5

Venetia öffnete die Augen in dem von den Chintzvorhängen gedämpften Sonnenlicht. Einige Minuten lang lag sie zwischen Schlafen und Wachen da und wurde sich, zunächst vage und dann immer stärker, eines Wohlbehagens und einer Erwartung bewußt, so wie sie in ihrer Kindheit erwacht war, wenn sie wußte, daß der Tag einer versprochenen Freude heraufdämmerte. Irgendwo im Garten sang eine Drossel, und die freudige Süße ihrer Töne war so sehr im Einklang mit Venetias Stimmung, daß der Gesang ein Teil ihres Glücklichseins zu sein schien. Eine Weile gab sie sich damit zufrieden, froh, dem Vogel zuzuhören, ohne sich nach der Quelle ihrer beider Glück zu fragen. Gleich darauf aber wurde sie hellwach und erinnerte sich daran, daß sie einen Freund gefunden hatte.

Sofort schien ihr Blut schneller in den Adern zu kreisen; ihr Körper fühlte sich leicht und voll Leben, und eine seltsame Erregung, die ihr ganzes Wesen wie ein Elixier durchströmte, machte es ihr unmöglich, stillzuliegen. Kein Laut außer dem Vogelgesang drang an ihre Ohren, Stille umschloß das Haus. Sie dachte, es müsse sehr früh sein, drehte den Kopf zur Seite und versuchte wieder einzuschlafen. Es gelang ihr nicht. Das Sonnenlicht, gefleckt durch das Chintzmuster, quälte ihre Augenlider; sie schlug die Augen auf und gab einer Eingebung nach, die beharrlicher war als Vernunft. Ein neuer Tag, lebendig mit neuer Verheißung, machte sie prickeln; das Trillern der Drossel wurde Verlockung und Befehl. Venetia schlüpfte aus dem drückend weichen Federbett, ging schnell und federnd zum Fenster, schlug die Vorhänge zurück und warf die Fensterläden auf.

Ein Fasan, der über den Rasen schritt, erstarrte einen Augenblick, den Kopf hoch erhoben auf dem schimmernden Hals, und ging dann, als wüßte er, daß er noch ein paar Wochen lang sicher war, wieder würdevoll weiter. Der Herbstnebel hob sich aus den Mulden; dichter Tau glitzerte auf dem Gras, und den Himmel verschleierte ein leichter Dunst. In der Luft lag ein Frösteln, das einen selbst in der Sonnenwärme erschauern ließ, aber es würde wieder ein heißer Tag werden, ohne eine Spur Regen und mit einem so leichten Wind, daß er die vergilbenden Blätter nicht von den Bäumen flattern lassen würde.

Jenseits des Parks, über den Heckenweg hinweg, der Undershaw im Osten abschloß, jenseits der weiten Schonungen des Gutes, lag die Priory – nicht allzu weit in der Luftlinie, aber die Straße entlang eine Fahrt von fünf Meilen. Venetia dachte an Aubrey, ob er wohl in der Nacht geschlafen hatte, ob sie sich noch viele Stunden würde vertreiben müssen, bevor sie wegfahren konnte, um ihn zu besuchen. Und dann wußte sie, daß es nicht Besorgnis um Aubrey war – ihr wichtigstes Anliegen so viele Jahre hindurch –, was sie ungeduldig machte, die Priory zu erreichen, sondern der heiße Wunsch, bei ihrem Freund zu sein. Es war sein Bild, das Aubreys Bild aus ihrem Geist verdrängte und ihr eine so glühende Wärme schenkte. Sie fragte sich, ob auch er es so spürte, ob auch er wach war, vielleicht aus seinem Fenster schaute, wie sie aus dem ihren, an sie dachte, hoffte, daß sie bald wieder bei ihm sein würde. Sie versuchte sich an das zu erinnern, was sie miteinander gesprochen hatten, aber es gelang ihr nicht. Sie erinnerte sich nur, daß sie sich bei ihm vollkommen daheim gefühlt hatte, als hätte sie ihn schon ihr ganzes Leben lang gekannt. Es erschien ihr unmöglich, daß er die Sympathie zwischen ihnen beiden nicht genauso stark gefühlt haben sollte wie sie. Aber als sie eine Weile nachgedacht hatte, erinnerte sie sich, wie verschieden ihre Lebensumstände voneinander waren, und erkannte, daß das, was für sie ein neues Erlebnis war, für ihn sehr gut nicht mehr als die Variation eines alten Themas bedeuten konnte. Er hatte viele Frauen geliebt. Vielleicht hatte er auch viele Freunde gehabt, deren Gemüt mehr auf seines abgestimmt war als das ihre. Das bekümmerte sie mehr, als seine Liebschaften es taten. Seine Liebesaffären kümmerten sie so wenig wie seine erste Begegnung mit ihr. Die hatte sie verärgert, aber sie hatte sie weder entsetzt noch ihren Abscheu erregt. Die Männer – man sehe sich die ganze Geschichte an! – unterlagen plötzlich aufwallenden Lüsten und Gewalttätigkeiten, Angelegenheiten, die seltsam von Herz oder Kopf getrennt zu sein schienen und oft noch seltsamer getrennt von dem, was bestimmt ihr wahrer Charakter war. Für die Männer war Keuschheit nicht die wichtigste Tugend – sie erinnerte sich, wie verblüfft sie gewesen war, als sie entdeckt hatte, daß ein so korrekter Gentleman und gütiger Gatte wie Sir John Denny seiner Lady nicht immer treu war. Hatte es Lady Denny etwas ausgemacht? Ein bißchen, vielleicht, aber sie hatte nicht zugelassen, daß es ihre Ehe zunichte machte. «Männer, mein Liebes, sind anders als wir», hatte sie einmal gesagt, «selbst die besten von ihnen! Ich sage dir das, weil ich es für sehr falsch halte, Mädchen in dem Glauben aufzuziehen, daß das Gesicht, das die Männer den Frauen zeigen, die sie achten, ihr einziges sei. Ich bin überzeugt, sähen wir sie dabei, wie sie irgendeinem gräßlichen, vulgären Boxkampf zuschauen, oder in Gesellschaft von Frauen einer bestimmten Sorte, dann würden wir nicht einmal unsere eigenen Gatten und Brüder wiedererkennen. Ich bin überzeugt, wir würden sie für widerlich halten! Was sie, in gewisser Hinsicht, auch wirklich sind, nur wäre es ungerecht, sie für etwas zu tadeln, wofür sie nichts können. Man sollte eher dankbar sein, daß eventuelle Affären, die sie vielleicht mit denen haben, die der sogenannten Musselin-Gesellschaft angehören, ihre wahre Liebe nicht im geringsten tangiert. Ja, ich stelle mir vor, daß Liebe bei solchen Abenteuern gar keine Rolle spielt. Komisch! – Denn wir, weißt du, würden sie uns wohl kaum leisten können, ohne daß sie auf unser Leben eine größere Wirkung hätten, als wenn wir uns einen neuen Hut aussuchen. Aber so ist nun das einmal bei den Männern! Deshalb heißt es ja wirklich höchst richtig, daß man, solange der Gatte zu einem zärtlich ist, keinen Grund zur Klage hat und verrückt sein müßte, über etwas verzweifelt zu sein, das für ihn bloß eine läßliche Sünde ist. <Versuch nie, etwas herauszufinden, was dich nichts angeht, sondern schau lieber weg!> hat mir meine liebe Mutter immer gesagt, und ich habe gefunden, daß das ein sehr guter Rat war. Sie sprach natürlich von Herren mit Charakter und Erziehung, wie ich es jetzt tue – denn mit den halben Beaus und den liederlichen Frauenzimmern hat das, kann ich glücklicherweise sagen, nichts zu tun – die laufen uns ja nicht in den Weg.»

Aber Damerel war ihnen in den Weg gelaufen, und obwohl er kein halber Beau war, liederlich war er bestimmt. Lady Denny war gezwungen gewesen, ihn mit zumindest dem Anschein von Höflichkeit zu empfangen, aber sie würde eine allzu unerwünschte Bekanntschaft nicht fortsetzen. Und sie würde zweifellos entsetzt sein, wenn sie entdeckte, daß ihr junger Schützling nicht nur auf dem besten Fuß mit ihm stand, sondern auch die grobe Unschicklichkeit beging, ihn in seinem Hause zu besuchen. Konnte man ihr verständlich machen, daß sein Charakter genauso wie die der vielen namenlosen, vom Weg abweichenden Gatten, zwei Seiten hatte? Venetia glaubte es nicht. Das Beste, was man hoffen konnte, war, sie würde verstehen, daß Venetia ihren Bruder Aubrey in der Priory besuchen fuhr, selbst wenn Damerel ein Kaliban sein sollte.

Das Geklapper von Fensterläden, die in dem Wohnzimmer unter ihr zurückgeschlagen wurden, weckte sie aus diesen zweifelnden Überlegungen. Wenn sich die Dienerschaft rührte, dann war es doch nicht mehr so früh – wahrscheinlich etwa um sechs Uhr herum. Als sie nach einer Ausrede suchte, warum sie um eine Stunde vor ihrer üblichen Zeit aufstand, erinnerte sie sich an die verschiedenen – nicht sehr dringenden – Pflichten, die am Vortag unerledigt geblieben waren, und beschloß, sie unverzüglich zu erledigen.

Sie gehörte nicht zu den ständig atemlosen Hausfrauen, aber als sie ins Frühstückszimmer kam, hatte sie schon die Meierei und die Ställe besucht, mit dem Gutsverwalter die Winteraussaat besprochen, der Geflügelfrau in einer leicht entschärften Form einen Vorwurf Mrs. Gurnards übermittelt, sich dafür eine Jeremiade über die allgemeine und besondere Störrigkeit von Hennen angehört und einen alten, dickköpfigen Gärtner angewiesen, die Dahlien aufzubinden. Es schien unwahrscheinlich, daß er es tun würde, denn er betrachtete sie als Emporkömmlinge und Eindringlinge, von denen man in seiner Jugend nie etwas gehört hatte, und wurde peinlich taub, wann immer Venetia sie erwähnte.

Zu ihrer Erleichterung nahm es Mrs. Gurnard für selbstverständlich, daß sie hinüberfahren würde, um den armen Master Aubrey zu besuchen, verfiel aber in würdevolles Schmollen, als Venetia sich weigerte, einen umfangreichen Eßkorb mitzunehmen, der so randvoll gepackt war, daß es für ein Bankett ausgereicht hätte. Als Mrs. Gurnard neckend gefragt wurde, ob sie annehme, daß Aubrey auf einer einsamen Insel lebe, antwortete sie, es gebe viele Leute, die meinten, es wäre besser für ihn, auf einer einsamen Insel zu leben, als den Härten der Kocherei Mrs. Imbers ausgeliefert zu sein. Abgesehen davon, daß Mrs. Imber unfähig, kleinlich und ungeschickt war, sagte Mrs. Gurnard, war sie eine Frau, der sie einfach nicht trauen konnte. «Ich habe die Hühnchen nicht vergessen, Miss, falls das vielleicht Sie haben, und werde das auch nie, und wenn ich hundert Jahre alt werde!»

«Hühnchen?» fragte Venetia verblüfft.

«Na, die Hähnchen!» brachte Mrs. Gurnard mit flammenden Augen heraus. «Jedes einzelne ein Hähnchen, Miss!»

Aber da Venetia keinen Zusammenhang zwischen Hähnchen und Mrs. Imbers Kocherei entdecken konnte, blieb sie hart und ging, um die verschiedenen Gegenstände, die Nurse in der Aufregung des Augenblicks einzupacken vergessen hatte, zusammenzusuchen. Dazu gehörte das Hemd, das sie gerade für Aubrey nähte, und ihre Schiffchenarbeit, beides in ihrem Nähkorb zu finden, zusammen mit Nadeln, Faden, Schere, ihrem silbernen Fingerhut und einem Stück Wachs. Venetia sollte alle diese Dinge säuberlich in eine Serviette packen und ja keines vergessen; aber da Venetia wußte, ihr würde bestimmt gesagt werden, sie hätte den falschen Faden und gerade jene Schere mitgebracht, die Nurse nicht brauchte, zog sie es vor, den ganzen Korb trotz seines schauerlichen Umfanges zur Priory mitzunehmen.

Die Aufträge Aubreys zu erfüllen war eine noch schwierigere Aufgabe, denn er brauchte nicht nur so einfache Sachen wie einen Vorrat an Papier und mehrere Bleistifte, sondern auch eine Anzahl Bücher. Er hatte ihr gesagt, daß sie seinen Phaidon auf dem Schreibtisch in der Bibliothek finden würde, und dort fand sie ihn auch; aber Guy Mannering war erst nach einer erschöpfenden Suche zu finden, da ein eifriges Stubenmädchen, für das der Anblick eines Buches, das offen auf einem Sessel lag, eine Beleidigung bedeutete, es umgekehrt in ein Bücherbrett gestopft hatte, das Lehrbüchern und Lexika vorbehalten war. Virgil bot kein Problem – Aubrey hatte bestimmt um die Aeneide gebeten; aber Horaz bot liebenswürdig gleich eine Wahl zwischen mehreren Bänden, und Venetia konnte sich einfach nicht erinnern, ob Aubrey die Oden, die Satiren oder sogar die Episteln haben wollte. Schließlich fügte sie ihrer Sammlung alle drei bei, und Ribble trug den Stoß zu dem wartenden Til bury, wo Fingle, ein älterer Stallbursche, sie von ihm mit der heiteren Prophezeiung übernahm, als nächstes würde man erfahren, daß sich Master Aubrey in eine Gehirnhautentzündung hineinstudiert hätte.

Mit dem Gefühl, daß sie sich ihrer Pflichten in einer Art entledigt hatte, die der Schwester eines Gelehrten würdig war, fuhr Venetia zur Priory, wo jegliche Hoffnung auf Loblieder schnell vernichtet wurde. «Oh, du hättest sie doch nicht bringen müssen!» sagte Aubrey. «Damerel hat eine großartige Bibliothek – eine erstklassige Sache, so groß, daß sogar ein Katalog dazu da ist! Er hat ihn gestern abend für mich herausgesucht und brachte mir die Bücher herauf, die ich besonders dringend haben wollte. Ich habe ihn gewarnt, als ich sah, was für eine prächtige Sammlung das ist, es würde ihm schwerfallen, mich loszuwerden, aber er sagt, ich darf mir immer alle Bücher ausborgen, die ich will. Oh, ist das Er, Fingle? Guten Morgen – hat Er sich Rufus angeschaut? Lord Damerels Stallbursche hat ihn in Pflege, aber bestimmt will Er sich die Vorhand selbst anschauen. Nein, lege Er diese Bücher nicht erst hin – ich bin draufgekommen, daß ich sie doch nicht brauche!»

«Gräßlicher, aber schon ganz gräßlicher Junge!» sagte Venetia, beugte sich über ihn und küßte ihn flüchtig auf die Stirn. «Nachdem ich eine halbe Stunde gebraucht habe, um den Guy Mannering zu finden, und ich dir deinen ganzen Horaz gebracht habe, weil ich mich nicht erinnern konnte, welchen Band du haben wolltest!»

«Dummes!» sagte er und lächelte zu ihr auf. «Ich werde den Guy Mannering dabehalten, falls ich etwas in der Nacht lesen will.»

Sie zog das Buch aus dem Stoß, den Fingle immer noch hielt, nickte ihm zu, daß er gehen könne, mit einem Zwinkern in den Augen, das ihn veranlaßte, die seinen ausdrucksvoll zum Himmel zu erheben, und wagte zu fragen, wie Aubrey geschlafen habe. «Och – erträglich!» antwortete er.

«Mein Liebster, Wahrheit ist dir ein unbekannter Begriff! Ich höre, daß du den Mohnsirup verschmäht hast, den Nurse so vorsorglich mitgebracht hat?»

«Nach dem Laudanum, das Damerel mir gegeben hat! Und ob ich das getan habe! Er hat auch gemeint, ich solle es lassen, daher ging Nurse beleidigt zu Bett, worüber ich herzlich froh war. Damerel brachte ein Schachbrett mit, und wir haben ein, zwei Spiele gemacht. Er ist ein vorzüglicher Spieler – ich habe nur einmal gewonnen. Dann haben wir geplaudert – oh, bis nach Mitternacht! Wußtest du, daß er Klassik studiert hat? Er war in Oxford – sagt, daß er alles vergessen hat, was er je wußte, aber das ist Humbug! Ich glaube, daß er sogar ein ziemlich guter Scholar war. Er war auch in Griechenland und hat mir Dinge schildern können – Dinge, die der Beschreibung wert sind! Nicht wie dieser Kerl, der vergangenes Jahr bei den Appersetts wohnte und nicht mehr über Griechenland zu sagen wußte, als daß er den Wein nicht trinken konnte, wegen dem Harz drin, und daß ihn die Wanzen bei lebendigem Leib aufgefressen haben!»

«Du hast also deinen Abend genossen?»

«Ja – bis auf mein verfluchtes Bein! Aber wenn ich nicht gestürzt wäre, dann hätte ich vermutlich Damerel nie kennengelernt, drum tut es mir nicht leid.»

«Es muß sehr erfreulich sein, mit jemandem sprechen zu können, der auf die Dinge eingeht, die man am liebsten hat», stimmte sie zu.

«ja», sagte er freimütig. «Und was mehr ist, er ist vernünftiger, als mich dutzendmal in der Stunde zu fragen, wie ich mich fühle oder ob ich nicht noch ein zweites Kissen haben möchte! Ich will damit nicht sagen, daß du das tust, aber Nurse könnte in dieser Beziehung einen Heiligen in Rage bringen. Ich wollte, du hättest sie nicht mitgebracht – Marston kann alles das tun, was ich brauche – und ohne mich zu verstimmen!» fügte er mit seinem kläglichen, verzerrten Lächeln hinzu.

«Mein Lieber, ich hätte sie einfach nicht von dir fernhalten können! Sag mir nur ein einziges Mal, wie du dich heute morgen fühlst, und ich verspreche dir – das Wort einer Lanyon –, daß ich dich nicht wieder fragen werde!»

«Och, es geht mir ganz gut!» antwortete er kurz. Sie sagte nichts, und nach einer Weile gab er nach und grinste sie an. «Wenn du es unbedingt wissen mußt, ich fühle mich teuflisch – als hätte ich mir jedes Gelenk im Körper verstaucht! Aber Bentworth versicherte mir, das stimme ganz und gar nicht, daher sind meine Schmerzen unwichtig und werden bald vorübergehen, bestimmt. Spielen wir doch Piquet – das heißt, wenn du vorhast, ein bißchen zu bleiben? Karten wirst du irgendwo finden – auf dem Tisch dort, glaube ich.»

Sie war ziemlich beruhigt, obwohl sie, als sie ins Zimmer getreten war, gemeint hatte, daß er blaß und mitgenommen aussah. Es war jedoch nicht zu erwarten, daß ein Junge von derart zarter physischer Verfassung von seinem Sturz nicht schwer erschüttert worden wäre, aber daß er sich nicht in einer seiner reizbaren, unzugänglichen Stimmungen befand, ermutigte sie zu der Hoffnung, daß er keinen sehr ernsten Rückfall erlitten hatte. Als die Nurse gleich darauf hereinkam, um eine frische Kompresse um seinen geschwollenen Knöchel zu legen, sah Venetia auf den ersten Blick, daß auch sie seine Lage optimistisch betrachtete, und wurde noch mehr aufgeheitert. Nurse mochte ja vielleicht einen beklagenswerten Mangel an Takt bei ihrer Behandlung Aubreys zeigen, aber sie kannte seine Konstitution besser als sonst jemand, und wenn sie mit ihrer jahrelangen Erfahrung mehr Grund zum Schelten als zu Besorgnis sah, dann konnte eine ängstlich besorgte Schwester dunkle Befürchtungen verbannen.

Als Marston mit einem Glas Milch für den Kranken hereinkam, zog Venetia Nurse in das nebenliegende Ankleidezimmer und sagte, als sie die Türe schloß: «Du weißt ja, wie er ist! Wenn er glaubt, daß uns beiden etwas daran liegt, ob er es trinkt oder nicht, würde er es nicht anrühren, nur um uns beizubringen, daß wir ihn nicht wie ein Baby behandeln sollen!»

«O ja!» sagte Nurse sehr verbittert. «Alles, was Marston oder Seine Lordschaft sagen, tut er, gerade als wären sie es, die sich seit dem Tag seiner Geburt um ihn gekümmert hätten! Wegen allem, wozu ich hier nütze bin, hätte ich ebensogut daheim bleiben können – nicht, daß ich damit sagen will, daß ich dieses Haus verlasse, bevor er geht, oder so etwas je getan hätte, also hätte sich Seine Lordschaft den Atem sparen können!»

«Was – hat er denn versucht, dich wegzuschicken?» sagte Venetia überrascht.

«Nein, und ich hoffe, er weiß es besser, als zu glauben, daß er das könnte! Nein, ich sagte bloß zu Master Aubrey, wenn es ihm lieber ist, daß Marston ihn pflege, kann ich lieber gleich packen und gehen – nun, Miss, er war so nervös und lästig gestern abend, daß man es jedem nachgesehen hätte, bös zu sein! Aber, daß ich das wirklich gemeint habe, das hätte Seine Lordschaft besser wissen sollen, und es war überhaupt nicht nötig von ihm, mich daran zu erinnern, daß es für Sie nicht ginge, hier Besuche zu machen, wenn ich nicht im Haus wäre! Ich weiß das selbst gut genug, und besser wäre es, Sie würden überhaupt nicht kommen, Miss Venetia! Ich glaube, Master Aubrey würde es nichts ausmachen, wenn wir beide ihm nicht nahekommen, nicht, solange er sein Bett mit einer Menge unchristlicher Bücher vollstopfen und daliegen und mit Seiner Lordschaft über seine ekelhaften Heidengötter reden kann!»

«Er würde sich sehr bald wünschen, dich zurückzuhaben, wenn er wirklich krank wäre», sagte Venetia besänftigend. «Ich glaube auch, daß er gerade in dem Alter ist, wo er kein Kind mehr ist, aber auch noch nicht ein Mann, und daher äußerst eifersüchtig auf seine Würde bedacht. Erinnerst du dich, wie unhöflich Conway in dem gleichen Alter zu dir war? Aber als er aus Spanien heimkam, war er doch sehr froh darüber, wie sehr du ihn verzärtelt und mit ihm herumgeschimpft hast!»

Da Conway den ersten Platz in Nurses Herz einnahm, hätte sie auf keinen Fall zugegeben, daß er sich je anders als geradezu vollkommen benommen hatte, aber sie enthüllte Venetia, daß Seine Lordschaft genau dasselbe über Master Aubrey gesagt hatte wie jetzt sie. Sie fügte hinzu, niemand könne besser verstehen als sie, wie sehr Master Aubrey sein Gebrechen hasse, und seinen leidenschaftlichen Wunsch, sich ebenso herzhaft und unabhängig zu zeigen wie seine glücklicheren Altersgenossen – eine beispiellose Erklärung, die Venetia eine ziemlich genaue Vorstellung gab, wie geschickt Seine Lordschaft feindselige und ältliche Frauenzimmer zu behandeln wußte.

Es bestand kein Zweifel, daß es ihm gelungen war, Nurse beträchtlich zu besänftigen. Sie mochte es vielleicht übelnehmen, daß Aubrey ihr seine Gesellschaft vorzog, aber sie konnte niemanden gänzlich verdammen, dem es, abgesehen von einer so großen Besorgnis um Aubreys Wohlergehen, gelang, ihn bei heiterer Laune zu halten unter Umständen, die geeignet waren, ihn in einen Zustand gereizter Düsternis zu versetzen.

«Ich bin nicht eine, die Sünde gutheißt, Miss Venetia», sagte sie streng, «aber ich bin auch nicht eine, die jemandem nicht zugesteht, was ihm zukommt, und das muß ich sagen – netter könnte er sich Master Aubrey gegenüber nicht betragen, und wenn er der Reverend persönlich wäre.» Sie fügte nach innerem Kampf hinzu: «Und wenn er mir auch nicht erst hätte zu sagen brauchen, was meine Pflicht Ihnen gegenüber ist, Miss Venetia, so war es ein Zeichen der Gnade, das ich in ihm nicht zu sehen vermutet hätte, und man kann nicht wissen, ob der Herr nicht vielleicht doch Mitleid mit ihm haben wird, falls er seine schlimmen Wege aufgibt – wo doch das Heil nicht weit für die Sünder ist, wie ich Ihnen oft und oft gesagt habe, Miss.»

Trotz diesem Rückfall in Pessimismus war Venetia ermutigt anzunehmen, daß Nurse mit ihrem Aufenthalt unter einem unheiligen Dach ziemlich versöhnt war. Als sie Aubrey mit der Wiedergabe dieses Gesprächs ergötzte, sagte er, ihre Sinnesänderung könne nur darauf zurückzuführen sein, daß Damerel nach Thirsk geritten war, eigens zu dem Zweck, eine Rolle Scharpie zu besorgen.

«In Wirklichkeit war es natürlich nicht das – er ritt wegen einer eigenen Sache hin, aber als Nurse über die Scharpie zu brummen anfing – für meinen Knöchel, weißt du! –, sagte er, er würde welche besorgen, und da setzte sie es sich in den Kopf, daß er aus keinem anderen Grund nach Thirsk ritt. Bis dahin hat sie über seine Güte nicht gesprochen, versichere ich dir! Sie sagte, er lache in der Gemeinschaft der Gläubigen.»

«Nein!» rief Venetia voll Ehrfurcht aus.

«Ja, doch. Weißt du, woher das stammt? Wir konnten es nicht finden, obwohl wir es an allen Stellen gesucht haben, wo es am wahrscheinlichsten zu finden wäre.»

«Da hast du es also Damerel wiedererzählt!»

«Natürlich! Ich wußte, daß es ihm völlig gleichgültig wäre, was Nurse von ihm sagt.»

«Ich vermute, er hat es genossen», sagte Venetia lächelnd. «Wann ist er denn nach Thirsk geritten?»

«Och, ganz früh! Ja, jetzt erinnerst du mich, daß er mir eine Post an dich aufgetragen hat – so ähnlich, daß er unbedingt nach Thirsk müsse und hoffe, du würdest es entschuldigen. Ich habe es vergessen! Es war nicht wichtig – gerade nur den Höflichen spielen! Ich habe ihm gesagt, das brauche er überhaupt nicht. Er sagte, er meinte, er würde um Mittag herum wieder da sein – o ja! und daß er hoffe, du würdest bis dahin nicht wieder weg sein. Venetia, ich bitte dich, schau auf den Tisch, ob der Tytler dort liegt! Nurse muß ihn weggeräumt haben, als sie mir den Knöchel verband, denn ich habe ihn gerade gelesen und ihn erst niedergelegt, als du hereinkamst. Sie kann mir doch nicht in die Nähe kommen, ohne sich in meine Sachen einzumischen! <Essay über die Prinzipien des Übersetzers> – ja, das ist er – danke!»

«Wenn es dir nicht allzuviel ausmacht, daß ich dich verlasse, werde ich einmal eine Runde durch den Garten machen», sagte Venetia, reichte ihm das Buch und beobachtete ihn einigermaßen amüsiert, als er die Stelle gefunden hatte, die er suchte.

«Ja, tu's!» sagte Aubrey geistesabwesend. «Sie werden mich bald damit plagen, daß ich mittagesse, und ich will das hier fertig lesen.»

Sie lachte und wollte ihn gerade verlassen, als ein sanftes Klopfen an der Tür von dem Eintritt Imbers gefolgt wurde, der Mr. Yardley meldete.

«Was?!» brachte Aubrey alles eher als erfreut heraus.

Edward kam herein, trat vorsichtig auf und trug seinen mißbilligendsten Ausdruck. «Na, Aubrey!» sagte er nachdrücklich. «Ich freue mich, daß du strammer aussiehst, als ich erwartete.» Als er Venetias Hand drückte, fügte er leiser hinzu: «Das ist doch wirklich ein Pech! Ich wußte nichts davon, was geschehen ist, bis mir Ribble vor einer halben Stunde davon erzählte! Ich war noch nie im Leben so entsetzt!»

«Entsetzt, weil ich gestürzt bin?» sagte Aubrey. «Himmel, Edward, sei doch kein solcher Dummkopf!»

Edwards Ausdruck entspannte sich nicht, ja schien noch steifer zu werden. Er hatte seinen Gemütszustand nicht übertrieben: er war zutiefst entsetzt. Er war in glücklicher Unkenntnis nach Undershaw geritten, und dort traf ihn die alarmierende Neuigkeit, daß Aubrey einen schlimmen Unfall gehabt hatte, was ihn sofort das Schlimmste befürchten ließ. Kaum hatte ihn Ribble in dieser Hinsicht beruhigt, als er von der weiteren Neuigkeit vor den Kopf geschlagen wurde, daß Aubrey unter Damerels Dach lag, nicht nur von Nurse, sondern auch von seiner Schwester gepflegt. Die Unschicklichkeit eines solchen Arrangements entsetzte ihn wirklich. Und selbst als man ihn zu verstehen gab, daß Venetia nicht in der Priory schlief, konnte er sich nicht des Gedankens erwehren, daß jede andere Katastrophe – vielleicht gerade nur mit Ausnahme von Aubreys Tod – harmloser gewesen wäre als der Zufall, der Venetia Hals über Kopf in die Gesellschaft eines Wüstlings getrieben hatte, dessen Lebensführung jahrelang ganz North Riding skandalisiert hatte. Der Übel an ihrer Situation waren Edwards Ansicht nach unzählige; und an erster Stelle unter ihnen stand die Wahrscheinlichkeit, daß ein Mann wie Damerel irrtümlich die Unerfahrenheit, die sie dazu verführte, sich so überstürzt zu benehmen, für die Verwegenheit einer geborenen zyprischen Schönen halten und ihr eine unerträgliche Beleidigung zufügen würde.

Als vernünftiger Mann nahm Edward nicht an, daß Damerel so verwegen, noch derart schurkisch war, daß er es versuchen würde, ein tugendhaftes Mädchen von Stand zu verführen; aber er fürchtete sehr, daß Venetias offenes, vertrauensvolles Benehmen, das er immer beklagt hatte, den Lord ermutigen könnte, zu glauben, daß ihr seine Annäherungsversuche willkommen seien, während ihn die besonderen Umstände, unter denen sie lebte, sicherlich zu der Annahme verführen würden, daß sie keinen anderen Beschützer als einen verkrüppelten Schuljungen besaß.

Edward sah seine Pflicht klar vor sich. Er sah auch, daß deren Ausführung ihn mehr als wahrscheinlich in Folgen verwickeln würde, die für einen Mann von Geschmack und Empfindsamkeit abstoßend waren. Aber er schrak nicht davor zurück – er biß die Zähne zusammen und ritt zur Priory, nicht in einem Geist des Rittertums, wie ihn Oswald Denny der Aufgabe entgegengebracht haben würde, aber von der Entschlossenheit eines nüchternen Mannes beseelt, den Ruf der Dame zu schützen, die er dazu erwählt hatte, seine Braut zu werden. Im besten Fall hoffte er, in ihr ein Gefühl für ihre Unschicklichkeit zu erwecken; im schlimmsten Fall mußte er Damerel dazu bringen, Venetias wahre Umstände präzise zu verstehen. Diese Aufgabe konnte nicht anders als höchst unangenehm für einen Mann sein, der stolz auf sein korrektes, wohlgeregeltes Leben war; und es konnte ihn eventuell, wenn Damerel sich wirklich so wenig um die öffentliche Meinung kümmerte, wie es von ihm hieß, genau in die Art Skandal stürzen, die zu vermeiden ihn seine Veranlagung drängte. Es fehlte ihm keineswegs an Mut, aber er hatte nicht den leisesten Wunsch, was immer die Beleidigungen Damerels sein mochten, sich eines Morgens früh, mit einer Pistole in der Hand und zwanzig Meter kalter Erde zwischen ihnen, vor Seiner Lordschaft aufzustellen. Wenn es dazu kam, würde das nur Aubreys Rücksichtslosigkeit und Venetias unverbesserlicher Unvorsichtigkeit zu danken sein, die ihn dann in eine Position gezwungen hätten, aus der er sich als Ehrenmann nicht zurückziehen konnte – selbst wenn er in Betracht zog, daß sie verdient hatte, was für Übel auch immer sie befiel, indem sie die Grenzen strengen Anstandes überschritten und damit einen Mann wie Damerel einen falschen Eindruck von ihrem Charakter gegeben hatte.

Er ritt daher durchaus nicht mit einem romantischen Eifer von Undershaw zur Priory, sondern mit einem Gefühl der Wut und erbitterten Zorns, der sich, gerade weil er unter strenger Kontrolle gehalten wurde, eher verhärtete als besänftigte.

Seine Ankunft traf fast mit der Damerels von Thirsk her zusammen. Als er abstieg, kam Damerel gerade um die Ecke des Hauses von den Ställen, ein Päckchen zusammen mit seiner Reitgerte unter einem Arm, während er sich die Handschuhe auszog. Beim Anblick Edwards blieb er überrascht stehen. Eine Weile standen sie einander gegenüber und betrachteten sich gegenseitig stumm, in dem einen Augenpaar harter Verdacht, in dem anderen zunehmende Belustigung. Dann hob Damerel fragend eine Augenbaue, und Edward sagte steif: «Lord Damerel, vermute ich?»

Es waren die einzigen einstudierten Worte, die er äußern sollte. Von da an verlief die Begegnung auf einer Linie, die völlig anders verlief, als er sich darauf vorbereitet hatte. Damerel schlenderte auf ihn zu und sagte: «Ja, ich bin Damerel, aber Sie haben mir etwas voraus, fürchte ich. Ich kann nur erraten, daß Sie ein Freund des jungen Lanyon sind. Seien Sie mir gegrüßt!»

Er lächelte, während er sprach, und streckte seine Hand aus. Edward mußte ihm die Hand schütteln, eine freundliche Geste, die ihn zwang, die Formalität aufzugeben, zu der er sich entschlossen hatte.

«Danke», antwortete er höflich, wenn auch nicht mit Wärme. «Eure Lordschaft haben richtig geraten: ich bin ein Freund von Aubrey Lanyon – ich darf sagen, schon mein ganzes Leben lang ein Freund seiner Familie! Ich kann nicht annehmen, daß Ihnen mein Name bekannt ist: Yardley – Edward Yardley of Netherfold.»

Er irrte sich. Damerel runzelte die Brauen einen Augenblick, dann hellte sich seine Stirn auf. Er sagte: «Liegt Ihr Besitz nicht einige Meilen südwestlich meiner Grenze? Ja, das dachte ich mir.» Er fügte mit einem schnellen Lächeln hinzu: «Ich schmeichle mir, in meiner Bekanntschaft mit den Nachbarn Fortschritte zu machen. Haben Sie Aubrey besucht?»

«Ich bin gerade erst angekommen, Mylord – von Undershaw her, wo mich der Butler von diesem sehr unglücklichen Unfall informierte. Er erzählte mir auch, daß Miss Lanyon hier sei.»

«Ist sie das?» sagte Damerel gleichgültig. «Ich war den ganzen Vormittag nicht da, aber es ist sehr wahrscheinlich. Wenn sie hier ist, wird sie bei ihrem Bruder sein – wollen Sie hinaufgehen?»

«Danke!» sagte Edward mit einer leichten Verneigung. «Ich möchte das sehr gern, wenn es Aubrey gut genug geht, um Besuch zu empfangen.»

«Ich darf sagen, daß es ihm durchaus nicht schaden wird», antwortete Damerel und führte den Weg durch die offene Tür ins Haus. «Er hat sich nicht schwer verletzt, wissen Sie – keine Knochenbrüche! Ich habe um seinen Arzt geschickt, gestern abend, aber ich würde das nicht getan haben, wenn er mir nicht erzählt hätte, daß er ein Hüftgelenksleiden hat. Er hat zwar etwas Schmerzen, aber Bentworth scheint zufrieden zu sein, und wenn er nur eine Zeitlang in Ruhe gehalten wird, sind wohl keine üblen Folgen zu befürchten. Sowie aber Aubrey die Existenz meiner Bibliothek entdeckt hat, sah ich, daß hierfür nicht die geringste Schwierigkeit bestehen wird.»

In seiner Stimme war ein Lachen – keines hingegen in Edwards, als dieser sagte: «Er hat den Kopf immer in einem Buch stecken.»

Damerel war zu einem abgenutzten Glockenzug getreten, der neben dem steinernen Kamin hing; als er daran zog, warf er einen schnellen, abschätzenden Blick auf Edward. Die Belustigung in seinen Augen vertiefte sich, aber er sagte nur: «Sie jedenfalls sind, vermute ich, zu gut mit ihm bekannt, um über den Umfang und die Tiefe seiner hervorragenden Intelligenz erstaunt zu sein. Nachdem ich jedoch einige Stunden gestern abend mit ihm beisammensaß, meine Vergeßlichkeit und ach, mein indolentes Hirn voll angespannt, damit ich die Diskussion, die von umstrittenen Texten bis zur Telepathie reichte, durchhalten konnte, zog ich mich aus den Schranken zurück, überzeugt, daß das, was den Jungen bedroht, nicht ein verkrüppeltes Bein, sondern das Überschnappen ist!»

«Halten Sie ihn für so klug?» fragte Edward ziemlich erstaunt. «Was mich betrifft, habe ich oft gedacht, daß er nicht einmal Vernunft besitzt. Ich bin nicht für Bücher.»

«Oh, ich glaube, er ist überhaupt nicht vernünftig!» gab Damerel zurück.

«Ich muß gestehen, ich halte es für einen Jammer, daß er so unvernünftig ist, ein Pferd zu reiten, das er nicht meistern kann», sagte Edward mit einem Lächeln. «Ich habe ihm gesagt, wie das ausgehen würde, sowie ich den Braunen zum erstenmal gesehen habe. Ja, ich habe ihn sehr ernstlich gebeten, gar nicht erst den Versuch zu machen.»

«Wirklich?» sagte Damerel anerkennend. «Und er hat nicht auf Sie gehört? Ich bin erstaunt!»

«Man hat ihm immer sehr nachgegeben. Das war natürlich bis zu einem gewissen Grad durch seine Kränklichkeit unvermeidlich; aber man hat ihm erlaubt, seinen Kopf über das Maß des Schicklichen hinaus durchzusetzen, aus Umständen, die mit seiner Erziehung zusammenhängen», sagte Edward, die Lanyons gewissenhaft erklärend. «Sein Vater, der verstorbene Sir Francis Lanyon, war, obwohl in vieler Hinsicht ein höchst schätzenswerter Mann, ein Sonderling.»

«Das hat mir Miss Lanyon erzählt. Ich selbst würde annehmen, daß er ein verdammter Kauz war, aber wir wollen nicht um Worte streiten!»

«Man spricht nicht gern schlecht von Toten», fuhr Edward hartnäckig fort, «aber seinen Kindern gegenüber trug er einen fast gänzlichen Mangel an Interesse oder Rücksichtnahme zur Schau. Man hätte von ihm erwartet, daß er zum Beispiel seiner Tochter eine Anstandsdame gäbe, aber das war nicht der Fall. Sie haben sich bestimmt gewundert, wie sehr frei sich Miss Lanyon gibt, und da Sie die Umstände nicht kennen, es vielleicht für seltsam gehalten, daß man ihr erlaubt, ganz ohne Begleitung auszugehen.»

«Zweifellos – hätte ich sie kennengelernt, als sie noch ein junges Mädchen war», antwortete Damerel kühl. Er wandte den Kopf, als Imber in die Halle kam. «Imber, hier ist Mr. Yardley, der unseren Kranken besuchen kommt! Führen Sie ihn hinauf – und schauen Sie dazu, daß Mrs. Priddy dieses Bündel Scharpie bekommt, ja?» Er nickte Edward zu, dem Butler zu folgen, und ging selbst in einen der Salons, die neben der Halle lagen.

Edward trottete in Imbers Kielwasser die breite, flache Treppe empor mit Gefühlen, die fast zu gleichen Teilen zwischen der Erleichterung geteilt waren, daß Venetia Damerel anscheinend gleichgültig war, und der Empörung über die beiläufige Art, mit der er entlassen worden war.

Im allgemeinen ignorierte er Aubreys häufige Rüpeleien, aber diese verächtliche Beschwörung, er solle doch kein Dummkopf sein, ärgerte ihn dermaßen, daß er eine scharfe Antwort unterdrücken mußte. Er erlaubte sich nie, hastig zu sprechen, und deshalb sagte er nach einem Augenblick gemessen: «Ich darf darauf hinweisen, Aubrey, daß dieser bedauerliche Unfall nie passiert wäre, wenn du nicht immer versuchen würdest, ein solcher Draufgänger zu sein.»

«So bedauerlich war es schließlich doch nicht», schaltete sich Venetia ein. «Wie nett von dir, daß du nachschauen kommst, wie es Aubrey geht!»

«Ich muß jeden Unfall als bedauerlich ansehen – um es nicht stärker auszudrücken! –, der dich in eine peinliche Situation bringt», sagte er.

«Nun, ich bitte dich, quäle dich nicht damit ab!» sagte sie beruhigend. «Sicherlich hätte ich Aubrey lieber daheim, weißt du, aber ich bin überzeugt, er selbst hat nicht den leisesten Wunsch, daheim zu sein. Ich muß dir sagen, es könnte keine größere Freundlichkeit geben als die Damerels Aubrey gegenüber, noch seine Gutmütigkeit, mit der er Nurse erlaubt, alles hier genauso anzuordnen, wie sie will. Und du kennst sie ja!»

«Du bist Seiner Lordschaft sehr zu Dank verpflichtet», antwortete er ernst. «Das leugne ich nicht. Aber du wirst wohl kaum von mir erwarten, daß ich deine Schuld für etwas anderes als ein Übel halte, dessen Folgen, fürchte ich, sehr weitreichend sein können.»

«Ja, was für Folgen denn? Ich hoffe, du willst mir genauer sagen, was du damit meinst, denn ich versichere dir, ich habe keine Ahnung! Die einzige Folge, die ich darin sehen kann, ist die, daß wir einen angenehmen neuen Bekannten haben – und ich finde, daß der Verruchte Baron viel weniger schwarz ist, als ihn die Gerüchte gemalt haben!»

«Ich räume dir alle Unkenntnis der Welt ein, Venetia, aber du kannst dir doch unmöglich nicht des Übels bewußt sein, das mit der Bekanntschaft eines Mannes von Lord Damerels Ruf verknüpft ist! Ich selbst möchte ihn nicht zum Freund haben, und erst recht in deinem Fall – der besonders heikel ist – sträubt sich jedes Gefühl gegen eine solche Bekanntschaft!»

«Quousque tandem abutere, Catilina, patientia nostra?» murmelte Aubrey wütend.

Edward schaute ihn an. «Falls du wünscht, daß ich dich verstehe, Aubrey, fürchte ich, bist du gezwungen, englisch zu sprechen. Ich behaupte nicht, ein Gelehrter zu sein.»

«Dann geb ich dir ein Zitat, das zu übersetzen recht gut innerhalb deiner Fähigkeiten ist! Non amo te, Sabidi!»

«Nein, Aubrey, ich bitte dich, nicht!» bat Venetia. «Es ist nichts als Unsinn, und darüber in Wut zu geraten ist das Allerunsinnig ste! Edward hat nur einen seiner Anfälle von Schicklichkeit – und genauso, laß mich dir sagen, hat das Damerel! Denn als du die arme Nurse derart aufgeregt hast, daß sie drohte, dich zu verlassen, mein Liebling, was tat er da anderes als ihr sagen, sie müsse hierbleiben, um meinen Ruf zu schützen! Jeder Mensch könnte glauben, daß ich ein Kind bin, das gerade der Schule entwachsen ist!»

Edwards Gesicht entspannte sich ein bißchen; er sagte mit einem kleinen Lächeln: «Statt einer gesetzten Frau mittleren Alters? Seine Lordschaft hatte sehr recht, und ich zögere nicht zu sagen, daß es mir eine bessere Meinung von ihm gibt. Aber ich wünsche, daß du mit deinen Besuchen bei Aubrey aufhörst. Er ist nicht so schlimm verletzt, daß ihm deine Pflege nötig wäre, und wenn du herkommst, nur um ihn zu unterhalten – nun, ich muß sagen, wie immer du es mir übelnehmen magst, Aubrey, ich denke, du verdienst, daß du dich allein unterhalten sollst! Hättest du nur auf einen älteren und klügeren Berater gehört, dann wäre diese Peinlichkeit nicht passiert. Niemand hat mehr Mitgefühl für das Gebrechen, angesichts dessen es für dich eine Unvorsichtigkeit – ja, ich muß sogar Tollkühnheit sagen! – bedeutet, wenn du ein derart störrisches Geschöpf reiten willst wie diesen Braunen. Ich habe es dir gleich von Anfang an gesagt, aber ...»

«Bildest du dir vielleicht ein, daß Rufus mit mir durchgegangen ist?» unterbrach ihn Aubrey, und seine Augen glitzerten vor kaltem Haß. «Dann irrst du dich sehr! Die volle Wahrheit ist, daß ich ihn angetrieben habe! Es war der Fehler eines schlechten Reiters, der nichts mit meinem Gebrechen zu tun hatte. Dessen bin ich mir sehr gut selbst bewußt – nicht nötig, es mir immer wieder einzuhämmern!»

«Das ist immerhin ein Zugeständnis!» sagte Edward mit einem duldsamen kleinen Lachen. «Alles oder nichts, was? Nun, ich will dich ja nicht schelten. Wir müssen hoffen, daß dir dein Sturz die Lehre erteilt hat, die du nicht von mir annehmen wolltest.»

«Sehr viel wahrscheinlicher», sagte Aubrey schnell. «Ich habe nie gewagt, von dir zu lernen, Edward – genau wie deine Vorsicht hätte ich auch deine Hände erwerben können – quod advertat Deus!»

In diesem Augenblick betrat Damerel das Zimmer und sagte heiter: «Darf ich hereinkommen? Ach, Ihr Diener, Miss Lanyon!» Sie sahen einander kurz an, dann fuhr er leichthin fort: «Ich habe Marston aufgetragen, ein leichtes Mittagessen für Sie heraufzubringen, damit Sie mit Aubrey speisen können, und ich komme, um zu fragen, ob Sie gern Tee dazu trinken möchten – und auch um Ihren Besucher zu entführen, damit er mit mir speist.» Er lächelte Edward zu. «Kommen Sie und leisten Sie mir Gesellschaft.»

«Eure Lordschaft sind sehr gütig, aber ich esse nie zu dieser Zeit», sagte Edward steif.

«Dann kommen Sie und trinken Sie ein Glas Sherry», antwortete Damerel mit unverminderter Liebenswürdigkeit. «Wir wollen unseren ungnädigen Kranken der Pflege seiner Schwester und seiner Krankenschwester überlassen – ja, wir müssen das sogar! Denn Mrs. Priddy, die jetzt einen großen Vorrat an Scharpie zur Verfügung hat, ist gerade dabei, über ihn herzufallen, mit Salben, Kompressen und Wässerchen beladen, und Sie und ich, verehrter Herr, werden hier durchaus nicht willkommen sein!»

Edward schaute verärgert drein, aber da er sich kaum weigern konnte, verjagt zu werden, blieb ihm nichts übrig, als sich zu verabschieden. Auch Venetia ermutigte ihn nicht, zu bleiben. Sie sagte freimütig: «Ja, ich bitte dich, geh, Edward! Ich weiß, du meinst es nett, aber ich kann es einfach nicht zulassen, daß sich Aubrey aufregt! Er ist noch ganz und gar nicht beisammen, und Dr. Bentworth hat mir besonders aufgetragen, ihn ruhig zu halten.»

Er begann zu sagen, daß er Aubrey nicht in Aufregung bringen wolle, aber die moralisierende Ader in ihm machte es ihm unmöglich, sich zurückzuhalten und nicht darauf hinzuweisen, wie unrecht es von Aubrey war, in Wut zu geraten, nur weil ein Mensch, dem seine Interessen aufrichtig am Herzen lagen, es für seine Pflicht hielt, ihn zu tadeln. Bevor er aber noch seine Rede zur Hälfte vorgebracht hatte, unterbrach ihn Venetia, die sah, wie Aubrey sich mühsam auf seinen Ellbogen aufzurichten versuchte, und sagte hastig: «Jaja, aber laß das jetzt! Geh nur!»

Sie drängte ihn zur Tür, die Damerel offenhielt. Edward hatte vorgehabt, sie nach Undershaw zurückzubringen, aber bevor er das noch sagen konnte, hatte sie ihn schon unwiderstehlich aus dem Zimmer gedrängt und Damerel die Tür hinter ihm geschlossen, der tröstend sagte: «Der Junge ist ziemlich zusammengehaut, müssen Sie wissen.»

«Man kann nur hoffen, daß es ihm eine Lehre sein wird!»

«Ich bin davon überzeugt!»

Edward lachte kurz auf. «Ach, wenn man ihn doch zu der Erkenntnis bringen könnte, daß er seine Schmerzen nur seiner eigenen Narrheit verdankt, weil er bei seinem Entschluß bleibt, Pferde zu reiten, die er nicht meistern kann! Was mich betrifft, halte ich es für die Höhe der Unvorsichtigkeit, daß er überhaupt springt, denn mit dem schwachen Bein, wissen Sie ...»

«Aber was für ein Lämmerherz wäre er, wenn er es nicht täte?» sagte Damerel. «Haben Sie je einen Halbwüchsigen gekannt, der Vorsicht für eine Tugend hielt?»

«Ich hätte angenommen, daß er, wenn er weiß, was die Folgen eines Sturzes für ihn sein können –. Aber es ist immer dasselbe mit ihm! Er wird Kritik nie vertragen – wird übellaunig bei der bloßen Andeutung! Ich beneide Sie nicht, daß Sie ihn hier haben!»

«Oh, ich werde ihn nicht kritisieren!» antwortete Damerel. «Ich habe schließlich nicht das geringste Recht dazu!»

Darauf antwortete Edward nicht, sondern sagte nur, als er die Treppe hinunterstieg: «Ich weiß nicht, wann Miss Lanyon vorhat, nach Undershaw zurückzukehren. Ich würde sie mit Vergnügen begleiten und hatte vor, es ihr anzubieten.»

In seiner Stimme klang entschieden ein mürrischer Ton mit. Damerels Lippen zuckten, aber er antwortete ernst: «Ich fürchte, das weiß ich auch nicht. Wünschen Sie, daß ich das für Sie herausfinde?»

«Oh, es ist unwichtig, danke! Ich vermute, sie wird Aubrey nicht verlassen, bis sie ihn aus seinem Trotz herausgeschmeichelt hat – obwohl es für ihn besser wäre, wenn sie ihn verließe.»

«Mein lieber Sir, wenn Sie das Gefühl haben, daß der Stallbursche als Begleiter nicht genügt, dann bitte ich Sie sehr, machen Sie es sich hier bequem, solange Sie wollen!» sagte Damerel. «Ich würde mich anbieten, an Ihrer Stelle mit ihr zu fahren, aber wissen Sie, es ist möglich, daß ich gerade nicht da bin, und ich gebe zu, ich hätte es überhaupt nicht für nötig befunden. Aber wenn Sie das Gefühl haben ...»

«Nein, nein! Es war nur –. Aber wenn sie ihren Stallburschen hier hat, brauche ich natürlich nicht hierzubleiben. Eure Lordschaft sind sehr gütig, aber ich habe mich noch um sehr viel zu kümmern und habe ohnehin schon zuviel von meiner Zeit verschwendet.»

Er verabschiedete sich hierauf sehr formell, lehnte alle Angebote einer Erfrischung ab, drückte aber peinlich sorgfältig formuliert sein Gefühl der Dankbarkeit für alle Güte aus, die Aubrey erwiesen wurde, und seine Hoffnung, daß es bald möglich sein würde, Seine Lordschaft von einer so unwillkommenen Last zu befreien.

Damerel hörte dem allem höflich zu, aber mit einem beunruhigenden Glitzern in den Augen. Er sagte in der nachlässigen Art, die Edward schon früher beleidigt hatte: «Oh, Aubrey wird mich nicht stören!» und nachdem er zum Abschied lässig gewunken hatte, bevor noch Edward den Fuß in den Steigbügel setzte, wandte er sich ins Haus zurück und ging wieder in das Zimmer Aubreys hinauf.