm zu. «Aber ich versichere dir, ich verstehe sie! Ja, bin ganz auf ihrer Seite, abgesehen davon, daß ich mir wünsche, ich besäße ihre Entschlossenheit! Obwohl ich glaube, ich hätte deine Überreste fein säuberlich im Garten vergraben, mein Lieber!»
Diese ausfallende Bemerkung entlockte ihm ein Grinsen, aber er sagte bloß, bevor er sich wieder seinem Buch zuwandte, ein solcher Befehl an sie wäre bestimmt die einzige Aufmerksamkeit gewesen, die ihre Eltern der Sache gewidmet hätten.
Gegen seine Gewohnheiten abgehärtet, versuchte es seine Schwester nicht weiter, seine Aufmerksamkeit zu fesseln. Das Butterbrot – alles, was er an diesem Morgen zu essen gewillt war – lag zur Hälfte aufgegessen auf seinem Teller, aber ihn weiter zu ermahnen, wäre Zeitverschwendung gewesen, und hätte sie es gewagt, sich zu erkundigen, wie er sich heute morgen fühle, hätte sie ihn doch nur aufgebracht.
Er war ein magerer Junge, ziemlich klein für sein Alter, keineswegs unhübsch, aber mit einem Gesicht, das über seine Jahre hinaus scharf und von Linien durchzogen war. Einem Fremden wäre es schwergefallen, sein Alter zu schätzen, da die Unreife seines Körpers in seltsamem Gegensatz zu seinem Gesicht und seinem Benehmen stand. Tatsächlich war er erst vor kurzem siebzehn geworden, aber körperliches Leiden hatte die Linien in sein Gesicht gegraben, und der Umgang ausschließlich mit Menschen, die älter waren als er, gepaart mit einem Intellekt, der zu Gelehrsamkeit neigte und sehr ausgeprägt war, hatte ihn frühreif gemacht. Eine Erkrankung des Hüftgelenks hatte ihn von Eton ferngehalten, wo sein Bruder Conway, um sechs Jahre älter als er, erzogen worden war, und das – oder, wie seine Schwester manchmal dachte, die verschiedenen Behandlungen seiner Krankheit, die er hatte durchmachen müssen – hatte dazu geführt, daß eines seiner Beine kürzer war. Er konnte nur mit einem sehr deutlich merkbaren und häßlichen Hinken gehen; und obwohl die Krankheit angeblich zum Stillstand gebracht worden war, schmerzte ihn das Gelenk bei ungünstigem Wetter – oder wenn er sich überanstrengt hatte – immer noch. Sporte, für die sich sein Bruder begeisterte, waren ihm verwehrt, aber er war ein tapferer Reiter und ein recht guter Schütze, und nur er wußte – und Venetia erriet es –, wie bitterlich er sein Leiden haßte.
Eine Knabenzeit erzwungener physischer Unbeweglichkeit hatte in ihm die angeborene Neigung zu Gelehrsamkeit verstärkt. Als er vierzehn war, hatte er seinen Erzieher, wenn nicht an Wissen, so doch an Erfassen übertroffen; und der würdige Mann erkannte, daß der Junge einen Pauker höheren Wissens bedurfte, als er es zu liefern imstande war. Zum Glück war ein Mann, der darüber verfügte, vorhanden. Der Pastor war ein bedeutender Gelehrter und hatte seit langem mit einer Art sehnsüchtigem Entzücken Aubrey Lanyons Fortschritte verfolgt. Er bot sich an, den Jungen für Cambridge vorzubereiten; Sir Francis Lanyon, erleichtert, daß es ihm erspart blieb, einen neuen Erzieher in seinen Haushalt aufnehmen zu müssen, stimmte dem Arrangement zu; und Aubrey, damals bereits imstande, sich auf ein Pferd zu setzen, verbrachte daraufhin den größten Teil des Tages im Pfarrhaus, brütete in dem halbdunklen Bücherzimmer des Reverend Julius Appersett über gelehrten Texten, sog eifrig das umfassende Wissen seines sanften Präzeptors in sich ein und erfüllte diesen mit einem sich ständig steigernden Glauben an Aubreys Fähigkeit, dereinst zu brillieren. Aubrey war schon im Trinity College immatrikuliert, wo er im kommenden Jahr zu Michaeli aufgenommen werden würde. Und Mr. Appersett setzte durchaus keinen Zweifel darein, daß Aubrey, so jung er dann noch immer sein würde, sich sehr bald in den Rang eines Scholaren erhoben sähe.
Weder seine Schwester noch sein älterer Bruder hegten in diesem Punkt die geringsten Zweifel. Venetia wußte, daß er einen hohen Verstand besaß; und Conway, selbst ein prächtig robuster junger Sportler, für den schon das Schreiben eines Briefes eine unerträgliche Mühe bedeutete, betrachtete den Bruder mit ebenso großer Ehrfurcht wie mit Mitleid. Scholar werden zu wollen, erschien Conway ein seltsamer Ehrgeiz, aber er hoffte aufrichtig, daß es Aubrey gelingen würde, denn was sonst – sagte er einmal zu Venetia – konnte der arme kleine Bursche tun, als sich an seine Bücher halten?
Was Venetia betraf, so meinte sie, daß er sich viel zu eng an diese hielt und in einem erschreckend frühen Alter alle Anzeichen zeigte, ein ebenso eigensinniger Eigenbrötler zu werden, wie es ihr Vater gewesen war. Derzeit sollte er gerade Ferien genießen, denn Mr. Appersett war in Bath und erholte sich von einer schweren Krankheit, indes ein Vetter, mit dem er zum Glück hatte tauschen können, seine Pflichten hier erfüllte. Jeder andere Junge hätte seine Bücher in eine Stellage gestopft und wäre mit seiner Angelrute ausgezogen. Aubrey brachte selbst an den Frühstückstisch Bücher mit und ließ seinen Kaffee kalt werden, während er dasaß, seine hohe, zarte Stirn aufgestützt, die Augen auf die Druckseite gerichtet, das Gehirn derart darauf konzentriert, was er gerade las, daß man seinen Namen hätte dutzendmal aussprechen können und trotzdem keine Antwort erhalten hätte. Es fiel ihm nicht auf, daß er durch eine derartige Konzentration zu einem schlechten Gesellschafter wurde. Erzwungenerweise fiel es Venetia auf, aber da sie seit langem erkannt hatte, daß er genauso egoistisch war wie sein Vater oder sein Bruder, konnte sie seine seltsame Art völlig gleichmütig hinnehmen und ihn auch weiterhin gern haben, ohne schmerzlich enttäuscht zu sein.
Sie war um neun Jahre älter als er, das älteste der drei überlebenden Kinder eines Großgrundbesitzers im Yorkshire mit einer langen Ahnenreihe, einem behaglich großen Vermögen und exzentrischen Gewohnheiten. Der Verlust seiner Frau, bevor Aubrey noch lange Hosen trug, war die Ursache gewesen, daß sich Sir Francis in den dicken Mauern seines Herrenhauses, etliche fünfundzwanzig Meilen von York entfernt, vergrub, voll erhabener Gleichgültigkeit dem Wohlergehen seiner Sprößlinge gegenüber, und der Gesellschaft seiner Kameraden abschwor. Venetia konnte nur annehmen, daß sein Wesen schon immer zum Einsiedlertum neigte, denn sie konnte unmöglich glauben, daß ein derart ausgefallenes Verhalten aus einem gebrochenen Herzen kam. Sir Francis war ein Mann von steifem Stolz, aber nie ein empfindsamer Mensch gewesen, und daß seine Ehe ungetrübte Seligkeit gewesen wäre, war eine liebenswürdige Fiktion, die seine klaräugige Tochter einfach nicht glaubte. Ihre Erinnerungen an die Mutter waren vage, aber sie enthielten den Nachhall erbitterten Zanks, zugepfefferter Türen und peinlich hysterischer Anfälle. Sie konnte sich erinnern, daß sie in das duftende Schlafzimmer ihrer Mutter kommen durfte, um zuzuschauen, wie diese für einen Ball im Howard-Schloß angekleidet wurde; sie konnte sich an ein wunderschönes, aber unzufriedenes Gesicht erinnern, an ein Gewirr teurer Kleider, an eine französische Kammerzofe. Aber sie konnte nicht eine einzige Erinnerung an mütterliche Besorgnis oder Liebe heraufbeschwören. Sicher war, daß Lady Lanyon die Liebe ihres Gatten zum Landleben nicht geteilt hatte. Jedes Frühjahr hatte das schlecht zusammenpassende Paar in London gesehen; der Frühsommer brachte sie nach Brighton. Wenn sie nach Undershaw zurückkehrten, dauerte es nicht lange, bis Ihre Gnaden Trübsal blies. Und wenn sich der Winter über Yorkshire senkte, konnte sie unmöglich das strenge Klima ertragen und war mit ihrem widerstrebenden Gatten auf und davon, auf einer Besuchstour bei ihren Freunden. Kein Mensch hätte sich vorstellen können, daß Sir Francis eine solche Schmetterlingsexistenz paßte, dennoch war er ein geschlagener Mann, als eine plötzliche Krankheit seine Frau dahinraffte, nicht imstande, den Anblick ihres Porträts an der Wand zu ertragen, noch ihren Namen erwähnt zu hören.
Seine Kinder wuchsen in der Wüste auf, die er geschaffen hatte; nur Conway, der nach Eton geschickt wurde und von dort in ein Infanterieregiment eintrat, entfloh in eine größere Welt. Weder Venetia noch Aubrey waren weiter als von Undershaw nach Scarborough gekommen, und ihre Bekanntschaft beschränkte sich auf die paar Familien, die in Reichweite des Herrenhauses lebten. Keinem von beiden tat das leid, Aubrey nicht, weil er davor zurückschrak, unter Fremde zu gehen, Venetia, weil es ihr einfach nicht lag, es zu bedauern. Sie war nur ein einziges Mal untröstlich gewesen, und zwar, als sie siebzehn wurde und Sir Francis es ablehnte, sie zu seiner Schwester nach London fahren zu lassen, damit Venetia bei Hof vorgestellt und in die Gesellschaft eingeführt werde. Es schien hart, und sie hatte einige Tränchen vergossen. Aber nur ein bißchen Überlegung hatte genügt, sie zu überzeugen, daß der Plan wirklich ziemlich undurchführbar war. Sie konnte Aubrey, damals ein kränklicher Achtjähriger, nicht allein der Pflege der Nurse überlassen: die Ergebenheit dieses vortrefflichen Geschöpfes hätte ihn ins Irrenhaus gebracht. So hatte sie die Tränen getrocknet und sich mit der Situation abgefunden. Papa war schließlich doch nicht so unvernünftig. Wenn er auch einer Londoner Saison nicht zustimmen wollte, so erhob er doch keinen Einwand dagegen, daß sie die Unterhaltungen in York oder sogar in Harrogate mitmachte, wann immer Lady Denny oder Mrs. Yardley sie einlud, mitzufahren, was sie ziemlich häufig taten, die eine aus Güte, die andere unter dem Druck ihres entschlossenen Sohnes. Auch war Papa durchaus nicht kleinlich: er kümmerte sich nie um ihre Ausgaben für den Haushalt, gab ihr eine recht schöne Apanage und hinterließ ihr, einigermaßen zu ihrer Überraschung, nach seinem Tod ein recht respektables Einkommen.
Dieses Ereignis hatte sich vor drei Jahren abgespielt, einen Monat nach dem glorreichen Sieg bei Waterloo, und ganz unerwartet, durch einen tödlichen Schlaganfall. Es war für seine Kinder zwar ein Schock, aber kein Kummer gewesen. «In Wirklichkeit», sagte Venetia zum Entsetzen der gütigen Lady Denny, «kommen wir viel besser ohne ihn aus.»
«Aber, meine Liebe!» schnappte Ihre Gnaden nach Luft; sie war ins Herrenhaus gekommen, darauf vorbereitet, die Waisen an ihr sentimentales Herz zu schließen. «Du bist überreizt!»
«Aber wirklich nicht!» antwortete Venetia lachend, «wie oft haben Sie, Ma'am, doch selbst von ihm erklärt, daß er der unnatürlichste Vater sei?»
«Aber jetzt ist er doch tot, Venetia!»
«Ja, aber ich glaube nicht, daß er jetzt mehr Zärtlichkeit für uns übrig hat als in seinem Leben, Ma'am. Wissen Sie, er hat sich nie im geringsten angestrengt, unsere Liebe zu gewinnen, also kann er doch wirklich unmöglich erwarten, daß wir um ihn trauern.»
Da Lady Denny fand, daß sie darauf keine Antwort geben konnte, bat sie Venetia, so etwas nicht zu sagen, und fragte schnell, was Venetia nun vorhabe. Venetia hatte gesagt, daß alles von Conway abhinge. Bis er heimkam, um sein Erbe anzutreten, konnte sie nichts tun als weiterleben wie bisher. «Außer natürlich, daß ich jetzt imstande bin, unsere Freunde daheim zu bewirten, was viel gemütlicher sein wird als damals, als Papa niemandem als Edward Yardley und Dr. Bentworth erlaubte, die Schwelle zu überschreiten.»
Drei Jahre später wartete Venetia immer noch auf die Heimkehr Conways, und Lady Denny hatte fast aufgehört, sich über seinen Egoismus aufzuregen, mit dem er die Last seiner Angelegenheiten auf den Schultern Venetias liegen ließ. Niemand war überrascht, daß er es zuerst unmöglich gefunden hatte, nach England zurückzukehren, denn zweifellos mußte alles in Belgien und Frankreich drunter und drüber gehen, und dabei alle unsere Regimenter nach einer so blutigen Schlacht wie Waterloo so traurig dezimiert! Aber als die Monate verstrichen und alles, was von Conway zu erfahren war, in einem kurzen Gekritzel an seine Schwester stand, das ihr versicherte, er habe alles Vertrauen in ihre Fähigkeit, in Undershaw genau das zu tun, was zu tun war, und daß er ihr wieder schreiben würde, sowie er mehr Zeit hätte, sich dieser Aufgabe zu widmen, begann man allgemein das Gefühl zu haben, daß seine dauernde Abwesenheit weniger aus einem Pflichtgefühl als von der Abneigung kam, ein Leben aufzugeben, das – aus Berichten von Besuchern der Besetzungsarmee zu schließen – zum Großteil aus Kricket-Matches und Bällen zu bestehen schien. Das Neueste, das man von Conway hörte, war, daß er das Glück gehabt hatte, in den Stab Lord Hills ernannt zu werden, und nun in Cambray stationiert war. Er konnte Venetia unmöglich einen langen Brief schreiben, weil der Große Mann erwartet wurde und eine Truppenschau abgehalten werden sollte, mit anschließendem Diner, was bedeutete, daß der Stab so viel zu tun hatte. Er wußte, sie würde genau verstehen, wie es war, und er verblieb als ihr sie liebender Bruder Conway. «P. S. Ich weiß nicht, welches Feld du meinst, am besten, du tust, was Powick für richtig hält.»
«Und wenn es nach ihm ginge, kann sie ihr Lebtag in Undershaw leben und als alte Jungfer sterben!» erklärte Lady Denny weinerlich.
«Wahrscheinlicher ist, daß sie Edward Yardley heiratet», antwortete ihr Herr und Gebieter prosaisch.
«Ich kann nichts gegen Edward Yardley sagen – ja, ich halte ihn für einen wirklich schätzenswerten Menschen! –, aber ich habe immer schon gesagt, und ich werde es auch immer sagen, daß sie sich damit wegwerfen würde! Wenn nur unser lieber Oswald zehn Jahre älter wäre, Sir John!»
Aber hier nahm das Gespräch eine abrupte Wendung, da Sir Johns böser Geist ihn zu dem Ausruf herausforderte, er hoffe, daß ein so prächtig aussehendes Mädel mehr Verstand habe, als den dümmsten jungen Hund der Grafschaft auch nur zweimal anzuschauen. Da er außerdem noch hinzusetzte, es sei höchste Zeit, seine Frau hörte damit auf, Oswald zu ermutigen, daß er mit seinem theatralischen Getue einen Narren aus sich mache, wurde Venetia in einem ziemlich hitzigen Austausch widerstreitender Meinungen vergessen.
Niemand hatte geleugnet, daß Venetia ein sehr gut aussehendes Mädchen war; ja, die meisten hätten nicht gezögert, sie schön zu nennen. Selbst unter den Erlesensten der Debütantinnen bei Almack hätte sie Aufmerksamkeit erregen müssen; in der begrenzteren Gesellschaft, in der sie verkehrte, hatte sie nicht ihresgleichen. Es waren nicht nur die Größe und der Glanz ihrer Augen, die Bewunderung erregten, noch die Pracht ihres glänzenden rotgoldenen Haares, noch selbst der bezaubernde Schwung ihres hübschen Mundes – es war außerdem noch etwas sehr Einnehmendes in ihrem Gesicht, das nichts mit der Vortrefflichkeit ihrer Züge zu tun hatte, ein Ausdruck der Süße, das Glitzern eines nicht zu unterdrückenden Humors, ein ungewöhnlich freimütiger Blick, in dem keine Spur Schüchternheit lag.
Dieses humorvolle Glitzern trat in ihre Augen, als sie Aubrey anschaute, der immer noch in der Antike versunken war. Sie sagte: «Aubrey! Lieber, gräßlicher Aubrey! So leihe mir doch deine Ohren! Gerade nur wenigstens eines deiner Ohren, Liebling!»
Er schaute auf, und in seinen Augen antwortete ihr das gleiche Glitzern. «Nicht, wenn es etwas ist, das ich besonders ungern mag!»
«Nein, ich verspreche dir, das ist es nicht!» antwortete sie lachend. «Nur wenn du vorhast, gleich auszureiten, wirst du dann so nett sein und im Postamt nachfragen, ob dort für mich ein Päckchen aus York abgeliefert wurde? Ein ganz kleines Päckchen, lieber Aubrey! Nicht im allergeringsten unhandlich, Ehrenwort!»
«Ja, will ich machen – wenn nicht Fisch drin ist! Sollte das der Fall sein, dann kannst du gleich Puxton darum schicken, meine Liebe!»
«Nein, es ist einwandfrei Musselin!»
Er hatte sich erhoben und ging in seinem unbeholfenen, schleppenden Gang zum Fenster. «Es ist zu heiß, um überhaupt auszureiten, glaube ich, aber ich will – oh, und ob ich will, und das sofort! Meine Liebe, da kommen deine beiden Freier gleich auf einmal, um uns einen Morgenbesuch abzustatten!»
«O nein!» rief Venetia flehend aus. «Doch nicht schon wieder!»
«Reiten gerade die Allee herauf», versicherte er ihr. «Oswald schaut außerdem mürrisch wie ein Bär drein.»
«Also, Aubrey, bitte, sag das nicht! Es ist sein düsterer Blick. Er brütet über namenlosen Verbrechen, vermute ich, und bedenke bloß, wie entmutigend, wenn man seine düsteren Gedanken mit Mürrischsein verwechselt!»
«Mein Lieber, wie soll ich das wissen – oder er selbst? Der arme Junge – daran ist nur Byron schuld! Oswald kann sich nicht entschließen, wem er eigentlich ähnlich sieht, Seiner Lordschaft oder dem Corsair Seiner Lordschaft. In beiden Fällen ist es für die arme Lady Denny sehr besorgniserregend. Sie ist überzeugt, daß er an irgendeiner Unordnung im Blut leidet, und bittet ihn immer wieder, James-Pulver zu schlucken.»
«Byron!» würgte Aubrey hervor, mit seinem ungeduldigen Achselzucken. «Ich verstehe nicht, wie du so ein Zeug lesen kannst!»
«Natürlich lese ich es nicht, Liebling – und ich muß zugeben, ich wollte, Oswald hätte entdeckt, daß es auch ihm unmöglich ist. Ich möchte nur wissen, welche Ausrede Edward uns für diesen Besuch bieten wird? Es kann doch bestimmt nicht noch eine Königshochzeit oder allgemeine Wahlen gegeben haben?»
«Oder daß er meinen kann, uns liege was an einem solchen Mist.» Aubrey wandte sich vom Fenster ab. «Wirst du ihn heiraten?» fragte er.
«Nein – oh, ich weiß nicht! Ich bin überzeugt, daß er ein freundlicher Gatte wäre, aber soviel ich auch versuche, ich kann nicht mehr als ihn schätzen», antwortete sie in einem komisch verzweifelten Ton.
«Warum versuchst du's dann überhaupt?»
«Nun ja, weißt du, irgendwen muß ich doch heiraten! Conway wird es bestimmt tun, und was soll dann aus mir werden? Es würde mir nicht passen, daß ich hier weiterlebe und zu einer Tante zusammenschrumpfe – und ich glaube sagen zu können, daß das meiner unbekannten Schwägerin sicher auch nicht passen würde!»
«Oh, du kannst mit mir zusammen leben! Ich werde bestimmt nicht heiraten, und ich hätte überhaupt nichts dagegen – du störst mich nie!»
Ihre Augen tanzten, aber sie versicherte ihm ernst, daß sie ihm sehr verbunden sei.
«Es würde dir besser gefallen, als mit Edward verheiratet zu sein.»
«Der arme Edward! So sehr kannst du ihn nicht leiden?»
Er antwortete mit einem verzerrten Lächeln: «Ich vergesse nie, wenn er bei uns ist, daß ich ein Krüppel bin, meine Liebe.»
Hinter der Tür hörte man eine Stimme sagen: «Im Frühstückszimmer sind sie, nicht? Oh, Er braucht mich nicht anzumelden, ich kenne mich hier aus!»
Aubrey fügte hinzu: «Und ich mag es nicht, daß er sich hier auskennt.»
«Ich auch nicht, wirklich! Man kommt ihm nicht aus!» stimmte sie ihm zu und wandte sich zur Tür, um die Besucher zu begrüßen.
Zwei Gentlemen, einander denkbar unähnlich, betraten das Zimmer; der ältere, ein solid aussehender Mann im dreißigsten Lebensjahr, ging voraus wie einer, der nicht daran zweifelt, daß er willkommen ist; der jüngere, ein Jüngling von neunzehn, mit einem Mangel an Sicherheit, der nur unvollkommen hinter einem leicht nonchalanten Einherstolzieren verborgen wurde.
«Guten Morgen, Venetia! Na, Aubrey!» sagte Mr. Edward Yardley und schüttelte ihnen die Hand. «Was für ein Paar Langschläfer, wirklich! Ich fürchtete schon, ich würde euch an einem solchen Tag nicht daheim finden, kam aber auf die Chance hin, daß Aubrey vielleicht gern sein Glück mit den Karpfen in meinem See versuchen möchte. Was sagst du dazu, Aubrey? Du kannst vom Boot aus fischen, weißt du, und strengst dich dabei nicht an.»
«Danke, aber es ist wohl kaum zu erwarten, daß ich bei einem solchen Wetter etwas fange.»
«Es würde dir aber guttun, und du kannst deinen Gig bis auf wenige Meter an den See heranfahren, wie du weißt.»
Es wurde freundlich gesagt, aber in Aubreys wiederholter Ablehnung war etwas von Zähneknirschen zu spüren. Mr. Yardley nahm mitleidig an, daß ihm die Hüfte weh tat.
Inzwischen war der junge Mr. Denny dabei, seine Gastgeberin zu informieren, eindringlicher, als die Gelegenheit es angemessen erscheinen ließ, daß er gekommen war, um sie zu sehen. Er fügte in einer leisen, vibrierenden Stimme hinzu, daß er einfach nicht wegbleiben konnte. Dann schaute er düster Aubrey an, der ihn mit spöttischen Augen betrachtete, und schwieg plötzlich errötend. Er war fast drei Jahre älter als Aubrey und hatte viel mehr von der Welt gesehen, aber Aubrey war imstande, ihn aus der Fassung zu bringen, ebenso durch seinen leidenschaftslosen Blick wie durch den Gebrauch seiner giftigen Zunge. Der junge Denny konnte sich in Gegenwart des Jungen einfach nicht wohl fühlen, denn abgesehen davon, daß er ihm in einem Wettstreit des Verstandes nicht gewachsen war, hatte er die Abneigung eines gesunden jungen Tieres gegen physische Mißbildung und hegte außerdem die Meinung, Aubrey schlüge in einer sehr schäbigen Art Kapital daraus. Wenn es das nachschleppende linke Bein nicht gegeben hätte, hätte man ihm sehr schnell beigebracht, welche Höflichkeit er Älteren gegenüber schuldete. Er weiß, daß er vor mir sicher ist, dachte Oswald, und verzog den Mund.
Nachdem er eingeladen worden war, sich zu setzen, hatte er eine nachlässige Pose auf einem kleinen Sofa eingenommen. Er entdeckte jetzt, daß der zweite Gast ihn unverwandt und mit einer unverkennbaren Mißbilligung ansah, und er war sofort hin und her gerissen zwischen der Hoffnung, eine romantische Figur zu bieten, und der Angst, daß er die nonchalante Haltung doch um eine Spur übertrieben hatte. Er setzte sich also auf, und Edward Yardley wandte seinen Blick nunmehr Venetia zu.
Mr. Yardley, der keinen Wunsch hegte, romantisch zu erscheinen, hätte es sich nie zuschulden kommen lassen, in der Gegenwart einer Dame zu lümmeln. Noch hätte er einen Morgenbesuch in einer Jagdjoppe gemacht und mit einem seidenen Taschentuch um den Hals, dessen Enden unordentlich über der Jacke getragen wurden. Er war nett und schicklich in eine nüchterne Reitjacke und Reithosen gekleidet und so weit davon entfernt, eine Haarlocke darin zu schulen, daß sie über eine Braue fiel, daß er sein Haar eher kürzer geschnitten trug, als es Mode war. Er hätte als Modell für einen Landedelmann soliden Wertes und bescheidener Ambitionen dienen können; bestimmt hätte kein Fremder vermutet, daß er und nicht Oswald das einzige Kind einer in ihn vernarrten verwitweten Mutter war.
Da sein Vater gestorben war, bevor Edward seinen zehnten Geburtstag feierte, war er schon in sehr frühem Alter in den Besitz seines Vermögens gekommen. Das war eher ansehnlich denn beträchtlich, aber immerhin groß genug, um einen vorsichtigen Mann instand zu setzen, ein elegantes Leben zu führen und es trotzdem zustande zu bringen, der Welt zuvorzukommen. Eine Modejüngling, darauf aus, Eindruck zu machen, hätte es für Armut gehalten, aber Edward hatte keine ausgefallenen Steckenpferde. Sein Besitz, der nicht ganz zehn Meilen weit von Undershaw lag, war weder so ausgedehnt noch so bedeutend wie Undershaw, wurde aber allgemein für ein recht nettes Eigentum gehalten und übertrug auf dessen Besitzer eine anerkannte Stellung im Norddistrikt von Yorkshire, den Gipfel seines Ehrgeizes. Von angeboren seriösem Charakter, besaß er auch ein starkes Pflichtgefühl. Er machte alle Anstrengungen seiner Mama zunichte, seinen Charakter durch übertriebene Duldsamkeit zu ruinieren, übernahm früh die Leitung sei ner Angelegenheiten und wuchs sehr schnell zu einem ernsthaften jungen Mann uniformer Tugenden heran. Zwar war er weder lebhaft noch geistreich, besaß aber dafür sehr viel Vernunft; und wenn ihn seine herrische Natur in seinem Haushalt auch etwas zu autokratisch machte, so war das feste Regiment, das er über seine Mama und seine Angestellten führte, doch von dem aufrichtigen Glauben beseelt, daß er fähig sei, zu entscheiden, was sie bei allen Gelegenheiten am besten zu tun hätten.
Venetia, die das Gefühl hatte, daß es ihr obliege, Aubreys knappe Höflichkeit gutzumachen, sagte: «Wie nett von dir, daß du an Aubrey gedacht hast! Aber du hättest dir nicht so viel Mühe machen sollen – ich bin überzeugt, du hast tausend Sachen zu tun.»
«Nicht direkt tausend», antwortete er lächelnd. «Nicht einmal hundert, obwohl ich gestehe, daß ich im allgemeinen ziemlich beschäftigt bin. Aber du darfst nicht glauben, daß ich irgendeine wichtige Pflicht vernachlässige – ich hoffe, daß ich mir darin nichts vorzuwerfen habe! Dem Dringlichen konnte ich mich schon widmen, als ihr, wette ich, noch geschlafen habt. Mit etwas Einteilung findet man immer Zeit, mußt du wissen. Ich habe außerdem noch einen anderen Grund für meinen Besuch – ich habe dir mein Exemplar der Morning Post vom Dienstag mitgebracht, worüber du, glaube ich, froh sein wirst. Ich habe die Stelle angezeichnet – du wirst sehen, daß es die Besetzungsarmee betrifft. Es scheint sicher zu sein, daß die Aversion der Franzosen gegen die Anwesenheit unserer Soldaten immer stärker wird. Zum Wundern ist es nicht, obwohl, wenn man denkt – aber das ist für dich weniger interessant als die Aussicht, daß ihr Conway daheim begrüßen werdet! Ich glaube, er dürfte bei euch sein, bevor noch das Jahr um ist.»
Venetia nahm die Zeitung entgegen, dankte ihm mit einer Stimme, die fast vor Lachen schwankte, und hütete sich, Aubrey anzuschauen. Seit Edward entdeckt hatte, daß die Lanyons, was Neuigkeiten betraf, von der Wochenzeitung Liverpool Mercury abhingen, hatte er es zu einer Ausrede für seine häufigen Besuche in Undershaw gemacht, daß er seine Londoner Tageszeitung mit ihnen teilte. Zuerst war er nur gekommen, wenn irgendeine große Neuigkeit darin stand, wie etwa der Tod des alten Königs von Schweden und die Wahl des Marschalls Bernadotte auf den Thron. In den Frühlingsmonaten dienten ihm die Zeitungen netterweise mit einer Flut königlicher Hochzeiten. Zuerst hatte es die wirklich erstaunliche Nachricht gegeben, daß die Prinzessin Elizabeth, obwohl schon etwas bejahrt, dem Prinzen von Hessen-Homburg vermählt wurde. Kaum hörten die Beschreibungen ihres bräutlichen Gewandes und die Preislieder auf ihre Geschicklichkeit als Künstlerin auf, als gleich nicht weniger als drei ihrer ältlichen Brüder ihrem Beispiel folgten. Das war ganz natürlich, weil die Erbin von England, die arme Prinzessin Charlotte, vor kurzem samt ihrem Kind im Wochenbett gestorben war. Selbst Edward gab zu, daß es amüsant war, denn zwei der königlichen Herzöge waren über fünfzig, und man sah es ihnen an; und jeder Mensch wußte, daß der älteste der drei Vater einer großen Schar hoffnungsvoller Bastarde war. Aber seit der Hochzeit Clarences im Juli hatte Edward große Mühe, irgend etwas in den Zeitungen zu entdekken, das nur von weitem danach aussah, als könnte es die Lanyons interessieren. Er war mehr als einmal gezwungen gewesen, seine Zuflucht zu Berichten zu nehmen, daß die Gesundheit der Königin den Leibärzten Grund zu Depression gab oder daß über Tierneys fortgesetzte Führung der Partei Uneinigkeit ihr Haupt unter den Whigs erhob. Selbst der überzeugteste Optimist hätte nicht annehmen können, daß sich die Lanyons für solche Gerüchte interessierten, aber man konnte vernünftigerweise erwarten, daß sie die Aussicht auf Conways Heimkehr begrüßen würden.
Aber Venetia sagte nur, sie würde es erst glauben, daß Conway den Dienst quittiert habe, wenn sie ihn zur Tür hereinkommen sah; und nachdem Aubrey die Sache stirnrunzelnd überdacht hatte, fügte er in einem beklagenswert optimistischen Ton hinzu, man brauche nicht zu verzweifeln, da Conway wahrscheinlich eine andere Ausrede finden würde, um bei der Armee bleiben zu können.
«Ich würde das bestimmt!» sagte Oswald, erkannte aber dann, daß dies entschieden kein Kompliment für seine Gastgeberin war, verfiel in Todesqualen und stammelte: «Das heißt, ich meine nicht – das heißt, ich meine, ich würde das, wenn ich Sir Conway wäre! Er wird es hier so verteufelt langweilig finden. Das ist eben, wenn man einmal die Welt gesehen hat.»
«Das ist es für dich nach einem Ausflug nach Westindien, nicht?» sagte Aubrey.
Die Bemerkung entlockte Edward ein Lachen, und Oswald, der zuerst Aubreys Bosheit ignorieren wollte, sagte mit unnötigem Nachdruck: «Jedenfalls habe ich mehr von der Welt gesehen als du. Du hast keine Ahnung – du wärst verblüfft, wenn ich dir erzählen würde, wie in Jamaika alles anders ist!»
«Ja, wären wir», stimmte Aubrey zu, und begann, sich aus seinem Stuhl hochzustemmen.
Edward kam ihm sofort mit der Besorgtheit, die so wenig geschätzt wurde, zu Hilfe. Nicht imstande, den unterstützenden Griff an seinem Ellbogen abzuschütteln, fügte sich Aubrey, aber sein Danke klang eisig, und er rührte sich so lange nicht von der Stelle, wo er stand, bis Edward seine Hand zurückzog. Dann glättete Aubrey seinen Ärmel und sagte, an seine Schwester gewandt: «Ich geh dieses Päckchen holen, meine Liebe. Ich möchte, daß du, wenn du einen Augenblick für dich hast, an Taplow schreibst und ihn verständigst, er solle uns in Zukunft eine der Londoner Tageszeitungen liefern. Ich glaube, wir sollten uns selbst eine halten, meinst du nicht auch?»
«Das ist nicht nötig», sagte Edward. «Ich versichere euch, ich bin nur zu glücklich, die meine mit euch zu teilen.»
Aubrey blieb unter der Tür stehen, schaute zurück und sagte penetrant sanft: «Aber wenn wir unsere eigene hätten, dann wärst du nicht gezwungen, so oft zu uns herüberzureiten, nicht?»
«Wenn ich gewußt hätte, daß ihr eine haben wollt, wäre ich mit dem Exemplar meines Vaters wirklich jeden Tag herübergeritten!» sagte Oswald ernst.
«Unsinn!» sagte Edward, so verärgert darüber, wie er es nicht einmal über Aubreys offene Feindseligkeit gewesen war. «Ich stelle mir vor, daß Sir John vielleicht auch etwas zu diesem Plan zu sagen hätte! Venetia weiß, daß sie sich auf mich verlassen kann.»
Diese Zurechtweisung stachelte Oswald zu der Bemerkung an, daß sich Venetia bei wesentlich gefährlicheren Diensten als der Ablieferung einer Zeitung auf ihn verlassen könne. Zumindest war das der Kern dessen, was er hatte sagen wollen, aber die Rede, die in Gedanken sehr schön geklungen hatte, veränderte sich recht unglücklich, sowie sie ausgesprochen wurde. Sie verwickelte sich hoffnungslos, klang selbst für ihren Autor lahm und verlief sich unter der toleranten Verachtung in Edwards Auge ins Nichts.
Gerade da aber schuf das alte Kinderfräulein der Lanyons eine Ablenkung, als es auf Suche nach Venetia ins Zimmer trat. Als die Nurse entdeckte, daß Mr. Yardley, den sie billigte, mit ihrer jungen Herrin beisammen war, entschuldigte sie sich sofort, sagte, ihre Angelegenheit könne warten, und zog sich wieder zurück. Aber Venetia, die der Gesellschaft ihrer schlecht zusammenpassenden Bewunderer ein häusliches Zwischenspiel vorzog, selbst wenn sie dadurch gezwungen wurde, abgenützte Bettlaken zu inspizieren oder sich Klagen über die Säumigkeit der jüngeren Dienerschaft anhören zu müssen, stand auf und entließ die beiden in der denkbar freundlichsten Art, indem sie sagte, sie würde sich die Ungnade der Nurse zuziehen, wenn sie sie warten ließe.
«Ich habe meine Pflichten vernachlässigt, und wenn ich mich nicht vorsehe, werde ich ein schreckliches Donnerwetter über mich ergehen lassen müssen», sagte sie lächelnd und streckte ihre Hand Oswald hin. «Daher muß ich euch beide wegschicken. Seid nicht böse! Ihr seid so alte Freunde, daß ich mit euch nicht auf formellem Fuß stehen muß.»
Nicht einmal Edwards Anwesenheit konnte Oswald davon abhalten, ihre Hand an seine Lippen zu ziehen und einen glühenden Kuß auf sie zu drücken. Sie nahm dies mit ungerührtem Gleichmut hin, und sowie sie wieder über ihre Hand verfügte, hielt sie sie Edward hin. Aber er lächelte nur, sagte «Gleich!» und hielt die Tür für sie auf. Sie ging an ihm vorbei in die Halle, und er folgte ihr, indem er seinen Rivalen sehr entschieden im Frühstückszimmer einschloß. «Du solltest diesen stupiden Jungen nicht ermutigen, hinter dir herzulaufen», bemerkte er.
«Ermutige ich ihn?» sagte sie und schaute überrascht drein. «Ich dachte, ich benehme mich zu ihm wie zu Aubrey. Genauso sehe ich ihn – außer», fügte sie nachdenklich hinzu, «daß Aubrey nicht die Vernunft abgeht und er viel älter zu sein scheint als der arme Oswald.»
«Meine teure Venetia, ich beschuldige dich ja nicht, daß du etwa mit ihm flirtest!» antwortete Edward mit einem nachsichtigen Lächeln. «Auch bin ich nicht eifersüchtig, solltest du vielleicht das meinen!»
«Nun, das meine ich nicht», sagte sie. «Du hast, wie du weißt, weder einen Grund eifersüchtig zu sein, noch auch das Recht dazu.»
«Bestimmt keinen Grund. Was das Recht betrifft, sind wir uns doch einig – nicht? –, daß es unschicklich wäre, mehr über diesen Punkt zu sagen, bis Conway heimkommt. Du wirst vielleicht erraten, mit was für einem Interesse jedenfalls ich jene Spalte in der Zeitung gelesen habe!»
Das wurde mit einem derart schelmischen Blick gesagt, daß es sie zu dem Ausruf herausforderte: «Edward! Ich bitte dich sehr, rechne nicht allzusehr auf Conways Heimkehr! Du bist in eine Art verfallen, davon zu reden, als würde mich das bereit machen, sofort in deine Arme zu fallen, und ich wünsche, daß du nicht so sprichst!»
«Ich hoffe – ja, ich bin ganz sicher –, daß ich mich niemals in solchen Worten ausgedrückt habe», antwortete er ernsthaft.
«Nein, nie!» stimmte sie zu, und dabei tanzte ein spitzbübisches Lachen um ihre Lippen. «Edward, bitte – bitte, frage dich wirklich, bevor mir Conway so unerträglich langweilig wird, daß ich bereit sein werde, aber schon nach jedem Heiratsantrag zu schnappen, ob du mich auch wirklich heiraten willst! Denn ich glaube gar nicht, daß du das wirklich willst!»
Er schaute verblüfft, ja sogar ziemlich schockiert drein, aber nach einem Augenblick lächelte er und sagte: «Ich weiß, wie gern du Spaß machst! Du bist immer amüsant, und wenn deine Scherzhaftigkeit dich hie und da dazu verführt, seltsame Dinge zu sagen, so bilde ich mir ein, daß ich dich viel zu gut kenne, um zu glauben, daß du sie auch wirklich meinst.»
«Edward, bitte – ich bitte dich, bemühe dich zumindest ein wenig, dich vor einer Illusion zu hüten», bat Venetia sehr ernst. «Du kannst mich nicht im geringsten kennen, wenn du dir das wirklich einbildest – und was für ein gräßlicher Schock wird es für dich sein, wenn du entdeckst, daß ich die seltsamen Dinge, die ich sage, auch wirklich meine!»
Er antwortete scherzhaft, ohne daß sein Selbstvertrauen im geringsten gemindert worden wäre: «Vielleicht kenne ich dich besser als du dich selbst! Das ist ein Kniff, den du von Aubrey gelernt hast. Du jedenfalls gehst nicht über die Grenze dessen hinaus, was heiter ist – aber wenn du von Conway sprichst, klingt es, als hättest du ihn nicht lieb!»
«Nein, hab ich auch nicht», sagte sie freimütig.
«Venetia! Bedenke, was du sagst!»
«Aber es ist wirklich wahr!» sagte sie beharrlich. «Oh, schau nicht so entsetzt drein! Nicht, daß ich ihn nicht mag – obwohl ich sagen muß, es könnte durchaus der Fall sein, wenn ich gezwungen wäre, viel mit ihm beisammen zu sein; denn abgesehen davon, daß er sich keinen Deut uni die Bequemlichkeit eines anderen Menschen kümmert, nur um seine eigene, ist er ganz schauerlich gewöhnlich!»
«Das solltest du nicht sagen», antwortete er zurückhaltend. «Wenn selbst du von deinem Bruder mit so wenig Mäßigung sprichst, kann man sich nicht wundern, daß Aubrey keine Gewissensbisse hat, von Conways Heimkehr so zu sprechen, wie er es soeben getan hat.»
«Mein lieber Edward, noch vor einer Weile hast du gesagt, ich hätte diesen Kniff von ihm gelernt!» verspottete sie ihn. Sein Gesicht entspannte sich nicht, und sie fügte einigermaßen amüsiert hinzu: «Die Wahrheit ist – wenn du sie nur erkennen würdest! –, daß wir gar keine Kniffe haben, wir sagen nur, was wir denken. Und ich muß gestehen, daß es erstaunlich ist, wie oft wir dasselbe denken, denn wir sind einander sonst, glaube ich, nicht sehr ähnlich – bestimmt nicht in unserem Geschmack!»
Er schwieg eine Weile und sagte dann: «Es ist dir vielleicht zuzugestehen, daß du ein bißchen Groll hegst. Ich kann deine Gefühle gut verstehen. Deine Lage hier seit dem Tod deines Vaters ist unbehaglich, und Conway hatte keine Skrupel, seine Bürden – ja, eigentlich seine Pflichten! – auf deine Schultern zu legen. Aber bei Aubrey ist das anders. Ich war sehr in Versuchung, ihn herunterzukanzeln, als ich ihn so von seinem Bruder sprechen hörte. Was immer die Fehler Conways sein mögen, er ist sehr gutmütig und ist immer nett zu Aubrey gewesen.»
«Ja, aber Aubrey mag Leute nicht, weil sie nett zu ihm sind», sagte sie.
«Jetzt redest du Unsinn!»
«O nein! Wenn Aubrey Leute mag, dann ist es nicht um dessentwillen, was sie tun – es ist darum, was sie im Sinn haben, glaube ich.»
«Es wird für Aubrey sehr gut sein, wenn Conway heimkommt!» unterbrach er sie. «Wenn die einzigen Leute, die er dummerweise leiden kann, klassische Gelehrte sind, ist es höchste Zeit ...»
«Was für eine Dummheit, so etwas zu sagen, wenn du doch wissen mußt, daß er mich mag!»
Er sagte steif: «Verzeihung! Zweifellos habe ich dich mißverstanden.»
«Das hast du wirklich! Du hast auch mißverstanden, was ich über Conway sagte. Ich versichere dir, ich verspüre nicht den leisesten Groll, und was meine Lage betrifft – oh, wie albern du bist! Die ist doch natürlich nicht unbehaglich!» Sie sah, daß er verletzt dreinschaute und rief aus: «Jetzt habe ich dich verärgert! Nun, es ist heute zu heiß zum Streiten, deshalb wollen wir uns, bitte, nicht mehr zanken! Jedenfalls muß ich jetzt hinaufgehen und schauen, was denn Nurse will. Auf Wiedersehen! Und danke, daß du so nett warst und uns deine Zeitung gebracht hast!»