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Damerel hatte sich zwischen Venetia und die Tür gestellt, aber diese Vorsicht erwies sich sofort als unnötig. Aubrey sah höchst erregt aus, seine schmalen Wangen waren hochrot und seine sonst eher kalten Augen funkelten. Sein Interesse an den Mitmenschen war schon in seiner besten Laune nur oberflächlich; wenn ihn aber Zorn in den Klauen hielt, kümmerten sie ihn überhaupt nicht, und es wäre ihm kaum aufgefallen, wenn er seine Schwester in Damerels Armen angetroffen hätte. Als er die Tür schloß, sagte er mit einer brüchigen Stimme: «Bestimmt wirst du es gern hören, Venetia, daß die Kaiserin einen neuen Ukas ergehen ließ! Die Hunde – meine Hunde! – müssen in Zukunft an der Kette gehalten werden. Alle, außer Bess hier, die zu wild ist, daß man sie überhaupt behalten kann. Sieh dich vor, Jasper – siehst du denn nicht, was für ein bösartiges Vieh sie ist?»
Damerel, der die Vorstehhündin sanft an den Ohren zog, während sie graziös mit dem Schwanz wedelte und geradezu idiotisch selig dreinschaute, lachte und sagte: «Was hat sie denn angestellt?»
«Die Nachfolge gefährdet!» sagte Aubrey bissig. «Sie kam ins Haus – natürlich um mich zu suchen –, und als Charlotte sie am Fuß der Treppe liegen sah, war sie derart erschreckt und entsetzt, daß sie aufkreischte, worauf Bess den Kopf hob und sie anstarrte – was durchaus verständlich ist!»
«O Himmel!» seufzte Venetia. «Ich weiß, Charlotte liegt nichts an Hunden, aber wenn das alles ist, was passierte ...»
«Alles? Das war nur der Anfang von Bess' wütender Attacke! Du mußt verstehen, mein Liebes, daß ihr starrer Blick Charlotte an eine wilde Bestie erinnern mußte! Charlotte wußte nicht, was anfangen, so entschloß sie sich zum Rückzug – rückwärts gehend und verstohlen! Worauf Bess natürlich neugierig wurde – was ihr nicht zu verdenken ist –, aufstand und ihr nachging. Darauf kreischte Charlotte ernstlich, flüchtete hinter einen Stuhl, Bess folgte ihr. Mrs. Scorrier stürzte aus dem Frühstückszimmer, um zu entdekken, welcher Schurke ihr Kind vergewaltigen wollte, schimpfte auf Bess und schlug mit dem Zeug nach ihr, das sie in der Hand hielt – wie nennt ihr das? Stickrahmen? Natürlich fing Bess zu bellen an, Charlotte kriegte einen hysterischen Anfall und ...»
«Aubrey, wie hast du das aber auch nur zulassen können?» rief Venetia, zwischen Ärger und Erheiterung schwankend. «Das war wirklich zu schlimm von dir!»
«Du irrst – ich war gar nicht dabei. Was ich hier erzähle, erfuhr ich aus dem Mund der betrübten Damen.» Er grinste seine Schwester höhnisch an. «Ich war ganz dein braver kleiner Bruder, mein Liebes! Als ich die Arena betrat, fand ich Charlotte in einen Stuhl hingegossen, Mrs. Scorrier schwenkte ihr ein Riechfläschchen vor der Nase, und Bess hielt das Pärchen in Schach, wedelte aber, um zu zeigen, daß sie es zwar nicht schlucken würde, aus ihrem eigenen Haus gejagt zu werden, aber zu gut erzogen sei, um zu beißen. Ich hielt es für völlig nutzlos, sie auf die Kaiserin zu hetzen, rief sie daher ab. Ich beruhigte sogar diesen Angsthasen, das kleine Nichts, sie brauche keine Angst zu haben, aber alles, was ich dafür einheimste, waren Beschimpfungen seitens der Kaiserin. Ich hätte Bess ins Haus gebracht, nur um Charlotte zu erschrecken; meine Manieren, mein Charakter und meine Veranlagung passierten höchst ungünstig Revue, während Charlotte blökte <Oh, bitte, Mama! O nein, Mama!> Ich glaube, ich habe es mit ziemlich guter Haltung über mich ergehen lassen. Erst als die Kaiserin anfing, von Charlottes delikatem Zustand zu reden, konnte ich einfach nicht widerstehen – selbst wenn ich es versucht hätte, was ich aber erst gar nicht tat. Sie sagte, daß ich ihn vielleicht nicht erkenne, worauf ich antwortete, doch, denn Bess sei in derselben interessanten Verfassung. Einen paradiesischen Augenblick lang dachte ich schon, der Schlag würde sie treffen.»
«Du Teufel!» sagte Venetia und versuchte, das Lachen zu unterdrücken.
«Ja, und was schlimmer ist, ein Teufel, der sich einbildet, weil er ein Krüppel ist, könne er sich alles erlauben», sagte Aubrey in aalglattem Ton. «Oh, schau nicht so drein, Dummes! Bildest du dir etwa ein, ich hätte nicht von Anfang an gewußt, wie gräßlich mein Hinken dem Pärchen ist? Das nehme ich ihnen wirklich nicht übel – aber Nurse tut's! Inzwischen nämlich war sie heruntergelaufen gekommen, um zu sehen, was die Ursache der ganzen Aufregung sei. Du hast einen Heidenspaß versäumt, mein Liebes! Sie sagte der Kaiserin, sie solle sich was schämen; Charlotte sagte sie, sie solle sofort aufhören, einen derartigen Wirbel wegen nichts und wieder nichts zu veranstalten; und mir sagte sie, ich solle weggehen, bevor ich vergäße, daß zumindest ich besser erzogen worden sei, als einen derartig garstigen, vulgären Aufruhr in dem Haus eines Edelmannes zu veranstalten!»
«Das war der unfreundlichste Hieb von allen!» bemerkte Damerel. «Ich würde auf eure Nurse gegen fünfzig Mrs. Scorriers setzen!»
«Nun, der Ausgang war noch unentschieden, als ich ging, aber ich bin überzeugt, Nurse wird siegen», stimmte ihm Aubrey zu. «Der Clou der Sache ist, daß gerade sie, die es kritisiert, wenn sogar ihr Liebling Conway seine Hunde ins Haus mitbringt, in die Luft ging, als die Kaiserin verkündete, sie würde mir nicht erlauben, Bess zu behalten, falls ich sie nicht in den Zwinger täte, da das Biest ganz offenkundig gefährlich sei! Sie war so unvorsichtig, mir zu befehlen, sie sofort an die Kette zu legen, und zu fragen, ob ich sie nicht gehört hätte, als ich dem ganzen monströsen Aufruhr den Rücken kehrte und Bess mit mir über den Gang in mein eigenes Zimmer führte. Das letzte, was ich von dem Schlachtgetümmel hörte, war Nurse, die zu wissen wünschte, welches Recht sich eigentlich die Kaiserin völlig fälschlicherweise herausnehme, einem Lanyon von Geburt in seinem eigenen Haus zu diktieren.»
«O Himmel!» seufzte Venetia. Sie blickte mit einem leicht schüchternen Lächeln Damerel an. «Ich muß gehen und tun, was ich kann, um den Streit zu schlichten. Nurse wird anfangen, aus dem Buch der Sprüche zu zitieren – das hat sie erst gestern mir gegenüber getan, alles über zänkische und streitsüchtige Weiber, und wieviel besser es sei, in dem obersten Winkel des Hauses zu weilen – obwohl sie kaum damit einverstanden wäre, wenn dieser Winkel die Mansarden bedeutet!»
«Sei doch kein Schwachkopf!» unterbrach sie Aubrey scharf. «Laß sie doch diesem Zankteufel sagen, was sie will! Um so besser, wenn sie uns von der befreien kann!»
«Ja, wenn sie das bloß könnte! Aber Mrs. Scorrier würde nie zulassen, bei Nurse den kürzeren zu ziehen! Und wenn Nurse beleidigend wird – wie schwierig für uns!»
«Willst du damit sagen, du wirst dem Weib sagen, daß die Hunde an der Kette bleiben werden?» fragte er, und seine Wangen wurden vor Zorn noch röter. «Ich warne dich fairerweise, Venetia, wenn du das tust, dann sperre ich Flurry in ihr Schlafzimmer und gebe ihr ihre beste Haube zum Spielen!»
«O Liebster, führe mich ja nicht in Versuchung!» sagte sie spitzbübisch. «Natürlich denke ich nicht daran, so etwas zu tun. Aber ich halte es nur für gerecht, ihr zu versprechen, daß du die Hunde nur in diesen Raum bringen wirst. Es ist unsinnig von Charlotte, sich derart vor ihnen zu fürchten, aber – oh, Aubrey, wir müssen einfach daran denken, daß das jetzt ihr Haus ist, und nicht unseres!»
«Daran denken! Wann dürfen wir es je vergessen?» fuhr er sie an. Darauf sagte sie nichts, sondern wandte sich zur Tür. Damerel öffnete sie für sie und sagte, als sie einen Augenblick stehenblieb und stumm fragend zu ihm aufschaute: «Das ist ausschlaggebend, glaube ich. Ich komme Sie morgen wieder besuchen, aber ich fürchte, nicht vor Mittag. Ich wollte Ihnen sagen – aber das ist jetzt unwichtig. Mein Kommissionär ist in der Priory – ich habe den größten Teil des Tages mit ihm konferiert und dürfte das morgen wieder den ganzen Vormittag müssen. Es ist wichtig, denn sonst ließe ich ihn zum Teufel gehen. Aber wie die Dinge stehen ...» er hielt inne und lächelte leise – «wie die Dinge stehen, muß ich ihn ertragen. Lassen Sie sich nicht von diesem Weibsstück zu Tode ärgern!»
Sie schüttelte den Kopf, sein Lächeln spiegelte sich in ihren Augen, und sie lief durch das Vorzimmer fort.
Er schloß die Tür, wandte sich um und betrachtete nachdenklich Aubrey, der zum Kamin gegangen war und wütend die Scheite aufschürte, daß sie sprühten. Er schaute von dieser Beschäftigung nicht auf, aber als spürte er, daß er beobachtet wurde, sagte er streitsüchtig: «Es war nicht meine Schuld!»
«Na, jetzt fang nur nicht an, auch noch mich anzufauchen!» antwortete Damerel. «Ich habe es ja gar nicht behauptet. Hör auf, dich wegen nichts und wieder nichts aufzuregen!» Aubrey schaute ihn an, den Mund verkniffen, zwei tiefe Falten zwischen den Brauen. «Einfaltspinsel!» sagte Damerel mit freundlichem Spott in den Augen.
Aubrey lachte kurz auf. «Ich gäbe was dafür, wenn ich dabei sein könnte, sobald sie einmal Conway sagt, sie wolle seine Hunde nicht im Haus haben! Und was Charlotte betrifft, die täte gut daran, sich an sie zu gewöhnen, denn es ist unwahrscheinlich, daß sie ihn je ohne mindestens drei an den Fersen erblickt. Und noch dazu sind Conways Hunde die schlechtest dressierten in der ganzen Grafschaft und infernalische Ekel! Er läßt sie auf die Stühle springen und füttert sie bei Tisch mit Fleischbrocken. Ich lasse mir meine Hunde jedenfalls nicht auf der Nase herumtanzen! Oh, Hölle und Teufel, verfluchter Hornochse, der er ist!»
«Komm in die Priory zurück, und wir werden ihn miteinander verfluchen», lud ihn Damerel ein. «Ich habe noch einige schlimmere Wörtchen auf meiner Zunge für ihn!»
Aubrey grinste, schüttelte aber den Kopf. «Nein, so schäbig bin ich nicht! Ich wünschte zu Gott, ich wäre wirklich wieder in der Priory, aber ich habe dir schon gesagt, ich drücke mich nicht.»
«Nun, ich versuche es nie, mit Mulis einen Pakt zu schließen, also drücke ich mich lieber selbst», sagte Damerel achselzuckend, nahm Hut und Reitgerte von dem Stuhl, auf den er sie gelegt hatte. «Hasta manana, du störrischer junger Hund!»
Aubrey schaute ihn schnell an, schien zu zögern und sagte dann: «Machst du Schluß mit mir? Ich wollte nicht ...»
«Nein, mache ich nicht – Dummkopf!» antwortete Damerel und lachte ihn an. «Spiel den Puffer, wenn du glaubst, daß du mußt – ich wette, ich würde an deiner Stelle dasselbe tun.»
Er ging, Aubrey setzte sich nach einiger Zeit zum Schreibtisch und ließ seinen Verdruß daran aus, ein giftiges lateinisches Epigramm zu verfassen. Nach einigen unbefriedigenden Versuchen gelangen ihm vier präzise, prächtig pöbelhafte Zeilen, die ihn so erfreuten, daß er sich in einer Stimmung von fast schmeichelnder Nachgiebigkeit zum Abendbrot setzte. Als Mrs. Scorrier ihn informierte, daß sie, solange er sein Benehmen nicht bereue, es ablehnen müsse, ihn zu bemerken, gönnte er ihr bloß ein flackerndes Lächeln, bevor er sich mit ungewöhnlichem Appetit an sein Dinner machte.
Es wurde nur wenig gesprochen, da Mrs. Scorriers Wutausbruch ein majestätisches Schmollen und Charlottes hysterischem Anfall eine nervöse Niedergeschlagenheit gefolgt war, in der sie auf jede Bemerkung, die an sie gerichtet wurde, furchtsam und atemlos antwortete, was jeden weiteren Versuch entmutigte, ihren Geist von geradezu krankhafter Versunkenheit abzulenken. Als sie sich von der Tafel erhob, entschuldigte sie sich mit heftigen Kopfschmerzen und ging zu Bett. Da Venetia eine Einladung Aubreys annahm, Billard zu spielen, blieb Mrs. Scorrier sich selbst überlassen und konnte ihren Groll in Einsamkeit genießen. War es ein Ergebnis dieser Behandlung oder geschah es aus der unausbleiblichen Erkenntnis, sie würde damit, daß sie die Lanyons schnitt, niemand anderen als Charlotte bekümmern – jedenfalls tauchte sie am nächsten Morgen mit einem derart entschlossenen Lächeln und einem so unerschöpflichen Dahinplätschern liebenswürdiger Gemeinplätze auf, daß man hätte annehmen können, sie hätte einen totalen Gedächtnisschwund erlitten. Venetia ließ sich zwar nicht täuschen, denn das Glitzern in den Augen Mrs. Scorriers strafte ihr Lächeln Lügen, aber sie antwortete auf alles, was zu ihr gesagt wurde, mit einer geistesabwesenden Höflichkeit, viel zu sehr mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt, um zu merken, daß ihre Geistes abwesenheit Mrs. Scorrier ebenso unbehaglich war wie sie sie zornig machte. Es wurde ihr klar, daß sie in ihrem Eifer, Charlottes Oberhoheit in Undershaw zu sichern, zu weit gegangen war. Sie wollte zwar Undershaw von Venetia und Aubrey befreien, aber nicht unter Umständen, die sie und Charlotte verhaßt machen mußten. Sie hatte die schmerzliche Erfahrung machen müssen, daß die Tochter, die sie in all ihrer anmaßenden Art aufrichtig gern hatte, sich nicht der nächsten Verwandten zuwandte, die ihre Schlachten für sie schlug, sondern dem abscheulichen alten Weib, das ihr drohte, einen Krug kalten Wassers über sie zu schütten, wenn sie nicht sofort ihre hysterischen Tränen unterdrücke. Es war Mrs. Scorrier noch nie in den Sinn gekommen, sie könnte die Lanyons vertreiben, nur um zu entdecken, daß Charlotte, statt dankbar zu sein und Conway zu überzeugen, deren Unfreundlichkeit habe sie elend gemacht, sich gerade auf die Seite der Lanyons stellen und sehr viel wahrscheinlicher Conway erzählen würde, sie hätte nichts mit deren Vertreibung zu tun gehabt.
Als sie entdeckte, daß Venetia selbst auf Ihre Komplimente nicht ansprach, lächelte sie noch breiter als vorher und zwang ihre unwillige Zunge dazu, die unwiderstehliche Herausforderung des mütterlichen Instinkts zu beschreiben, der zur Unterstützung eines geliebten Kindes herbeigeeilt war. Das Ergebnis dieser großmütigen Geste war enttäuschend, denn nachdem Venetia sie eine ganze Minute lang verständnislos angestarrt hatte, war alles, was sie sagte: «Ach so – Bess! Die arme Charlotte! Ich hoffe so sehr, daß es ihr gelingen wird, ihre Angst vor Hunden zu besiegen. Conways Hunde sind immer so lärmend und unbändig, daß ich fürchte, ihr Leben wird elend werden, wenn ihr das nicht gelingt.»
Daraufhin ging sie fort, und als nächstes hörte man sie Ribble sagen, er möge Nachricht in die Ställe schicken, daß die Stute vorgeführt werde. Aus dem, was Mrs. Scorrier sie gleich darauf zu Aubrey sagen hörte, entnahm sie, daß Venetia irgendeinen Pächter oder Bediensteten besuchen würde, der das Opfer eines ungenannten Unfalls geworden war; und das vertiefte ihren Groll, denn sie hatte das Gefühl, daß es Charlotte zukam, die Rolle der gnadenspendenden Herrin zu spielen; und sie hätte sehr gern ihre Tochter in der Kutsche begleitet, den Armen und Bedürftigen Trost zu spenden, guten Rat den Leichtsinnigen zu erteilen und im allgemeinen allen Leuten Conways zu zeigen, wie ihnen die Arbeit am vorteilhaftesten von der Hand ginge.
Hätte sie nur geahnt, daß weder Barmherzigkeit noch Rat dem betroffenen Haus genehm gewesen wären! Dessen Vorstand war in Wirklichkeit ein ehrenwerter Farmer, und der Unfall, den sein jüngster Sohn erlitten hatte, ein rüstiger junger Mann von etlichen zehn Lenzen, bedurfte weder der Gelees noch stärkender Süppchen, sondern eher – in der Meinung seines erzürnten Vaters – einer sehr anderen Behandlung, denn er hatte sich nur den Arm gebrochen, und das durch einen Akt tollkühnen Ungehorsams. Venetias Besuch war reine Höflichkeit, und sie hätte ihn vielleicht gar nicht gemacht, wäre sie weniger nervös oder eher imstande gewesen, die Beschwerden der verschiedenen Mitglieder des häuslichen Stabs in Undershaw zu ertragen, die keinen Tag verstreichen ließen, ohne ihre Hilfe gegen die Übergriffe Mrs. Scorriers anzurufen.
Aubreys Überfall bei einer Szene, die sie und Damerel allein anging, hatte sie nicht sehr gestört, obwohl sie den Bruder anderswohin gewünscht hätte. Sie war ja gezwungen gewesen, sich sofort mit einer Krise völlig anderer Art auseinanderzusetzen. Erst viel später kam sie dazu, alles, was sich in der Bibliothek abgespielt hatte, zu überlegen und sich zu fragen, was wohl für eine Bedeutung hinter einigem steckte, das Damerel zu ihr gesagt hatte. Sie zweifelte genausowenig daran, daß sie geliebt wurde, wie daran, daß die Sonne morgen wieder aufgehen werde. Als sie aber dann im Bett lag, wurde ihr tiefer Frieden, zu dem weder der häusliche Krach noch Mrs. Scorrier vorzudringen vermochten, von einem bösen Vorgefühl aufgestört, zunächst so leise, daß es kaum erkennbar war, das aber allmählich die Zufriedenheit in eine vage Unruhe verwandelte. Damerel hatte nichts gesagt, was sie nicht einer skrupelhaften Mannesehre hätte zuschreiben können, zu nichtig, um es nicht leicht zu überwinden. Während sie aber noch über die männliche Torheit lächelte, blitzte einen sengenden Augenblick lang die Angst in ihr auf, daß Damerels Zögern, sich zu binden, anders interpretiert werden konnte. Sie verschwand genauso schnell wieder, als sich Venetia der Zärtlichkeit erinnerte, die, wie ihr Instinkt sagte, weit entfernt von der flüchtigen Lust eines liederlichen Mannes war. Das sonderbare Gefühl war grundlos, entweder den irrationalen Zweifeln eines ermüdeten Gehirns entsprungen oder der abergläubischen Angst der Menschen vor den unbekannten boshaften Göttern, deren Spaß es ist, das Glück der Sterblichen zunichte zu machen.
Am Morgen ließen diese Ängste nach. Die Nacht war stürmisch gewesen. Als Venetia von ihrem Fenster aus auf die welken Blätter hinausblickte, die in Streifen über den Rasen geweht wurden, dachte sie, es müßten das traurige Heulen des Windes und die Regenschauer gewesen sein, die gegen die Fensterscheiben schlugen, was sie wachgehalten und sie dazu verführt hatte, morbiden Gefühlen nachzuhängen. Damerel würde nach Undershaw kommen, und das nächtliche Bedrücktsein war nichts als düstere Phantasterei gewesen, der Müdigkeit durch die Elemente aufgezwungen. Dann erinnerte sie sich, daß er gesagt hatte, er müsse sich geschäftlichen Angelegenheiten widmen, die ihn den ganzen Vormittag daheim festhalten würden, und wurde wieder mutlos, bis ihr schließlich einfiel, daß er ja seinen Kommissionär in die Priory berufen hatte. Es war wahrscheinlich ein Rechtsanwalt, und er war bestimmt von London gekommen, um Damerel zur Verfügung zu stehen, und ihm würde sicher auch viel daran liegen, die Angelegenheit, welcher Art auch immer, so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Damerel würde ebenfalls wohl kaum wünschen, ihn länger als nötig im Yorkshire herumsitzen zu lassen. So redete sie sich den Gedanken aus, daß Damerel, wenn er so sehr in seiner Liebe aufging, wie sie es von ihm annahm, sich durch kein noch so wichtiges Geschäft so viele Stunden lang von ihr fernhalten lassen würde. Aber die Heiterkeit, die sie wie ein warmer Mantel eingehüllt hatte, war aufgestört. Sie entdeckte, daß sie in Frage stellte, woran sie bisher noch nie gezweifelt hatte. Es war ihr unmöglich, an irgend etwas anderes als an ihr eigenes Problem zu denken, ihre Ungeduld zu bezähmen oder zu dulden, daß die Bemühungen Mrs. Scorriers oder Mrs. Gurnards in ihr Bewußtsein drangen.
Der Hof, zu dem sie ritt, lag in einem entfernten Teil des Besitzes. Die Stute war frisch, und wenn auch der Tag trüb war und der scharfe Wind sie daran erinnerte, daß der lieblichste Herbst, dessen sie sich entsinnen konnte, in den Winter hinüberglitt, trug der Ritt viel dazu bei, ihre unerklärliche Bedrückung zu erleichtern. Sie kehrte einige Minuten vor Mittag nach Undershaw zurück und wußte, daß heute kaum eine Chance für Aubrey bestand, ein Tête-à-tête zu unterbrechen, weil er zu einem abgelegenen Jagdwinkel gefahren war. Er hatte sich, seine zwei Spaniels, den Förster und seine gehätschelten Manton-Gewehre in den Gig gepackt, samt einem großen Proviantkorb, der ein «leichtes» Mittagessen enthielt, wie es Mrs. Gurnard und die Köchin für einen Jüngling zarter Konstitution für angemessen hielten, dessen mageren Körper sie schon seit Jahren aufzufuttern versuchten. Heute würden keine Überreste heimgebracht werden, die ihre Empfindlichkeit verletzen konnten. Und sollte eine der beiden ehrenwerten Damen den Verdacht hegen, daß die Wildpastete, das Aspik, die gesülzte Taube und die Königinnenkuchen, warm aus dem Ofen, von dem Förster und den Spaniels sehr geschätzt werden würden, während Aubrey ein Stück Käse und einen Apfel verspeiste, so konnte man darauf bauen, daß sie derart entmutigende Überlegungen bei sich behalten würde.
Als Venetia aus dem Sattel glitt und die Schleppe ihres Reitanzugs aufnahm, kam Fingle aus der Sattelkammer, um ihr den Zügel der Stute abzunehmen. Sie sah sofort, daß er fast platzte vor Neuigkeiten, und so war es denn auch – er verriet ihr, sie sei keine halbe Stunde von Undershaw weggeritten gewesen, als auch schon eine vierspännige Kalesche vorgefahren war und niemand Geringeren als Mr. Philip Hendred abgesetzt hatte.
Sie war verblüfft; sie hatte zwar eine Antwort auf den Brief bekommen, in dem sie ihrer Tante Conways Heirat mitgeteilt hatte, aber nicht die geringste Verständigung von diesem Besuch. Sie rief derart ungläubig: «Mein Onkel?», daß Fingle erfreut war über die Sensation, die er verursachte, und ihr anvertraute, daß es ihn regelrecht umgeschmissen habe. «Er ist den ganzen Weg in seiner eigenen Kalesche gefahren, Miss», erzählte er ihr, anscheinend in dem Gefühl, daß dieser Umstand dem unerwarteten Besuch besonderen Glanz verlieh, «und ich vermute, sogar mit seinen eigenen Postillionen, weil er sie gar nicht erst bezahlte, noch ihnen das Geld für ihre Unterkunft gab, sondern sie stracks zum Roten Löwen schickte.»
«Sie zum Roten Löwen schickte?» unterbrach sie ihn ganz entsetzt. «Himmel, wie konnte Ribble so etwas zulassen?»
Aber es schien, daß Mr. Hendred jeden gastfreundlichen Einspruch zum Schweigen gebracht hatte, was, wie Fingle Venetia ins Gedächtnis rief, in Anbetracht der Tatsache ja zu erwarten gewesen war, da er doch auch fast eine Woche in Undershaw verbracht hatte, als der Herr krank geworden und gestorben war, und keine Überredung genützt hatte, seine Postillione noch seine Tiere im Haus zu beherbergen. «Aber damals hat er seinen Kammerdiener mit heraufgenommen, Miss, was er diesmal nicht getan hat.»
Diese Information, die wohl der Höhepunkt sein sollte, erstaunte jedoch Venetia nicht. Sie sagte nur, sie müsse sofort ihren Gast begrüßen gehen, und enteilte, gerade als Fingle sich darauf vorbereitete, ihr langsam in allen Einzelheiten die verschiedenen Punkte und Mäkel des Gespanns der Kalesche zu beschreiben.
Sie hielt sich nicht erst damit auf, ihren Reitanzug abzulegen, sondern ging unverzüglich in den Salon, in dem sie, wie Ribble sie informierte, Mr. Hendred von Ihrer Gnaden und Mrs. Scorrier empfangen vorfinden würde. Als sie den Salon betrat, blieb sie einen Augenblick auf der Schwelle stehen, immer noch die Reitgerte in der einen Hand, ihre Wangen vom Wind anmutig gerötet und die Schleppe des Reitanzuges über den Arm geworfen. Als Mr. Hendred sich von einem Stuhl am Kamin erhob und auf sie zukam, ließ sie den Rock um die Füße fallen, warf die Gerte beiseite und lief mit ausgestreckten Händen auf ihn zu: «Mein lieber Sir, ist das eine reizende Überraschung! Ich bin so froh, Sie zu sehen – aber ich warne Sie, das wird mich nicht daran hindern, ein Hühnchen mit Ihnen zu rupfen! Lassen Sie sich sagen, daß wir in Yorkshire es für eine Beleidigung halten, wenn unsere Gäste ihre Diener und Pferde in einem Gasthof füttern lassen!»
Bevor er noch antworten konnte, schaltete sich Mrs. Scorrier ein und sagte schelmisch: «Ah, habe ich Ihnen nicht versichert, Sir, daß Miss Lanyon Ihnen heftige Vorwürfe machen würde? Aber Sie müssen wissen, liebe Miss Lanyon, daß es seit neuestem in vielen Herrensitzen, die bei weitem größer sind als dieser, zur Regel geworden ist, die Pferde von Besuchern oder mehr als einen Diener nicht im Haus einzuquartieren.»
«Das entspricht jedenfalls nicht unseren Vorstellungen von Gastfreundschaft hier im Norden», sagte Venetia. «Aber erzählen Sie mir, was bringt Sie nach Undershaw? Ich hoffe, Sie haben vor, bei dieser Gelegenheit endlich einmal einen außerordentlich langen Aufenthalt zu nehmen und nicht wieder in größter Eile davonzusausen, bevor es uns überhaupt zu Bewußtsein gekommen ist, daß Sie angekommen sind!»
Sein eher strenges Gesicht lockerte sich in einem leichten Lächeln; er antwortete trocken und pedantisch: «Wie du weißt, meine liebe Venetia, verfüge ich über meine Zeit nicht in dem Ausmaß, wie ich das manchmal wünschen würde. Der Zweck meines Besuches betrifft dich, wie ich dir sofort zu erklären hoffe.»
Sie war etwas überrascht, aber da er ihr wichtigster Vermögensverwalter war, nahm sie an, er müsse gekommen sein, um irgendeine geschäftliche Angelegenheit mit ihr zu besprechen. Sie zwinkerte ihm zu und sagte: «Wenn Sie gekommen sind, um mir zu erzählen, daß mein Vermögen auf diesem mysteriösen Ding, das man Börse nennt, dahingeschwunden ist, dann warten Sie damit, bitte, bis ich mir ein paar angesengte Federn und etwas Riechsalz besorgt habe!»
Er lächelte wieder, aber nur sehr flüchtig, weil allein schon eine solche Andeutung zu entsetzlich war, um humorvoll zu sein. Mrs. Scorrier schmuggelte sich wieder in das Gespräch ein. «Es ist zu schlimm von Ihnen, sie zappeln zu lassen, Mr. Hendred, besonders, da Sie eine so entzückende Freude für sie bereit haben! Keine Angst, Miss Lanyon! Ich gebe Ihnen mein Wort, das Anliegen Ihres Onkels ist von der Sorte, daß es Sie viel eher in einen Begeisterungstaumel versetzen als erschrecken wird!»
Venetia waren inzwischen schon zwei Umstände klargeworden. Der überströmenden Höflichkeit Mrs. Scorriers entnahm sie, daß dieser Mr. Hendreds gesellschaftlicher und finanzieller Stand sehr gut bekannt war und sie daher entschlossen war, sich bei ihm beliebt zu machen; und aus dem kalten Blick, mit dem ihre Bemühungen aufgenommen wurden, ging hervor, daß Mr. Hendred eine starke Abneigung gegen sie gefaßt hatte. Venetia hielt es für gut, ihn aus ihrer Umgebung zu entfernen, bevor sie ihn dazu reizte, ihr eine scharfe Abfuhr zu erteilen. Daher lud Venetia ihn ein, mit ihr ins Frühstückszimmer zu kommen, da sie gern das eine oder andere Geschäftliche mit ihm besprochen hätte. Mrs. Scorrier nahm dies erstaunlich gut auf und erklärte ihrer Tochter ihre Nachgiebigkeit, sowie sie allein waren, mit der schlichten Ankündigung, daß es von Mr. Hendred hieß, er sei bis auf den Pfennig genau nicht weniger als 20 000 Pfund im Jahr wert.
Daraufhin machte Charlotte große Augen, denn an Mister Hendreds Erscheinung gab es nichts, was auf Überfluß gedeutet hätte. Mit Ausnahme der subtilen Unterscheidung, die jedem Rock, wie schlicht auch immer er sein mochte, anhaftete, der aus Westons Werkstätte kam, hätte er für einen Anwalt in ansehnlichen, aber nicht üppigen Verhältnissen gelten können. Er war dürr, nicht ganz mittelgroß, hatte spindeldürre Beine, spärliches graues Haar und ein scharfes Gesicht, das alle Zeichen einer chronisch schlechten Verdauung trug. Er kleidete sich immer adrett und schicklich, aber da ihm jede Form von Extravaganz oder Aufsehen gräßlich war, trug er keinen anderen Schmuck als seinen Siegelring und eine bescheidene Goldnadel, die die Falten seines Halstuches festhielt. Er bevorzugte niemals auffallende Westen oder übertrieben hohe Kragenspitzen und hatte unerbittlich seine Kundschaft von Stultz auf Weston übertragen, als Mr. Stultz so unklug gewesen war, ihm seinen neuen Rock mit Knöpfen verschönt zu liefern, die nach der allerletzten Mode entworfen und genau doppelt so groß waren, als es Mr. Hendred für geziemend erachtete.
Obgleich er das modische Extrem vermied, war Mr. Hendred ein Gentleman ersten Ranges, denn abgesehen davon, daß er alle Vorteile eines sehr großen Vermögens genoß, besaß er so gute Verbindungen, daß es unklug gewesen wäre, in seiner Gegenwart irgendwelche abfällige Bemerkungen über ein Mitglied der Aristokratie zu machen, da immer die Chance bestand, daß er in irgendeiner Weise gerade mit dem betreffenden Pair verwandt war. Er war Mitglied des Parlaments, Friedensrichter, und da seine bemerkenswerte Begabung für Geschäfte mit einem strengen Pflichtgefühl verbunden war, fiel jedem, der einen Treuhänder oder Testamentsvollstrecker brauchte, zuerst sein Name ein.
Ohne habgierig zu sein, war er doch gern sparsam. Er pflegte keine unnötigen Ausgaben in seinem Haushalt zu dulden. Und wäh rend er einem französischen Koch einen so hohen Betrag wie sechzig Pfund im Jahr zahlte und niemals mit gemieteten Postjungen reiste, war seine Gattin klug genug, ihn nicht überreden zu wollen, daß er auch nur um einen einzigen Lakaien mehr anstelle, als er es für nötig hielt, damit der Haushalt glatt lief. Neben einem Herrenhaus am Cavendish Square besaß er ein sehr großes Gut in Berkshire und weniger wichtige in zwei anderen Landesteilen. Aber im Gegensatz zum fünften Herzog von Devonshire, der das ganze Jahr hindurch nicht weniger als zehn Häuser mit der vollen Anzahl von Dienerschaft ausgestattet hielt, liefen die seinen mit nicht mehr als den nötigsten Leuten in guter Ordnung.
Venetia hatte ihn zum erstenmal kennengelernt, als sie von ihrer Tante eingeladen worden war, eine Woche in Harrogate zu verbringen. Mr. Hendred war geraten worden, zu versuchen, ob die berühmten Trinkkuren ihn von seinen Magenverstimmungen zu heilen vermochten. Unglücklicherweise aber vertrug seine Konstitution weder das Wasser noch das Klima, und nach zehn Tagen elenden Unbehagens trat er angewidert den Rückzug an. Aber trotz seiner Leiden war er ein freundlicher und aufmerksamer Gastgeber gewesen, der jeden Plan zu Venenas Unterhaltung gefördert hatte und dem es gelungen war, ihr ohne eine unpassende Kritik an der Ausgefallenheit seines Schwagers klarzumachen, daß er das zurückgezogene Leben schwer verurteile, zu dem sie gezwungen wurde, und daß er glücklich wäre, sie davor zu retten. Das war nicht möglich gewesen. Als er dann nach Sir Francis Lanyons Tod sein Angebot der Gastfreundschaft wiederholt hatte, war es ihr nicht möglicher erschienen als vorher. Sie hatte es abgelehnt. Er hatte ihrer Entscheidung zugestimmt. Als die Angelegenheit dann fallengelassen wurde, hatte sie angenommen, daß er ihre Weigerung als unwiderruflich akzeptiert hätte. Sie war daher ziemlich erschrokken, als sie von ihm erfuhr, der einzige Zweck, warum er nach Undershaw gekommen war, sei der, sie unverzüglich zum Cavendish Square mitzunehmen, wo sie sich, wie er überzeugt war, für einen willkommenen Zuwachs seiner Familie halten würde.
Sie war sehr gerührt, aber er wollte es nicht zulassen, daß sie ihm das Gefühl ihrer Dankesschuld zum Ausdruck brachte. Er legte die Fingerspitzen aneinander und sagte mit maßvoller Strenge: «Du bist dir, liebste Venetia, zweifellos bewußt, wie meine Gefühle dir gegenüber immer waren. Ich hoffe, ich brauche nicht hinzuzufügen, daß sowohl deine Tante wie ich dich sehr gern haben und schätzen. Lobsprüche liegen meinem Wesen fern, aber ich zögere nicht, dir zu sagen, daß dein Verhalten, das sich immer durch Vernunft und aufrechte Prinzipien auszeichnete, derart ist, daß es Respekt abnötigt. Ja, meine liebe Nichte», sagte er und erwärmte sich für sein Thema, «du bist ein sehr braves Mädchen und bist von jenen, die sich dein Behagen zum ersten Anliegen hätten machen müssen, schäbig behandelt worden! Laß mich dir versichern, daß es mir eine große Freude machen wird, alles in meiner Macht stehende zu tun, um dich für die Jahre zu entschädigen, die du dem geopfert hast, was du als deine Pflicht ansahst!» Sie protestierte mit einer Geste, aber er schaute sie bloß streng an und sagte scharf: «Erlaube mir, bitte, offen zu dir zu sein. Sosehr es mir widerstrebt, dir gegenüber den Mund über das Thema der Absonderlichkeiten deines verstorbenen Vaters zu öffnen, glaube ich, es steht mir zu, zu sagen: ich leugne zwar nicht, daß er in vieler Hinsicht ein schätzenswerter Mann war, sein Benehmen jedoch nach dem unglückseligen Ereignis, das sich während deiner Kindheit zutrug, erschien ebenso egoistisch, wie es schlecht beraten war. Er kannte meine Gefühle – mehr will ich nicht sagen, außer, daß ich nicht mehr tun konnte, als die Schicklichkeit zur Kenntnis zu nehmen, mit der sich eine Tochter dem Willen ihrer Eltern unterwirft. Als du es nach seinem plötzlichen Ableben für deine Pflicht hieltest, während der – jedenfalls damals unvermeidlichen – Abwesenheit deines älteren Bruders hier zu bleiben, konnte ich die Stärke deines Arguments nicht leugnen oder es für richtig halten, dich zu drängen. Ebenso erneuerte ich meine Überredung nicht, als es offenkundig wurde, daß Conway, statt zurückzukehren und dich von der Verantwortung zu befreien, die du in so selbstloser Weise auf deine Schultern genommen hast, keine Lust zeigte, etwas anderes als sein eigenes Vergnügen zu Rate zu ziehen, denn ich sah sehr wohl, daß es nutzlos wäre, da man sich darauf verlassen konnte, daß du Entschuldigungen für ihn finden würdest. Als man mir jedoch den Inhalt des Briefes zur Kenntnis brachte, den du deiner Tante geschrieben hast – Venetia, ich habe keine Gewissensbisse zu sagen, daß ich selten schockierter war, oder daß Conways Verhalten, dir auf eine derartige Art nicht nur seine Gattin, sondern auch deren Mutter aufzuhalsen, einfach empörend und derart ist, daß es dich aller Verpflichtungen entbindet, noch weiterhin in Undershaw zu bleiben!»
«Natürlich ist es das!» stimmte sie ihm sehr erheitert zu. «Auch ich habe keine Skrupel, das zu sagen! Aber ich habe es nie für meine Pflicht gehalten, seinetwegen hierzubleiben, müssen Sie wissen. Ich bin Aubreys wegen geblieben – und ich bitte Sie, stellen Sie sich nicht vor, daß damit auch nur im geringsten ein Opfer verbunden war! Er und ich sind die besten Freunde und haben sehr gemütlich miteinander gehaust, versichere ich Ihnen.»
Er betrachtete sie mit frostigem Beifall, sagte aber mit seiner trockensten Stimme: «Das werdet ihr wohl kaum mehr, seit sich Mrs. Scorrier hier einquartiert hat.»
«Stimmt, wirklich nicht. Ich habe schon erkannt, daß es um so besser sein wird, je eher ich andere Vorkehrungen für uns beide treffe. Ich bilde mir ein, Mrs. Scorrier hat Ihnen ihr versöhnlichstes Gesicht gezeigt, so daß es Ihnen unmöglich wird zu glauben, wie abscheulich ich sie finde!»
«Meine liebe Venetia, das brauchst du mir nicht zu sagen, denn ich kenne ihre Sorte sehr gut! Ein sehr aufdringliches, anmaßendes Frauenzimmer, dem sowohl Haltung wie Manieren abgehen. Verlasse dich darauf, die unziemliche Eile dieser Heirat kann nur ihr zugeschrieben werden! Auf mein Wort, es ist ihr ja eine sehr gute Verbindung für ihre Tochter gelungen! Es mißfällt mir außerordentlich, daß Conway nicht vernünftiger war, als sich an ein solches Nichts von einem Mädchen zu fesseln, das nichts besitzt, was es empfehlen könnte, als ein hübsches Gesicht und ein liebenswürdiges Naturell. Ihre Herkunft ist nicht mehr als gerade respektabel, und was ein Vermögen betrifft, würde ich bezweifeln, daß sie mehr als eintausend Pfund Apanage hat, sehr wahrscheinlich aber noch weniger, denn die Scorriers sind nicht reich, und ihr Vater war außerdem ein jüngerer Sohn.»
Dieser Umstand schien seinen Widerwillen noch zu vergrößern, und eine Weile war er unfähig, über ihn hinwegzugehen. Aber als er verschiedene bissige Bemerkungen angebracht und kurz über das Übel der Heftigkeit und des Leichtsinns moralisiert hatte, kehrte er zum Zweck seines Besuches zurück, und das in einer Art, die zeigte, daß er den festen Entschluß gefaßt hatte, Venetia unverzüglich aus Undershaw zu entfernen. «Ich wünsche dich nicht zu inkommodieren, Venetia, aber es wäre mir sehr angenehm, wenn du dich bereitmachen könntest, schon morgen früh mit mir zu fahren.»
«Aber das kann ich nicht! Selbst wenn – lieber Sir, Sie müssen mir Zeit lassen, nachzudenken! Da gibt es soviel zu überlegen – Aubrey – Undershaw – oh, manchmal' glaube ich, ich habe die Pflicht, hierzubleiben, bis Conway zurückkommt, denn nur der Himmel mag wissen, was dieses Frauenzimmer alles anstellt, wenn man sie hier allein herumkommandieren läßt.»
«Was das betrifft, wird es nicht in ihrer Macht liegen, deine Anordnungen umzuwerfen, meine Liebe. Ich zweifle nicht daran, daß sie nur zusehr dazu neigt, es zu tun, daher habe ich es für klug gehalten, sie davon zu informieren, daß, da Lady Lanyon weder die Bevollmächtigung noch die Erfahrung hat, die Leitung der Angelegenheiten ihres Gatten zu übernehmen, alle derartigen Vollmachten in Mytchetts Händen bleiben. Ja, ich habe schon mit Mytchett gesprochen, und alles, was dir zu tun übrigbleibt, ist, ihm die nötigen Informationen und jene Anweisungen zu geben, die du für nötig befindest. Ich wagte ihm zu sagen, ich hoffte, dich morgen auf unserem Weg nach London in seine Kanzlei zu bringen. Was Aubrey betrifft, hätte ich dir erklären sollen, daß meine Einladung natürlich ebenso für ihn wie für dich gilt.»
Sie drückte ziemlich verwirrt die Hand an die Stirn, denn sie wußte wirklich nicht, was sie sagen oder sogar, was sie tun sollte. Den Einwendungen, die sie erhob, gab er ruhige Antworten, die sie zunichte machten; und als sie ihm ihren Plan anvertraute, ihren eigenen Haushalt einzurichten, sagte er nach einem Augenblick des Schweigens, daß er sehr glücklich sein würde, Pläne für die Zukunft mit ihr zu diskutieren, sobald sie unter seinem Dach lebte. Dann erklärte er ihr freundlich, es täte ihm leid, sie zu so unbehaglicher Eile antreiben zu müssen, aber er sei überzeugt, wenn sie die Sache eine kleine Weile überlegte, würde es ihr ihre Vernunft ermöglichen, einzusehen, wie klug es sei, sich aus Undershaw zurückzuziehen und sich in seinen Schutz zu begeben.
«Ich werde dich jetzt verlassen», verkündete er und erhob sich. «Ich bin, wie du weißt, ein ziemlich schlechter Reisender und kann nie mehr als nur eine kurze Strecke zurücklegen, ohne mein nervöses Gesichtszucken zu bekommen. Lady Lanyon wird mich hoffentlich entschuldigen, wenn ich mich bis zum Dinner in mein Schlafzimmer zurückziehe. Nein, bemühe dich nicht, mich zu begleiten, meine liebe Nichte! Ich finde mich zurecht und habe schon von deiner ausgezeichneten Mamsell erbeten, mir einen heißen Ziegelstein hinaufzuschicken, wenn ich läute. Weißt du, ein heißer Ziegelstein für die Füße pflegt häufig Fälle schwerer Gesichtsneuralgien zu erleichtern.»
Sie kannte ihn gut genug, um nicht auf ihrem Vorhaben zu beharren. Sie blieb zurück und versuchte ihre Gedanken zu sammeln. Es war keine leichte Aufgabe. Sehr bald war der einzig klare Gedanke in ihrem Kopf der, daß sie, bevor sie versuchte, zu einem Entschluß zu kommen, Damerel sehen mußte. Das erinnerte sie an sein Versprechen, daß er sie etwa gegen Mittag besuchen würde, und sie schaute schnell auf die Uhr. Es war in einigen Minuten ein Uhr. Sie dachte, er würde sie vielleicht schon in der Bibliothek erwarten, und ging sofort hin. Er war nicht dort. Sie zögerte, verließ dann in einem plötzlichen Entschluß das Haus durch die Gartentür und ging schnell zu den Ställen zurück.