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Sankt Petersburg

Russische Föderation

BORGDANOV WANDERTE AUF DEM ABGEGETRAGENEN Teppich seines Hotelzimmers hin und her. Es war über sechs Stunden her, dass Ilya ihre Unterhaltung so abrupt beendet hatte. Borgdanov befürchtete das Schlimmste – keine Nachricht bedeutete in diesem Fall sicherlich keine gute Nachricht. Mit dem offenen Kontakt zu Ilya hatte er sie bereits der Gefahr der Entdeckung ausgesetzt. Diese Gefahr wuchs mit jedem seiner Versuche, Ilya über dasselbe Wegwerftelefon zu erreichen über das er zuerst mit ihm gesprochen hatte - auf die Wahrscheinlichkeit hin, dass dies das einzige Telefon war, auf das Ilya momentan Zugriff hatte. Er kämpfte gegen den Wunsch an, es noch einmal zu versuchen. Das leise Brummen eines Handys ließ ihn zusammenfahren. Nicht das, das er gerade in Betrieb hatte, klingelte, sondern eines der anderen in seinem Koffer. In Panik warf er den Koffer aufs Bett und beeilte sich, ihn schnellstens zu öffnen, um den Anruf um Himmels Willen nicht zu verpassen.

»Da

»Andrei, Dugan hier …«

»Dyed, sind alle ok? Warum du mich anrufst anstatt Ilya?«

»Zunächst mal, ja, alle sind bei guter Gesundheit, wenn auch etwas mitgenommen. Die Schweine haben versucht, Alex’ Haus in die Luft zu jagen, inklusive der versammelten Mannschaft. Ilya ist es gelungen, im letzten Moment noch alle rechtzeitig nach draußen zu lotsen. Aber er war der Letzte, der das Haus vor der Explosion verließ. Er hat zwei fliegende Ziegelsteine abbekommen, einen an den Kopf und einen in den Oberkörper. Er hat eine Gehirnerschütterung und mehrere angeknackste Rippen. Der Arzt geht davon aus, dass er in einer Woche bis zu zehn Tagen wieder obenauf sein wird. Er – und du – ihr habt uns das Leben gerettet, Andrei. Ich weiß nicht, wie wir euch danken sollen.«

»Nyet. Kein Grund zum Dank, Dyed. Ich froh bin, dass alle ok sind. Erzähle mir von Cassie und Karina. Ilya sagt, sie leben? Ich nicht verstehe. Ich dachte, Rettungsmission war nicht erfolgreich.«

»Das dachten wir auch. Um es kurz zu machen, die Schiffsbesatzung hat sie gerettet und sie in den USA an Land geschmuggelt. Dort nahm Cassie Kontakt mit Ward auf. Sobald wir mehr Zeit haben, werde ich dir alles genauer erklären. Im Moment denkt die Bratstvo jedenfalls, dass die Mädchen tot sind. Und dabei soll es bleiben. Wir haben das Arschloch erwischt, das die Bomben gelegt hat. Er hat keine Ahnung, wer die Mädchen sind und obendrein fehlte ihm die Zeit, es seinen Vorgesetzten gegenüber zu erwähnen. Von daher glauben wir, dass wir im Moment sicher sind.«

»Was ist mit Tanya?«

Es blieb lange still.

»Tanya hat nicht überlebt. Sie starb in dem Container, bevor die anderen gerettet wurden.«

»Sie war tapfere junge Frau«, sagte Borgdanov. »Sieht aus, als ob wir noch weitere Rechnung mit Mafiya zu begleichen haben. Aber wie ist Situation bei euch jetzt?«

»Offiziell sind wir alle tot. Das war Annas Idee, um uns etwas Luft zu verschaffen, während wir unseren nächsten Schritt planen. Momentan sind wir alle in einem geheimen Unterschlupf des MI5 untergebracht.«

»Da. Ist gute Idee. Und bald, denke ich, wird sich Problem unserer Bratstvo-Freunde erledigt haben. Sage Ilya, er mich anrufen soll, sobald er kann. Ich versprochen habe, nicht ohne ihn anzufangen. Ich kann ihm eine Woche geben, dann er muss mich in Prag treffen. Dort ich habe Dinge in Bewegung gesetzt.«

»Wie läuft die Rekrutierung?«

»Viel besser, seit ich Hilfe von altem Freund erhalten habe. Sage Agent Ward, dass ich Gefallen so schnell wie möglich brauche.«

»Wie viele?«

»Sofort nur Familien.«

»Wie viele, Andrei?«

»Siebenundfünfzig.«

»Ah … einschließlich deiner Männer?«

»Nein. Zweiundsiebzig mit Team insgesamt. Plus, natürlich, Ilya und ich, Ilyas Eltern und Karinas Familie. Zweiundachtzig insgesamt. Ist das Problem, Dyed

»Finanziell in keinem Fall. Alex und ich werden unseren Beitrag leisten. Hanley hat zunächst ein wenig gejammert, wird im Endeffekt aber ebenfalls helfen. Aber Jesse wird einen Anfall bekommen. Das sind eine Menge Leute, um sie alle mit neuen Identitäten auszustatten und ins Land zu bringen. Normalerweise arbeitet er mit einer oder höchstens mit zwei Personen.«

»Ich denke, er sehr glücklich sein wird, mit Informationen, die ich für ihn habe. Jetzt er muss mir erst vertrauen. Aber alle Familien so schnell wie möglich aus Russland heraus müssen. Ersten reisen morgen von Sankt Petersburg nach Helsinki in Finnland. Ist kurzer Flug, weniger als eine Stunde. Und es gibt Flüge von anderen Städten nach Helsinki. Keinem wird Muster auffallen. Wenn ich alle nach Helsinki bekomme, wie schnell du kannst Charterflug nach England oder direkt nach USA organisieren?«

»Zwischen vierundzwanzig und achtundvierzig Stunden. Aber besser wäre es wohl, sie zunächst als Touristen nach England zu bringen. Jesse wird drüben in den USA sicher mehr Zeit brauchen.«

»Gut. In drei Tagen alle werden in Finnland sein. Plane Charterflug dementsprechend.«

»Geht in Ordnung«, versprach Dugan. »Wie geht es weiter?«

»Wir werden Bratstvo in Prag angreifen. Ist ihre größte Operation außerhalb Russlands mit weniger Schutzvorkehrungen. Und ist ihr Zentrum von Menschenhandel. Ich bin dabei, Planung abzuschließen und Fluchtweg zu bestimmen. In wenigen Tagen wir werden operationsbereit sein. Wir nur auf Ilya warten.«

»Wir werden da sein.«

»Wir? Nein, Dyed, nicht du …«

»Sie haben mich und die Menschen, die ich liebe, angegriffen. Ich habe jedes Recht, dabei zu sein.«

»Da. Du hast Recht, sicher, aber ich muss Wahrheit aussprechen, Dyed. Du weder optisch ins Bild passt noch du hast ausreichend militärische Erfahrung für solche Mission. Du wertvoll an vielen Orten bist. Auf Schiff, ich dich sicher an meiner Seite haben wollte. Aber hier du wärst Belastung. Außerdem wir jemanden brauchen, der Dinge am anderen Ende organisiert.«

»Nun halte aber mal die Luft an, Alexei …«

»Dyed, ich dir vertraue mit meinem Leben. Ich dir HABE mein Leben anvertraut. Aber jetzt ich dir vertraue mit etwas weit Wichtigerem, mit Leben unserer Familien. Falls schiefgehen sollte und wir nicht zurückkommen, wir wissen müssen, dass es jemanden gibt, der sich um sie kümmert. Andere dort sind unsere Freunde, aber du bist unser Brat – unser Bruder – und jemand zurückbleiben muss, um Familien zu schützen, da

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich geschmeichelt oder beleidigt sein soll.«

»Du beides oder nur eines sein kannst, solange wir wissen, dass du dich um Familien kümmern wirst.«

Dugan seufzte. »Also schön. Ich werde den Entwurf einer E-Mail hinterlegen, sobald ich alles für den Flug von Helsinki aus arrangiert habe. Sieh dir das E-Mail-Konto regelmäßig an.«

Prag

Tschechische Republik

Eine Woche später

Arsov saß an seinem alten Schreibtisch und sah sich ein Video der neuesten Hure an, die gerade abgerichtet wurde. Eine nette junge Brünette aus Ekaterinburg im Bezirk Swerdlowsk. Sie musste Tatarenblut in sich haben. Mit ihrem exotischen Aussehen und dem richtigen Training würde sie zweifellos viel Geld einbringen. Und er musste zugeben, dass Beria gute Arbeit leistete. Durch wiederholte Vergewaltigungen, gefolgt von Perioden der Freundlichkeit, die wiederum von grauenhaften Drohungen gegen ihre Familie unterbrochen wurden, hatte er den Willen des Mädchens bereits gebrochen. Der Rest würde einfach sein.

Arsovs positive Einschätzung von Beria veranlasste ihn gleichzeitig zur Vorsicht. Beria war sowohl kompetent als auch ehrgeizig. Und er konnte seine Unzufriedenheit mit der Zurückstufung nicht unterdrücken, die er dank Arsovs unerwarteter Rückkehr hatte hinnehmen müssen. Bisher hatte Arsov ihn mit Komplimenten und einem Bonus, den er aus eigener Tasche gezahlt hatte, in Zaum gehalten. Der Mann hatte die Prag-Operation während Arsovs Abwesenheit allerdings vollkommen unabhängig und mit großem Erfolg geleitet, und es drängte ihn danach, es wieder zu tun. Arsov würde ihn im Auge behalten müssen. Aber darum würde er sich ein anderes Mal Sorgen machen. Zufrieden damit, dass momentan alles nach Plan verlief, schloss er das Trainingsvideo und öffnete seinen Browser, um einige britische Nachrichtenseiten aufzuschlagen.

In der vorangegangenen Woche hatte er höchst erfreut von der Zerstörung von Kairouz’s Haus und dem Tod aller Bewohner und ihrer Gäste erfahren. Besonders der Tod des Ex-Spetsnaz´-Sergeants hatte ihm Freude bereitet. Enttäuschend war allerdings, dass Borgdanovs Name mit keinem Wort erwähnt worden war. Obwohl ihm die Ungewissheit über den Verbleib des ehemaligen russischen Offiziers Sorgen bereitete, brütete er nicht übermäßig darüber nach. Dennoch durchforstete Arsov weiterhin regelmäßig alle britischen Nachrichtendienste auf zusätzliche Informationen bezüglich der Explosion oder auf eine mögliche Erwähnung von Borgdanovs Namen. Ob er wohl den Chef in Sankt Petersburg persönlich ansprechen sollte? Vielleicht hatte der weitere Informationen zu Borgdanovs Verbleib. Diesen Gedanken verwarf er jedoch schnell wieder. Dem Mann waren unnötige Kontaktaufnahmen verpönt, und Arsov war bemüht, sich die Achtung dieses Mannes wieder zu erwerben. Vielleicht war es einfach am besten, weiter einen guten Job hier in Prag zu machen und die Erinnerung an die unglückliche Situation in London verblassen zu lassen. Er würde abwarten, bis sich ihm eine bessere Gelegenheit bot.

Arsov warf einen Blick auf die Uhr im unteren Bereich seines Bildschirms – 16 Uhr. Zeit, die Klubs und Bordelle aufzusuchen, um alle auf Trab zu halten. Beria hatte sicher alles unter Kontrolle. Dennoch, Nachlässigkeit konnte er sich nicht leisten, da er seine eigene Position im Moment mehr oder weniger nur auf Bewährung innehatte. Er fuhr den Computer herunter und wollte gerade von seinem Schreibtisch aufstehen, als er vom Wohnzimmer her das deutlich identifizierbare Geräusch einer schallgedämpften Pistole hörte, gefolgt von einem Fall.

»Boris?«, rief Arsov. Als sein Leibwächter darauf nicht reagierte, riss er hastig seine Schreibtischschublade auf und zog eine Pistole hervor. »Boris, bist du da?«, erkundigte er sich erneut, während er sich vorsichtig auf die Tür zubewegte.

Arsov sprintete in den Flur hinaus, die Pistole im zweihändigen Griff vor sich. Schnell schwang er die Waffe nach rechts und zurück nach links, bevor er dem Gang hinunter ins Wohnzimmer folgte. Über den Griff seiner erhobenen Pistole hinweg sah er sich im Wohnzimmer um. Es war leer, außer der Leiche von Boris, die auf dem Rücken lag, quer über dem zerstörten Glastisch. Zwischen seinen Augen befand sich ein perfekt rundes Loch, aus dem Blut austrat, dass an der Seite seines Gesichts hinunterlief. Und dann spürte Arsov plötzlich einen Taser gegen seinen Hinterkopf, bevor Tausende von Volt sein Nervensystem überwältigten.

* * *

Ruckartig öffnete Arsov die Augen. Der beißende Geruch von Ammoniak stieg ihm in die Nase. Er sah die Hände, die sich von seinem Gesicht zurückzogen und kämpfte darum, sein Umfeld zu erkennen. Er befand sich im ‚Trainingszimmer‘ seiner Wohnung, in dem das Bett allerdings abgebaut und gegen die Wand geschoben war. Beunruhigender war, dass er nackt und mit weit ausgestreckten Armen und Beinen halbaufgerichtet dasaß. Seine Hand- und Fußgelenke waren an etwas Unbewegliches gefesselt. Seine Genitalien lagen leicht erhöht auf einem flachen Stück Beton, das ihnen untergeschoben worden war. Hinter sich nahm er eine Bewegung wahr. Arsov versuchte, sich umzudrehen.

»Vorsicht, Arsov«, sagte eine Stimme. »Du könntest dir den Hals verrenken, was sehr schmerzhaft sein kann. Das wollen wir doch vermeiden, oder?«

Die körperlose Stimme erhielt ein Gesicht, als sich vor ihm ein hochgewachsener Mann aufbaute.

»Aber entschuldige meine Manieren. Ich bin Major Borgdanov, und dieser Herr hier …« - er nickte einem zweiten Mann zu, der an Arsovs Seite erschien, »… ist Sergeant Ilya Denosovitch.«

»Si… sie sind doch tot«, stotterte Arsov.

»Tut mir leid, dass ich dich enttäuschen muss«, erwiderte Denosovitch.

»Wa… was wollen Sie von mir?«, stammelte Arsov. Borgdanov zuckte mit den Achseln.

»Nichts Schwieriges. Nur ein wenig Kooperation.«

»Sind Sie verrückt? Kooperieren, mit Ihnen? Wissen Sie, was die Bratstvo mir antun würde? Und egal, was Sie mit mir machen, denken Sie wirklich, dass Sie damit durchkommen? Sie sind so gut wie tot, genau wie Ihre Familien. Nur wenn Sie mich sofort freilassen, werde ich sicherstellen, dass Sie die Einzigen sind, die sterben werden. Das ist Ihre letzte Chance, Ihre Familien zu retten.«

Borgdanov nickte. »Danke für dieses freundliche und großzügige Angebot, aber für die Sicherheit unserer Familien haben wir bereits selbst gesorgt.«

»Sie hirnverbrannte Trottel! Meine Männer sind sicher schon auf dem Weg hierher. Ich schlage vor, Sie verschwinden, solange das noch möglich ist.«

»Ach ja, deine Männer. Damit meinst du wohl die vierunddreißig Bratstvo-Schläger, die deine kleine ‚Armee‘ hier in Prag ausmachen, um eure Klubs und die Hurenhäuser zu überwachen? Wenn ja, dann muss ich dir leider mitteilen, dass sie alle ziemlich tot sind und gerade in eurem zentralen Warenhaus aufgestapelt werden, von dem aus ihr eure Pornos und Drogen verteilt.«

Borgdanov sah nachdenklich aus. »Wirklich überraschend, wie einfach es ist, unvorbereitete Ziele mit relativ wenig ausgebildeten Männern und schallgedämpften Waffen auszumerzen. Selbst die ehemaligen Spetsnaz unter euren Soldaten boten keine große Herausforderung. Der Überraschungsmoment ist wirklich ausschlaggebend, da

»Sie lügen!«

»Oh nein, sicher nicht.« Borgdanov sah auf die Uhr. »Und in genau dreißig Minuten werden die Leichen, zusammen mit euren Pornos und allen Drogen, in einem rasenden Warenhausfeuer untergehen.«

»Damit werden Sie nie durch…«

»Ich denke, das werden wir. Aber bevor du uns jetzt mit den zahmen Polizisten drohst, die die Bratstvo in der Tasche hat, will ich dir die Mühe sparen. Chefinspektor Pavel Makovec wurde vor genau acht Stunden von einem Heckenschützen getötet. Kurz danach erhielten achtzehn Prager Polizeibeamte, die auf eurer Gehaltsliste stehen, einen anonymen Anruf, der sie darüber informierte, dass sie als nächstes an der Reihe sind, falls sie euch zur Hilfe kommen sollten. Alle erhielten einen Link und ein Passwort zu einer Webseite, die ihre Beteiligung an Bratstvo-Aktivitäten im Detail dokumentiert. Weiterhin wurden sie gewarnt, dass eine weitere Unterstützung eurer Organisation dazu führen wird, dass diese Informationen an die internationale Presse weitergeleitet werden. Und zum Schluss versicherten wir ihnen, dass ihre ‚Entschädigung‘ weiter fließen wird, falls sie von nun an mit uns kooperieren. Alle erklärten sich einverstanden.«

Borgdanov lächelte. »Du siehst also, deine loyalen Polizisten arbeiten nun für mich. Ich vermute, dass die Bratstvo hier in Prag lange, lange Zeit keinen Fuß mehr fassen wird. Vielleicht solltest du eine Kooperation doch in Erwägung ziehen, da

Arsov sah sich Borgdanov genau an. Der Ex-Spetsnaz schien nicht zu scherzen. Vielleicht war es an der Zeit, auf Nummer sicher zu gehen. Später würde ihm schon etwas einfallen, es der Bratstvo gegenüber zu vertuschen. Zunächst aber ging es erst einmal um sein Überleben.

»Also schön«, nickte Arsov. »Was wollen Sie wissen?«

»Nichts sonderlich Schwieriges. Fangen wir mit den Ausweisen an. Wir haben über einhundert Frauen und Kinder aus eurem kleinen Unternehmen befreit. Wo sind ihre Ausweise?«

»Die Ausweise der Frauen befinden sich in meinem Safe im Büro. Ausweise für alle Kinder habe ich nicht. Die meisten wurden von der Straße aufgelesen. Normalerweise statten wir sie erst mit falschen Papieren aus, sobald wir sie verlegen wollen.«

»In Ordnung. Die Kombination zum Safe?«, forderte Borgdanov. Denosovitch hielt einen Notizblock und einen Bleistift bereit.

Arsov machte die gewünschten Angaben, die Denosovitch aufschrieb. Er verließ das Zimmer. Kurze Zeit später kehrte er zurück und nickte Borgdanov bestätigend zu.

»Ungefähr achtzig Ausweise«, spezifizierte Denosovitch.

Borgdanov sah auf Arsov hinunter. »Siehst du, das war nicht schwer, was, Arsov?«

Arsov schüttelte den Kopf. »Was wollen Sie sonst noch wissen?«

Borgdanov wirkte überrascht. »Wissen? Nichts. Die Information, die wir von dir wollten, haben wir. Jetzt wollen wir nur noch, dass du stirbst – einen langsamen und schmerzhaften Tod. Unglücklicherweise wird er wohl auch etwas lautstark sein, aber angesichts der bisherigen Nutzung des Zimmers gehe ich davon aus, dass es schalldicht ist.« Borgdanov zuckte mit den Achseln. »Und wenn nicht, sind die Nachbarn sicher daran gewöhnt, Schreie zu hören und sich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern, da

Benommen saß Arsov da, während Borgdanov Denosovitch ein zweites Mal auffordernd zunickte und der den Raum verließ.

»Warten Sie«, brachte Arsov hervor. »Sie sollten mich am Leben halten. Ich kann Ihnen helfen. Ich weiß viel. Ich weiß über viele Dinge Bescheid.«

»Da bin ich mir sicher, aber wir haben weit bessere Ressourcen. Und ganz nebenbei, WIR werden dich nicht töten. Jemand anders hat sich dieses Recht reserviert.«

»Hallo, Arsov«, hörte er eine Stimme zu seiner Rechten. Er drehte den Kopf. Eine Frau mit kurzem schwarzem Haar betrat an Denosovitchs Seite den Raum. Diese Stimme kannte er – aber nicht die … Karina. Natürlich, Denosovitchs Nichte.

»K… Karina? Was machst du hier?«

»Ach, jetzt ist es ‚Karina‘, was, Arsov? Nicht ‚Hure‘ oder ‚Nutte‘, oder einen der anderen Kosenamen, mit denen du uns überschüttet hast? Wie schön, dass du dich an meinen Namen erinnerst. Aber was ist mit dem, was du gerufen hast, während ich noch die Kraft hatte, gegen dich anzukämpfen? Erinnerst du dich, was du immer gesagt hast, als du mich geschlagen und vergewaltigt oder zugesehen hast, wie die anderen es dir gleichtaten? Ich erinnere mich gut daran. Wie ging es noch? Ach ja. Du riefst immer: »Das wird dich lehren, du kleine Schlampe. Das wird dich lehren, Widerstand zu leisten.«

Arsov war so auf das Gesicht und die Stimme fixiert gewesen, dass ihm alles andere entgangen war. Jetzt zuckte er zusammen, als Karina auf seine nackten Genitalien hinuntersah und lächelnd einen Vorschlaghammer anhob, den sie an ihrer Seite getragen hatte.

»Und zu guter Letzt, Arsov, sieht es tatsächlich so aus, als ob ich dir doch Widerstand geleistet hätte.« Mit beiden Händen hob Karina den Hammer über ihren Kopf an.

»Das ist für mich und für Tanya und für alle anderen«, kündigte sie an und begann, auf Arsov zuzugehen.

* * *

Ilya saß im Wohnzimmer auf der Couch und hielt eine weinende Karina in den Armen. Langsam bekam sie sich wieder unter Kontrolle.

»E… es tut mir so leid, Onkel Ilya.«

»Ganz ruhig, meine kleine Karinka«, tröstete Ilya sie. »Dachtest du, ich WOLLTE, dass du diese schreckliche Sache durchziehst? Ich habe es nur zugelassen, weil du darauf bestanden hast. Aber es hat mir das Herz gebrochen. Ich bin sehr FROH, dass du es nicht tun konntest. Die Monster haben dich noch nicht eingeholt und dir die Humanität gestohlen. Du bist immer noch unsere kleine Karinka. Unglaublich tapfer, ja, aber nicht hart. Nicht zerbrechlich und bitter.«

Karina richtete sich auf und sah ihren Onkel an. »Was willst du damit sagen?«

»Ich will sagen, dass ein wenig von dir selbst verloren geht, wenn du jemandem das Leben nimmst – egal wie verdient es auch sein mag. Jemand, der das noch nie getan hat, kann das nicht verstehen. Und ich kann es dir nicht besser erklären. Manchmal, wenn du sehr zornig bist, ist es ein gutes Gefühl - wie Zahnschmerzen, die endlich aufhören - aber danach verwandelt es sich in ein leeres Gefühl. Ich denke, dass es dir ein wenig deiner Seele nimmt.«

»Aber Onkel Ilya, du bist Soldat, also …«

»Nein, auch ich bin nicht immun dagegen, Karinka. Aber Soldaten kennen Tricks. Wir täuschen uns selbst, indem wir unsere Feinde nur als ‚Ziele‘ bezeichnen. In einem Fall wie diesem, in dem der Kampf um sehr Persönliches geht, zahlen auch wir den Preis, wenn wir töten. Wenn es darum geht, unsere Familien zu schützen, ist es den Preis wert. Ich bin nur froh, dass du ihn nicht hast zahlen müssen. Du hast genug gelitten, und es ist wirklich mein Job, da

Karina wurde still und umarmte ihn eng. Ilya, der ihre Umarmung erwiderte, küsste sie auf die Stirn und befreite sich dann sanft aus ihren Armen.

»Warte hier. Ich muss zum Major. Es wird bald vorüber sein.« Ilya erhob sich.

Er kehrte in das Trainingszimmer zurück und schloss hinter sich die Tür. Als Karina mit dem Hammer auf ihn zugekommen war, hatte Arsov die Kontrolle über seine Körperfunktionen verloren, Der Gestank im Raum war beinahe unerträglich. Zusammengefallen und wimmernd lag Arsov in seinen Exkrementen, während der Major mit verschränkten Armen an der Wand lehnte. Borgdanov sah hoch.

»Ich denke, sein Schicksal liegt in deinen Händen. Was willst du mit ihm tun, Ilya?«

Ilya schüttelte den Kopf. »Ich hatte vor, ihn leiden zu lassen, aber er ist es nicht wert. Er ist nur eine Kakerlake, der ich nicht erlauben werde, mir mehr von meiner Menschlichkeit zu stehlen, als sie es bereits getan hat.«

Borgdanov nickte. »Da, du hast Recht. Dann zerquetsche sie schnell mit dem Fuß und lass uns von hier verschwinden.«

Ilya schoss der Kakerlake zwischen die Augen.

Regionales Hauptquartier

Inlandsgeheimdienst (FSB)

Sankt Petersburg

Russische Föderation

Vladimir Glazkov sah überrascht und verärgert nach unten, als das Handy in seiner Schreibtischschublade klingelte. Das Telefon war nur für die Einwegkommunikation gedacht, außer in extremen Notfällen. Angerufen zu werden konnte also nur eine schlechte Nachricht bedeuten – oder einen Idioten, der es bereuen würde, ihn gestört zu haben. Er öffnete die Schublade und sah auf die Nummer. Arsov! Das hätte er sich denken können. Er unterdrückte einen Fluch und nahm den Anruf entgegen.

»Da

»Aha, Genosse Glazkov. Guten Tag. Tut mir leid, Sie zu stören«, meldete sich eine fröhliche Stimme.

Glazkov erstarrte. Niemand außer den höchsten Ebenen seiner Organisation kannte seine wahre Identität. Arsov gehörte nicht dazu. Und es war auch nicht die Stimme dieses Trottels. Er zögerte und schwankte zwischen einem sofortigen Auflegen und der Notwendigkeit, mehr über den Anrufer zu erfahren.

»Sie haben die falsche Nummer. Hier gibt es niemanden dieses Namens.«

Ein hörbarer Seufzer erklang. »Also schön, wenn Ihnen ‚Chef‘ mehr zusagt, werde ich Sie eben so ansprechen.«

»Wer sind Sie?«

»Oh, entschuldigen Sie bitte. Mein Name ist Major Andrei Borgdanov, ehemaliger Spetsnaz, aber das wissen Sie ja bereits. Wie Sie sehen, rufe ich vom Telefon Ihres verblichenen Mitarbeiters Sergei Arsov an.«

»Ich kenne niemanden mit diesem Namen, Major … Borgdanov, sagten Sie? Es tut mir leid, aber ich muss mich wiederholen. Sie haben die falsche Nummer gewählt.«

»Und dennoch unterhalten wir uns weiter. Aber vielleicht können wir dieses Spielchen abkürzen. Ich gehe davon aus, dass Sie an Ihrem Schreibtisch im FSB sitzen. Wenn ich Sie bitten dürfte, sich Ihre E-Mails anzusehen – nicht die mit Ihrer FSB-Adresse – sondern die ‚geheime‘, die verschlüsselte, die Sie dazu benutzen, mit dem Rest der Bratstvo-Führungsriege zu kommunizieren.«

»Major, noch einmal, ich denke, Sie sind falsch informiert.« Glazkov bemühte sich, die Angst aus seiner Stimme zu halten, während seine Finger über die Tastatur flogen. Schon nach wenigen Sekunden hatte er die einzige E-Mail, die von einem anonymen Sender stammte, gefunden und sie geöffnet. Mit wachsender Panik las er sie durch.

»Sie sollten sie inzwischen geöffnet haben«, meldete Borgdanov sich wieder zu Wort. »Sie haben das organisatorische Schaubild gefunden, das Ihre wahre Identität enthüllt, zusammen mit den Identitäten der anderen Bratstvo-Anführer, sowie die Positionen, die sie in der Regierungsstruktur oder in rechtmäßigen Firmen einnehmen. Ich möchte betonen, dass dies nur ein kleiner Auszug der Informationen ist, die ich in meinem Besitz habe.«

»Was wollen Sie?«

»Es ist keine Frage des Wollens, Glazkov, da ich mir das, was ich will, nehmen werde. In diesem Anruf geht es mehr um den Austausch von Informationen, um Sie davor zu bewahren, einen Fehler zu machen. Ein Höflichkeitsanruf, sozusagen.«

»Sprechen Sie weiter.«

»Vor wenigen Stunden haben wir Ihre Prager Operation zerstört. All Ihre Männer, Mr Arsov eingeschlossen, sind tot. All Ihre Opfer wurden befreit und an einen sicheren Ort gebracht. Ihr Warenhaus voller Drogen, Pornos und illegaler Waffen steht momentan in Flammen. Zudem wird Ihnen zukünftig der Schutz der Prager Polizei abgehen. Falls Sie je den Versuch unternehmen sollten, vor Ort wieder Fuß zu fassen, werden Sie feststellen müssen, dass Ihre Avancen dort höchst unerwünscht sind. Sie verstehen mich?«

»Sie spielen ein gefährliches Spiel, Borgdanov. Sie wissen natürlich, dass Sie ein toter Mann sind?«

»Sind wir vom Zeitpunkt unserer Geburt an nicht alle tote Männer, Glazkov? Allein die Frage der Art und des Zeitpunkts unseres Todes steht offen. Ich glaube, dass meiner friedlich sein und noch lange auf sich warten lassen wird.«

»Glauben Sie, was Sie wollen. Sie sind der Bratstvo nicht gewachsen. Wie ist Ihnen nur in den Sinn gekommen, sich gegen uns zu stellen?«

»Aus dem einfachen Grund, da die Informationen, die in Ihrer E-Mail enthalten sind und weit, weit mehr, weltweit auf mehreren verschlüsselten Servern versteckt wurden. Im Fall meines unziemlichen Todes, aus welchem Grund auch immer, werden sie innerhalb von wenigen Stunden sowohl an jede große Ermittlungsbehörde als auch an jeden größeren Nachrichtensender verschickt werden. Die Welt wird wissen, wer Sie wirklich sind, was Sie tun und wie Sie vorgehen – alles hinreichend detailliert, um Ihre Operation zum Stillstand zu bringen.«

»Na und? Natürlich wird es unangenehm sein, so identifiziert zu werden. Aber hier in Russland sind wir unantastbar. Denken Sie wirklich, wir scheren uns um die Meinung der Welt?«

»Nein, aber ich denke, Ihnen liegt etwas an dem Geld, das den Einfluss und die Macht kaufen kann, die Ihnen in Russland so zusagt. Wenn ich die Daten richtig lese, stammen 75 Prozent Ihres Einkommens – um genau zu sein, 76.73 Prozent Ihrer neuesten Cash-Flow-Analyse nach – aus den Operationen in fremden Ländern. Wie lange wird Ihr Königreich überstehen – selbst hier in Russland – ohne sich mit Ihrem Bargeld den Einfluss erkaufen zu können, den Sie gegenwärtig genießen?«

Wie vom Donner gerührt saß Glazkov da und sah, wie sich alles, was er aufgebaut hatte, vor ihm in Luft auflöste. Borgdanov sprach erneut.

»Glazkov?«

»Na schön, Borgdanov. Was wollen Sie? Einen Teil des Geschäfts, nehme ich an?«

»Wir haben nicht vor, Ihre schmutzigen Spiele zu spielen, Glazkov. Wir haben weder vor, Ihre Konkurrenten noch Ihre Partner zu werden. Stattdessen werden wir uns heute auf einen Waffenstillstand einigen. Sie akzeptieren, dass Ihre Operation in Prag zu Ende ist, Sie ziehen sich aus Großbritannien zurück und unterlassen jeden Versuch, Rache an denjenigen zu nehmen, die mit dieser Affäre in Verbindung stehen. Dafür werden wir Sie in Ruhe lassen.«

»Heute?«

»Nichts ist für die Ewigkeit bestimmt, Glazkov«, erwiderte Borgdanov. »Ich zweifle keine Sekunde daran, dass Sie unmittelbar nach dem Ende unseres Gesprächs alles daran setzen werden, uns zu eliminieren – egal, wozu Sie im Moment Ihr Einverständnis erklären. Falls Sie dieser Neigung folgen möchten, schlage ich Ihnen allerdings vor, es zunächst in limitiertem Umfang zu versuchen, damit Sie die Vereitelung Ihrer Versuche weniger schmerzhaft empfinden werden. Denken Sie immer daran, dass ich die Informationen meiner Wahl veröffentlichen und damit sicherstellen kann, dass der Schaden, den die Veröffentlichung anrichtet, weit größer sein wird als der, den Sie uns zufügen können. Zudem sollten Sie sich bewusst sein, dass unser Waffenstillstand ein abruptes Ende nehmen wird, sobald eine Ihrer Aktivitäten meine Leute oder deren Familien beeinträchtigt. Dann gibt es Krieg.«

»Sie sind ein arrogantes Schwein, Borgdanov.«

»Ich bevorzuge den Begriff ‚selbstbewusst‘.«

»Und nur die Zeit wird uns zeigen, ob dieses Selbstbewusstsein gerechtfertigt ist. Gibt es sonst noch etwas, das wir diskutieren sollten?«

»Nur noch eine Kleinigkeit. Die E-Mail, die ich Ihnen zukommen ließ, enthält die Bankeninformation eines der Bratstvo-Konten in Liechtenstein. Wie ich Ihnen in der E-Mail mitteilte, habe ich mir die Freiheit erlaubt, eine kleine Abbuchung vorzunehmen, um unsere Ausgaben zu decken.«

Glazkov wandte sich wieder seinem Monitor zu. Beim Lesen der Nachricht erlitt er beinahe einen Herzstillstand.

»SIE HABEN DAS KONTO GERÄUMT! FÜNFZIG MILLIONEN DOLLAR!«

»Ein Teil davon wird dazu verwendet werden, Ihre Opfer und deren Familien umzusiedeln und ihnen Therapie anzubieten. Und den Rest, nun ja, den brauchen wir, um weiterführende Operationen zu finanzieren. Wir werden versuchen, mit dem, was übrig bleibt, auszukommen. Die Planung einer Verteidigung gegen potenzielle zukünftige Angriffe würde sicher teuer werden. Diesbezüglich hängt natürlich viel von Ihnen ab.«

Glazkov kämpfte um seine Fassung, während die Stille wuchs.

»Sie sind so gut wie tot, Borgdanov«, sagte er endlich.

»Ohne Zweifel. Aber nicht sofort.«

Glazkov seufzte. »Nein. Nicht sofort.«

»Ich darf also davon ausgehen, dass wir für den Moment ein Abkommen haben?«

»Da. Für den Moment.«

»Wunderbar. Es war nett, mit Ihnen zu plaudern, Genosse Glazkov. Und versuchen Sie, die Dinge in Perspektive zu halten, da?«, beendete Borgdanov das Gespräch, bevor Glazkov das Klicken der unterbrochenen Verbindung hören konnte.

Glazkov stützte die Ellbogen auf seinen Schreibtisch und vergrub das Gesicht in seinen Händen.