16
Drei Tage später wachte Venetia nach einer unruhigen Nacht bei dem Klang einer durchdringenden Stimme auf, die die Bewohner am Cavendish Square monoton beschwor, guten Reibsand für ihre Küche zu kaufen. Mrs. Hendred, die ihre Nichte in dem besten Gästezimmer untergebracht hatte, das auf den Platz hinausging, hatte ihr gesagt, es sei wunderbar still, ganz anders als die Zimmer, die auf der Straßenseite lagen. Es war zwar sicherlich ruhiger als das Zimmer, in dem Venetia in der Nacht vorher in Newark geschlafen hatte, aber für einen Menschen, der an die tiefe Stille auf dem Land gewöhnt ist, war es mehr eine Hölle als die ruhige Lage, die von den Häusermaklern in ihren Reklamen gepriesen wird. Anscheinend ging in London kein Mensch je schlafen. Wenn Venetia in einer Pause des anscheinend endlosen Verkehrs einschlief, riß sie bald wieder die Stimme des Nachtwächters wach, der die Stunde und den Stand des Wetters verkündete. Sie konnte nur annehmen, daß die Ohren der Londoner taub geknüppelt worden waren, und hoffen, daß sie selbst sich bald an das unaufhörliche Getöse gewöhnen würde. Da sie ein manierliches Mädchen war, versicherte sie ihrer Tante sofort, daß sie eine ausgezeichnete Nacht verbracht und sich nach ihrer Reise völlig erholt habe.
Ihre schweren Augenlider straften sie Lügen. In Wirklichkeit hatte sie in den vergangenen drei Nächten wenig Schlaf gefunden. Da sie Reisen nicht gewöhnt war, war sie nach den mehr als zweihundert Meilen zerschlagen, erschöpft und hatte selbst im Bett das Gefühl, daß sie immer noch eine endlose Poststraße entlang gerüttelt und geschaukelt werde.
Die Expedition, einst so ersehnt, würde in ihrem Gedächtnis bestimmt als ein einziger Albtraum weiterleben, meinte sie. Anfangs war alles nichts als Hast und Wirrwarr gewesen. Sie mußte Powick aufsuchen, eilige Vorkehrungen treffen, Schlüssel, Rechnungen und Memoranda übergeben, warnende Ermahnungen austeilen und einen Brief an Lady Denny schreiben. Das Schlimmste von allem aber war das Abschiednehmen gewesen, denn Nurse, Mrs. Gurnard und Ribble hatten geweint, und sie hatte sie trösten müssen. Und als sie sich schließlich im letzten Augenblick von Aubrey verabschieden mußte, während der Onkel mit der Uhr in der Hand neben ihr stand, war sie derart überwältigt, daß sie sich nicht auf ihre Stimme verlassen konnte, sondern ihn nur krampfhaft umarmte und ihn durch die Tränen hindurch gar nicht sah.
Für Überlegungen privater Natur hatte sie keine Zeit gehabt, ehe sie York verlassen hatte, wo sie eine Stunde mit Mr. Mytchett verbringen mußte. Aber als sie das letzte Dokument unterzeichnet und die letzte sorgfältige Frage beantwortet hatte, gab es wieder zuviel Zeit zum Denken. Mr. Hendred, resigniert der unvermeidlichen Wiederkehr seiner Neuralgie ausgeliefert, wickelte sich einen Schal um den Kopf und lehnte sich in seine Ecke der Kalesche zurück, schloß energisch die Augen, und seine Nichte hatte daher Muße, sich ihrem Grübeln zu überlassen. Glücklich waren ihre Gedanken nicht, leider aber derart intensiv, daß sie, statt eifrig in eine ihr noch unbekannte Landschaft hinauszublicken und nach berühmten Wahrzeichen auszuschauen, nur wenig mehr als die auf- und abschaukelnden Gestalten der Postillione sah und sich nur schwach für die verschiedenen historischen Städte interessierte, durch die sie fuhr. Die erste Teilstrecke der Reise war notwendigerweise kurz gewesen, so daß noch hundertzwanzig Meilen zu bewältigen waren. Sie hatte sich dem Entschluß ihres Onkels gefügt, auf dem Weg nur einmal zu übernachten. Als die Kalesche endlich am Cavendish Square vorfuhr, war sie daher derart müde, daß sie auf die besorgten Fragen ihrer Tante nur mechanisch höflich antworten konnte und sich zwingen mußte, gerade nur ein paar Bissen des noblen Soupers hinunterzuwürgen, das zu ihrer Erfrischung vorbereitet worden war. Mrs. Hendreds Freundlichkeit war nicht zu überbieten, noch der Ausdruck warmer Zuneigung, mit dem sie die Nichte begrüßte, die sie sieben Jahre lang nicht gesehen hatte. Sie streichelte sie innig und drängte ihr geradezu jede Aufmerksamkeit auf, geleitete sie persönlich in ihr Schlafzimmer, blieb bei ihr, während ihre eigene Kammerzofe Venetia bediente, und verlief? das Zimmer erst, nachdem sie Venetia eigenhändig warm im Bett eingemummelt, sie geküßt und ihr flüsternd versprochen hatte, sie sehr zu verwöhnen und ihr unzählige Vergnügungen zu bieten.
Mrs. Hendred war eine sehr hübsche Frau, höchst gutmütig und höchst dumm. Ihr Hauptzweck im Leben bestand darin, an der Spitze der Mode zu bleiben und für ihre fünf Töchter innerhalb möglichst kurzer Zeit vorteilhafte Partien zu finden, sobald sie jede dieser kleinen Damen, eine nach der anderen, in die Gesellschaft eingeführt haben würde. Gerade in diesem Jahr war ihr schon eine ausgezeichnete Verbindung für Louisa gelungen, und sie hoffte, es im kommenden Frühjahr nicht weniger gut für Theresa zustande zu bringen, vorausgesetzt, daß sich die Behandlung, die das Töchterchen derzeit beim Dentisten über sich ergehen ließ, als erfolgreich erwies, und sie sich nicht drei Vorderzähne ziehen und auf die Stümpfe falsche einschrauben lassen mußte; und weiter vorausgesetzt, daß vor ihrem Debüt ein Gatte für ihre wunderschöne Kusine Venetia gefunden werden konnte. Theresa war ein hübsches Mädchen und würde eine recht schöne Mitgift bekommen, aber Mrs. Hendred hegte keine Illusionen – Venetia mochte vielleicht durch ihre fünfundzwanzig Jahre im Nachteil sein, aber sie war nicht nur so wunderschön, daß sich die Leute auf der Straße nach ihr umdrehten und sie anstarrten, sondern sie hatte mehr Charme als alle Hendredtöchter zusammengenommen. Es gab gewisse Schwierigkeiten bei der Aufgabe, Venetia entsprechend zu verheiraten, wie Mrs. Hendred sich nur zu gut bewußt war, aber der Optimismus der guten Dame ermutigte sie zu der Hoffnung, daß sie mit Venetias Trümpfen der Schönheit, des Charmes und eines beträchtlichen Vermögens eventuell eine recht ansehnliche Verbindung für sie bewerkstelligen konnte. Sie hielt es für einen Jammer, daß Venetia Edward Yardleys Antrag abgelehnt hatte, denn es wäre genau das Richtige für sie gewesen, da Mr. Yardley ein warmherziger Mensch war und sich der Gunst ihres Vaters erfreut hatte. Sir Francis hatte Mrs. Hendred informiert, als er ihr vor Jahren geschrieben und das Angebot seiner Schwester, Venetia bei Hof vorzustellen, abgelehnt hatte, daß Venetias Heirat so gut wie abgemacht sei. Es dauerte nicht lange, bis sie Venetia davon erzählte, und ihre Bestürzung war groß, als sie erfuhr, daß Venetia weit davon entfernt war, überhaupt an eine Heirat zu denken, ja sogar mit dem festen Entschluß nach London gekommen war, für sich und Aubrey in einem stillen Teil der Stadt oder vielleicht sogar in einer der Vorstädte ein Haus einzurichten. Mrs. Hendred hätte nicht entsetzter sein können, hätte Venetia ihre Absicht bekundet, ins Kloster zu gehen, und sie bat sie höchst ernsthaft, alle derartigen Pläne aus ihrem Kopf zu verbannen. «Dein Onkel würde nie davon hören wollen!» sagte sie.
Venetia, die ihre Tante fast ständig komisch fand, mußte lachen, sagte aber liebevoll: «Liebste Ma'am, ich möchte Sie um nichts in der Welt betrüben, aber ich bin großjährig, wie Sie wissen, und ich fürchte, es liegt nicht in der Macht meines Onkels, mich daran zu hindern!»
Das Höchste, was ihr zu entringen war, war ein halbes Versprechen, nicht mehr an Häuser und Anstandsdamen zu denken, bis sie sich an das Stadtleben und die Stadtgebäude gewöhnt haben würde. Es wäre flegelhaft gewesen, das Haus ihrer Tante zu verlassen, kaum daß sie es betreten hatte, meinte Venetia – ebenso flegelhaft wie ihr zu verraten, wie wenig ihr an den wundervollen Plänen lag, die man für ihre Unterhaltung schmiedete. Mrs. Hendred, die das Landleben haßte, war zu fest entschlossen, die Jahre, die Venetia in Yorkshire verbracht hatte, gutzumachen, und war so aufrichtig und eifrig darauf bedacht, alles zu tun, was der Nichte vermutlich Freude machen würde, daß es Venetia sowohl Dankbarkeit wie gute Manieren unmöglich machten, der Tante auch nur anzudeuten, daß sie sich einzig danach sehnte, in Ruhe gelassen zu werden und allein sein zu können. Sie hatte das Gefühl, das Wenigste, was sie tun konnte, war, zu lächeln und zumindest nach außen hin so zu tun, als sei sie glücklich.
Sie entdeckte bald, daß in Mrs. Hendreds Glaubensbekenntnis Bequemlichkeit und Vergnügen gleich an zweiter Stelle hinter der Mode standen. Venetia hatte angenommen, daß sich Mrs. Hendred als Mutter einer zahlreichen Nachkommenschaft ständig mit mütterlichen Sorgen beschäftigen würde, und war zuerst erstaunt, als sie entdeckte, daß eine Frau, die vor sanfter Liebe derart überfloß, sich damit zufriedengeben konnte, ihre Kinder Erzieherinnen und Kindermädchen zu überlassen. Als sie ihre Tante besser kennenlernte, amüsierte sie sich bei der Erkenntnis, daß Mrs. Hendred zwar ein gutes Herz besaß, in ihrer eigenen Art jedoch genauso egoistisch war wie seinerzeit ihr exzentrischer Bruder Francis. Sie hatte zwar die Mitglieder ihrer Familie und einen großen Freundeskreis recht gern, aber ihre tiefsten Gefühle reservierte sie für sich selbst. Sie war von Natur aus träge, so daß eine halbe Stunde mit ihren Kindern zusammen das Höchste war, was sie zu ertragen vermochte, ohne durch das Geplapper total erschöpft zu werden. Selbst Theresa, knapp vor ihrem Debüt, tauchte mit ihrer nächstjüngeren Schwester nach dem Dinner nur dann im Salon auf, wenn keine Gäste da waren, denn Mrs. Hendred war davon überzeugt, daß es nur wenig Lästigeres gab als Familien, in denen es den Töchtern, die noch nicht gesellschaftsfähig waren, erlaubt wurde, sich unter die Gäste zu mischen. Was Mrs. Hendreds drei Söhne betraf, war der älteste in Oxford, der zweite in Eton und der jüngste im Kinderzimmer.
Mr. Hendred war trotz seiner schlechten Gesundheit selten länger als gerade nur einige Tage nacheinander am Cavendish Square und schien einen großen Teil seiner Zeit damit zu verbringen, daß er durch das Land kutschierte und Geschäfte privater oder öffentlicher Natur erledigte. Venetia hatte nicht den Eindruck, daß er an der Aufzucht seiner Sprößlinge oder der Führung seines Hauses sehr beteiligt war; doch wurde er von allen sehr respektiert, seine wenigen Befehle wurden sofort und blindlings ausgeführt und jede seiner überlieferten Äußerungen als Entscheidung jeglicher Streitfrage akzeptiert. Nachdem er Venetia in seinem Haus untergebracht und ihr gesagt hatte, daß sie sich um das Geld, das sie brauchte, an ihn wenden solle, überließ er es seiner Frau, sie zu unterhalten und beschränkte seine Aufmerksamkeiten darauf, hie und da seine Hoffnung auszudrücken, daß sie sich gut unterhielte.
Bis zu einem gewissen Grad unterhielt sie sich auch. Es wäre ja auch unmöglich gewesen, wenn sie bei ihrem ersten Besuch Londons keine Zerstreuung und nichts Interessantes gefunden hätte, wo ihr doch alles neu war und so vieles wunderbar erschien. Ihre Tante mochte ja wünschen, daß sie sie in die Oper oder zu Almack hätte führen können, und sagte dutzendmal in der Woche: «Wenn du doch nur während der Saison hiergewesen wärst ...!», aber der auf dem Land aufgewachsenen Venetia war es ein Rätsel, wieviel Vergnügen man noch hätte in Tage pressen können, die ohnehin schon mit Verpflichtungen vollgestopft waren. Zwar gab es zur Zeit nur wenig Leute der großen Gesellschaft in London, aber es waren doch genug Mitglieder des haut ton, die Mrs. Hendreds Meinung über das Landleben teilten, Anfang Oktober in Scharen in die Metropole zurückgekehrt, um für Venetia schon eine Menschenmenge zu sein, und es wurde eine sehr ansehnliche Zahl goldgeränderter Einladungskarten am Cavendish Square abgegeben. Selbst das schäbigste Theaterstück war für einen Menschen, der noch nie im Leben in einem Theater gewesen war, ein Vergnügen; eine Fahrt im Hyde Park ging kaum vorüber, ohne daß Mrs. Hendred Venetia auf irgendeine bedeutende Persönlichkeit aufmerksam machte; und ein Spaziergang durch die Bond Street, die mondänste Bummelstraße der Stadt, war voll von Interessantem und Unterhaltsamem, denn man begegnete hier sowohl den tonangebenden Leuten der Mode von erstaunlicher Eleganz, wie es auch hier bestimmt die schönsten Läden der Welt zu betrachten gab. Venetia war durchaus nicht so erhabenen Geistes, daß sie Mode verachtet hätte – sie besaß von Natur aus einen guten Geschmack, und die Kleider, die sie aus Yorkshire mitgebracht hatte, behoben die Ängste Mrs. Hendreds, daß Venetia am Ende eine Landpomeranze war, und hatten sogar der Kammerzofe einige Worte seltenen Lobes entlockt; aber Venetia war durchaus bereit, ihre Garderobe zu ergänzen, und fand sogar viel Vergnügen daran, sich nach dem letzten Schrei der Mode herauszuputzen. Auch an der Gesellschaft ihrer Tante fand sie dauerndes Vergnügen, denn da sie ihr ganzes Leben lang mit egoistischen Menschen zusammengelebt hatte, befremdete sie Mrs. Hendreds Entschlossenheit, sich durch nichts in ihrer Behaglichkeit stören zu lassen, durchaus nicht, sondern sie hielt die Tante weiterhin für komisch und hatte sie sehr gern. Aber hinter all ihrem Genießen lag ein dumpfer Schmerz, ein Unglücklichsein, nie vergessen, das manchmal zu brennender Qual wurde. Sie konnte Damerel nicht aus ihrem Sinn verbannen. Immer wieder dachte sie unwillkürlich daran, was sie ihm etwa über die St.-Pauls-Kathedrale erzählen würde, oder wie er lachen würde, wenn er hörte, daß Mrs. Hendred überzeugt war, eine strikte Abmagerungsdiät zu befolgen, wenn sie bei jedem Mahl einen Teller harten Zwiebacks neben sich niederstellen ließ, während sie so delikate Gerichte wie Trüffelpastete und Hummerpastetchen genoß. Während noch das spitzbübische Lächeln um Venetias Lippen zuckte, erinnerte sie sich, daß sie ja nie wieder einen Spaß mit ihm teilen würde, ihn vielleicht überhaupt nie wieder sehen würde, und dies stieß sie in eine derartige Verzweiflung, daß sie verstand, warum Leute wie der arme Sir Samuel Romilly Selbstmord begingen, und sie sie um ihre Flucht aus der Hoffnungslosigkeit beneidete. Sie lebte nur für Aubreys seltene Briefe, aber die brachten ihr wenig Trost. Er war ein schlechter Briefschreiber, und die Neuigkeiten, die er ihr mitteilte, betrafen hauptsächlich Undershaw. Wenn er Damerel erwähnte, dann nur, um zu erzählen, er sei mit ihm auf der Jagd gewesen oder hätte ihn dreimal nacheinander schachmatt gesetzt.
Sie war kein Mensch, der seine Gefühle zur Schau trug, und ließ sich weder zu Tränenfluten hinreißen noch zu Anfällen lethargischer Geistesabwesenheit. Nur der wehe Blick in ihren Augen verriet sie manchmal und verursachte ihrer Tante ein unbehagliches Gefühl.
Im großen und ganzen kam sie mit Mrs. Hendred sehr angenehm aus, und Mrs. Hendred war sehr erfreut über sie. Sie war eine aufmerksame Gefährtin; sie kleidete sich mit bewundernswert gutem Geschmack; ihre Manieren waren anmutig; und statt vor Fremden schüchtern und stumm zu sein, wie man es eigentlich erwartet hätte, war sie vollkommen sicher und konnte sich ebenso leicht mit einem klugen wie mit einem dummen Mann unterhalten.
Mrs. Hendred fand nur einen einzigen Punkt an ihrem Betragen auszusetzen, und das war ihr unheilbarer Unabhängigkeitsdrang. Nichts konnte sie davon überzeugen, daß es unpassend für sie sei, zu meinen, sie könne ihr Leben führen, ohne ältere Menschen zu Rate zu ziehen, und entschieden unschicklich, allein in London spazierenzugehen. Fast in jeder anderen Hinsicht war Venetia bereit, ihr nachzugeben und sich sogar ihrem Urteil zu beugen, aber auf ihre Freiheit verzichten wollte sie nicht. Sie ging allein einkaufen; sie ging allein in den Parks spazieren; und kaum hatte sie entdeckt, daß ihre Tante historische Denkmäler nur äußerst widerstrebend besuchte und sich für keine anderen Bilder interessierte als solche, die von Modemalern gemalt wurden, machte sie es sich schon zur schrecklichen Gewohnheit, nachmittags, während Mrs. Hendred durch ein friedliches Nickerchen auf ihrem Bett wieder ihre Kräfte sammelte, aufzubrechen und in einer Droschke zur Westminsterabtei oder zum Tower oder sogar zum Britischen Museum zu fahren.
«Was, von anderen Überlegungen ganz abgesehen, genügt», sagte Mrs. Hendred tragisch, «daß dich jeder für einen Blaustrumpf hält! Und etwas Fataleres gibt es einfach nicht!»
Dieses Gespräch fand beim Mittagstisch statt, und Venetia, die höchst erstaunt die außerordentlichen Grimassen beobachtete, die ihre Tante jedesmal zog, wenn sie einen Schluck Wein nahm, rief aus: «Meine liebste Ma'am, sind Sie auch sicher, daß mit dem Sherry, den Sie da trinken, alles in Ordnung ist?»
Während sie noch sprach, fiel ihr Blick zufällig auf den Butler. Er war ein Individuum mit steinernem Gesicht, aber bei Venetias Worten zuckte es verräterisch. Dieses Phänomen erklärte sich unverzüglich, als Mrs. Hendred mit einem tiefen Seufzer sagte: «Kein Sherry, Liebste – Essig!»
«Essig?!» wiederholte Venetia ungläubig.
«Ja», nickte ihre Tante und betrachtete das Glas verzweifelt. «Bradpole mußte mein Lavendelfarbenes auslassen – das mit dem französischen Leibchen und der Schleppe mit dem französischen Doppelbesatz und dem Spitzennetz rund um den Hals herum – gleich um zwei Zoll! Ich muß abnehmen, und da geht nichts über Essig. Essig und Zwieback. Byron lebte auch bei Diät, weißt du, weil er sehr stark dazu neigte, anzusetzen, und auf diese Weise hielt er sich in Form.»
«Ich staune, daß er sich damit nicht umgebracht hat! Tante, er kann sich doch unmöglich von einer solchen Diät ernährt haben!»
«Man sollte es wirklich nicht für möglich halten», stimmte ihr Mrs. Hendred zu, «aber das hat mir Rogers bestimmt erzählt. Gleich das erste Mal, als er mit Rogers speiste, wollte er nicht von dem nehmen, was man ihm vorsetzte, sondern aß nur harten Zwieback – oder waren es Kartoffeln? Ich bin in dem Punkt nicht ganz sicher, aber ich weiß, daß er Essig dazu trank.»
«Doch nicht trank!» protestierte Venetia.
«Na ja, essen konnte er ihn doch wohl nicht, also muß er ihn einfach getrunken haben!» erklärte Mrs. Hendred sehr verständig.
«Vielleicht hat er ihn über sein Essen gegossen. Er wäre doch entsetzlich krank geworden, wenn er ihn gläserweise getrunken hätte!»
«Meinst du, daß ich das tun soll?» fragte Mrs. Hendred und betrachtete etwas zweifelnd die Fruchtlikörcreme auf ihrem Teller.
«Das meine ich bestimmt nicht!» sagte Venetia lachend. «Ich bitte Sie sehr, lassen Sie doch Worting das Zeug wegnehmen, liebste Ma'am!»
«Ich muß ja sagen, ich glaube auch, daß es diese Creme ganz verderben würde. Vielleicht genügt es auch, wenn ich lieber ein Stück Zwieback dazu esse. Worting, Sie können mir noch von der Creme nachservieren und dann können Sie gehen, denn ich brauche nichts mehr, außer den Makronen, und die können Sie auf dem Tisch stehen lassen. Meine Liebste, du solltest eine nehmen, denn sie sind ausnehmend gut, und du hast kaum einen Bissen gegessen!»
Um ihr den Gefallen zu tun, nahm Venetia eine Makrone und knabberte an ihr, während sich ihre Tante wieder der Aufgabe zuwandte, sie zu überzeugen, daß junge Damen der guten Gesellschaft niemals einsame Ausflüge unternehmen dürfen. Venetia ließ sie in ihrer sprunghaften Art weiterreden, denn sie konnte ihr nicht sagen, daß sie Sehenswürdigkeiten ja nur in dem hartnäckigen Versuch besuchte, ihren Geist zu beschäftigen, ebensowenig wie sie ihr sagen konnte, daß sie nie allein war. Denn immer ging ein Geist neben ihr einher, unhörbar und unsichtbar, und trotzdem so lebendig, daß sie manchmal das Gefühl hatte, sie brauchte nur die Hand auszustrecken und würde die seine finden.
«Und es ist ja so besonders wichtig, meine Liebste, daß gerade du dich mit dem alleräußersten Anstand benimmst!» fuhr Mrs. Hendred fort.
«Warum?» fragte Venetia.
«Jede unverheiratete Dame muß das doch tun, und in deiner Situation, Venetia, kannst du nicht sorgfältig genug darauf achten, was du tust! Meine Liebe, wenn du die Welt kennen würdest wie ich, was man von dir natürlich nicht erwarten kann, und ich bin überzeugt, du hast keine Ahnung, wie gehässig die Leute sein können, besonders wenn ein Mädchen so sehr schön ist und gerade so – ich meine, so wirklich auffallend schön!»
«Nun, ich glaube nicht, daß jemand etwas sehr Gehässiges über mich sagen kann, nur weil ich allein ausgehe», antwortete Venetia. «Jedenfalls nichts, woran mir etwas läge.»
«Oh, Venetia, ich flehe dich an, rede nicht so! Bedenke nur, wie gräßlich, wenn du den Leuten Ursache gäbst, von dir zu sagen, daß du dich zu frei benimmst! Du kannst dich darauf verlassen, sie liegen nur auf der Lauer nach dem geringsten Zeichen, und sind bereit, über dich herzufallen, und es ist schließlich auch kein Wun der! Ich muß sagen, ich täte es ja selbst, natürlich nicht über dich, mein liebes Kind, aber über jedes andere Mädchen in deiner Situation!»
«Aber was ist denn an meiner Situation so Besonderes, daß die Leute gern über mich herfallen möchten?» fragte Venetia.
«O Liebste, ich wollte, du würdest nicht immer – du bringst mich direkt in Verlegenheit. Daß du nur mit Aubrey gelebt hast, ich meine, ohne Anstandsdame – und – heiliger Himmel, Venetia, selbst du mußt doch wissen, daß das einfach nicht das richtige ist!»
«Das weiß ich zwar nicht, aber ich weiß etwas Besseres, als mit Ihnen über diesen Punkt zu streiten, Ma'am! Ich bin überzeugt, daß es sehr viele Leute gibt, die Ihrer Meinung wären, aber wie kann irgendwer in London wissen, wie meine Situation in Undershaw war? Sicher haben jedenfalls Sie nie darüber gesprochen!»
«Nein, nein, wirklich nie! Aber – nun, solche Dinge werden eben bekannt, ich weiß wirklich nicht wie, aber du kannst es mir glauben, sie werden es!»
Aber da Venetia unmöglich glauben konnte, daß die Art, wie man in Undershaw lebte, in London bekannt war, beeindruckten sie die düsteren Warnungen ihrer Tante durchaus nicht. Zum Glück war es nicht schwer, Mrs. Hendred abzulenken; statt daher mit ihr zu debattieren, ergriff sie die erste Gelegenheit, die sich bot, schlug ein neues Gesprächsthema an und sagte, sie habe erst heute vormittag jemanden in Hookhams Bücherei sagen hören, der es angeblich von dem besten Gewährsmann hatte, die Ärzte der Königin erwarteten nicht, daß sie die Woche überleben würde. Da es Mrs. Hendreds ständiger Albtraum war, Ihre Majestät – von der jedermann wußte, daß sie zäh wie Leder war – würde den Winter überleben und alle Chancen Theresas ruinieren, wenn sie mitten in der nächsten Saison stürbe, hatte dieser Schachzug Venetias großen Erfolg. Während also Mrs. Hendred hoffte, zweifelte und rätselte, wie lange der Hof – und natürlich die gute Gesellschaft – Trauer tragen würden, vergaß sie für den Augenblick, daß es ihr mißlungen war, ihrer eigenwilligen Nichte jegliches Versprechen eines passenden Benehmens zu entringen.
Die Königin starb in den frühen Morgenstunden des 17. November in Kew. Mr. Hendred brachte seiner Frau diese Nachricht, und sie trug viel dazu bei, ihre Laune zu heben, die durch das unverschämte Benehmen ihrer Schneiderin sehr tief gesunken war. Diese hatte statt eines versprochenen Promenadekleides einige verlogene Zeilen voller Entschuldigungen abgeliefert, daß es ihr unmöglich gewesen sei, ihrer Verpflichtung nachzukommen.
Das einzige, was Mrs. Hendred an der Neuigkeit zu bemängeln hatte, war, daß die Königin am 17. statt am 18. November starb, denn der 17. war der Tag, an dem sie den Ball zu Ehren Venetias hatte geben wollen. Es hätte kaum etwas Aufreizenderes passieren können, denn alle Vorbereitungen waren schon getroffen worden, und nachdem sie sich so angestrengt und mit dem französischen Koch das Souper beraten, mit Worting über den Champagner gesprochen, beschlossen, was sie tragen würde, und Venetia gezeigt hatte, wie die Einladungen zu adressieren seien, war es doch zu schlimm, daß das alles für nichts und wieder nichts gewesen sein sollte. Aber nachdem sie sich gefragt hatte, was mit all den Cremes und Aspiks und dem gefüllten Geflügel geschehen solle, kam ihr der glückliche Einfall, wenigstens einige der Ballgäste einzuladen, zu einem Dinner, ganz inoffiziell natürlich, und zu einem ruhigen gesprächigen Abend, vielleicht mit ein paar Partien Whist, jedoch keinerlei Musik.
«Nicht mehr als ein halbes Dutzend Leute, denn mehr würden schon nach Gesellschaft ausschauen», sagte sie zu Venetia. «Das ginge unter keinen Umständen. Meine Liebe, das erinnert mich – schwarze Handschuhe! Du hast sicher keine, du mußt sie dir sofort besorgen! Auch schwarze Bänder, und ich glaube, du solltest ein hochgeschlossenes Kleid tragen, kein tiefes Dekolleté – und ich werde keine jungen Leute einladen. Gerade nur einige meiner wichtigsten Freunde! Was hältst du von Sir Matthew Hallow? Ich bin überzeugt, er wäre begeistert, hier zu dinieren, und du magst ihn doch, nicht, mein Liebes?»
«Ja, sehr», antwortete Venetia geistesabwesend.
«Er ist ein höchst vortrefflicher Mann – ich wußte doch, er würde dir gefallen, und du ihm! Er bewundert dich außerordentlich – das habe ich doch gleich auf den ersten Blick gesehen!»
«Nun, solange er nicht darauf verfällt, mir widerliche Komplimente zu machen – was er aber nicht im geringsten beabsichtigt, glaube ich –, kann er mich bewundern, soviel er mag», sagte Venetia geradezu deprimierend.
Mrs. Hendred seufzte, sagte aber nichts mehr. Sir Matthew Hallow, obwohl nicht ganz der ideale Mann für Venetia, hatte viel, was für ihn sprach, und Mrs. Hendred war sehr froh gewesen, als sie sah, wie sich Venetia und er angefreundet hatten. Er war vielleicht fast zu alt für sie, und es war ein Jammer, daß er ein Witwer war, aber er schien eine Vorliebe für sie gefaßt zu haben, und obwohl man von ihm allgemein annahm, er habe sein Herz mit seiner Frau zusammen begraben, bestand kein Zweifel, daß ihn Venetias Schönheit sehr beeindruckte und er ihre Gesellschaft angenehm fand.
Er war jedoch nicht der einzige mögliche Gatte, den Mrs. Hendred für ihre Nichte gefunden hatte, daher war sie durch Venetias mangelnde Begeisterung nicht übermäßig niedergeschlagen. Sie beschloß, auch Mr. Armyn zum Dinner einzuladen – er wußte alles über römische Ruinen oder so irgend etwas und konnte eventuell gerade zu einem Mädchen passen, das drei geschlagene Stunden im Britischen Museum verbrachte und sich aus den Bücherborden der Leihbibliothek ein Buch über das Mittelalter aussuchte.
Venetia schien Mr. Armyn gut leiden zu können – sie sagte, er habe einen wohlgebildeten Geist. Sie mochte auch zwei andere heiratsfähige Junggesellen gut leiden und stimmte Mrs. Hendred zu, daß der eine sehr gewandt und der andere äußerst gentlemanlike war. Mrs. Hendred neigte stark dazu, in Tränen auszubrechen, und hätte es wahrscheinlich auch getan, hätte sie gewußt, daß es Venetia aufgegeben hatte, Sehenswürdigkeiten zu besichtigen, und jeden Nachmittag der Suche nach einem Haus widmete.
Sie entdeckte, daß das eine höchst ermüdende und deprimierende Aufgabe war. Aber sie hatte nun schon einen ganzen Monat bei ihrer Tante gelebt und hegte nicht nur das Gefühl, daß ein Monat eine sehr vernünftige Dauer eines Besuches darstellte, sondern sehnte sich immer stärker danach, ihren eigenen Haushalt einzurichten. Vielleicht würde sie, wenn sie die ganze Zeit etwas zu tun hatte – wie sie das vorhatte –, nicht so unglücklich sein. Vielleicht konnte sie ihre Liebe über den unvermeidlichen Haushaltssorgen vergessen oder sich zumindest an die Trostlosigkeit gewöhnen, wie sich Aubrey an sein Hinken gewöhnt hatte.
Als sie eines Nachmittags von einem dieser Ausflüge zurückkam, informierte sie der Lakai, der ihr die Tür öffnete, daß ein Gentleman sie besuchen gekommen sei und mit Mrs. Hendred im Salon sitze. Venetia stand wie angewurzelt da und spürte, wie ihr Herz aussetzte.
«Ein Mr. Yardley, Miss», sagte der Lakai.