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Katholische Kirche St. Mary’s
London, England
DAS ENDE DES GEDENKGOTTESDIENSTES STELLTE SICH als der beschwerlichste Teil heraus. Vater O’Malley erteilte seinen Segen und begab sich mit dem Russisch-Orthodoxen Priester zum Ausgang, um die Trauernden beim Verlassen der Kirche zu verabschieden. Der Rest der Anwesenden wartete respektvoll darauf, dass die Familie die Kirche als Erste verlassen würde. Als sie endlich aufstanden, brach Alex zusammen. Er sank auf die Bank zurück und Tränen strömten ihm die Wangen hinunter. Seine Schultern hoben und senkten sich, als ob er körperlich unfähig sei, sich zu erheben. Dugan und Ilya halfen ihm auf die Beine und aus der Kirche hinaus zum wartenden Wagen.
Anstelle der Familie fiel nun Dugan die Aufgabe zu, die Beileidsbekundungen und guten Wünsche der Trauergäste entgegenzunehmen – eine Aufgabe, die ihm durch die Anwesenheit von Vater O’Malley und dem russischen Priester (an dessen Namen er sich nicht erinnern und den er noch weniger aussprechen konnte) wesentlich erleichtert wurde. Nachdem er endlich die Hände der letzten Gäste geschüttelt hatte, eilte Dugan schnellstens davon, bevor einer der beiden Geistlichen vorschlagen konnte, das Haus aufzusuchen, um der trauernden Familie Trost zu spenden.
Auf dem Weg zum Parkplatz sah er auf die Uhr. Anna, Ilya und Nigel warteten am Wagen auf ihn, während Gillian und Alex mittlerweile zuhause sein sollten. Und er hatte keine Ahnung, wie alles ablaufen würde. Außer die Mädchen ins Haus zu schleusen, hatten Ward und er keine weiteren Pläne gemacht. Zwischenzeitlich war Dugan aufgegangen, dass sie sich die Sache hätten besser überlegen sollen. Was genau würden sie sagen, vielleicht »Überraschung! Eure Tochter ist nicht tot!«, und dann würde Cassie aus einem Kuchen springen?
Anna und die anderen hatten ihn kommen sehen und saßen bereits im Wagen, als er hinter das Steuerrad rutschte. Anna saß auf dem Beifahrersitz, während die beiden Männer den Rücksitz einnahmen. Dugan wollte gerade den Wagen anlassen, als er innehielt und sich in seinen Sitz zurückfallen ließ. Ob es wohl klüger wäre, ihnen die Nachricht getrennt voneinander beizubringen? Dann könnte Anna ihm helfen, den besten Weg zu finden, es Gillian und Alex mitzuteilen. Vorausgesetzt natürlich, dass ihn Ilya und Nigel nicht direkt hier auf dem Friedhof totschlagen würden.
»Tom«, erkundigte sich Anna. »Stimmt etwas nicht?«
Dugan schüttelte den Kopf und wandte sich halb in seinem Sitz um, um sie alle ansehen zu können.
»Nein. Aber ich muss euch etwas sagen. Es klingt total verrückt, aber vertraut mir bitte und gebt mir einige Minuten Zeit zur Erklärung.« Er hielt inne. »Cassie und Karina sind nicht tot.«
Eine lange Zeit herrschte absolute Stille; dann brach Ilya das Schweigen.
»Da, Dyed, ich weiß. Ich habe Predigt gehört. Sie sind bei Gott im Himmel. Vielleicht ist wahr, vielleicht nicht. Ich weiß es nicht, aber ich bin nicht Strenggläubiger. Aber … aber ich möchte glauben, das Priester Recht hat.«
»Davon rede ich nicht. Ich will sagen, dass beide noch AM LEBEN sind. Nicht im Himmel, sondern hier in London. Ich habe sie gestern Morgen selbst gesehen und mittlerweile sollten sie bei Alex und Gillian im Haus sein.«
»Was soll das werden?«, fragte Nigel aufgebracht. »Wir haben sie sterben sehen. Ich … hielt ihren Arm oder den Arm eines der Mädchen. Falls das ein Yankee-Trauerwitz sein soll, ist er nicht amüsant.«
Dugan schüttelte erneut den Kopf. »Die Männer auf dem Schiff haben den Container geöffnet, bevor sie ihn über Bord warfen. Sie haben Cassie und Karina gerettet. Tanya war bereits tot. Ihre Leiche ließen sie im Container zurück. Sie war es, die du gesehen hast, Nigel.«
»Warum wir erfahren das erst jetzt?«, rief Ilya. »Warum haben sich Mädchen nicht gemeldet, nachdem Schiff angelegt hat?«
»Weil sie die Männer beschützen wollten, die sie gerettet haben. Sie hatten keine Ahnung, dass wir ganz in der Nähe waren. Die Besatzung hatte den Befehl, den Container über Bord zu werfen. Die russische Mafia hätte ihre Familien getötet, falls sie erfahren hätte, dass die Mädchen gerettet …«
»Dugan!«, unterbrach Anna ihn. »Fahr einfach los! Die Details kannst du uns auch auf dem Weg erzählen.«
»Da«, stimmte Ilya zu, gefolgt von einem ‚Ja, verdammt noch mal‘, von Nigel.
»Dann sind wohl alle einer Meinung.« Dugan startete den Wagen.
Außerhalb der Kairouz-Residenz
London, England
Fedosov sah, wie der Wagen in die Einfahrt einbog. Die Köchin saß vorne neben dem Fahrer, Kairouz und seine Frau saßen hinten. So weit, so gut. Jetzt musste nur noch dieser Dugan erscheinen, dann konnte er den Job erledigen und von hier verschwinden – vorausgesetzt, dass die Ankunft des zweiten Amerikaners und der Frauen die Dinge nicht verkomplizieren würde. Er zog sich die Kopfhörer über, um zu verfolgen, was sich drinnen abspielte. Er hörte, wie sich die Hintertür öffnete und dann einen überraschten Ausruf.
»Jesse?«, hörte er Kairouz’ Frau sagen. »Sie haben mich erschreckt. Was machen Sie denn hier?«
Fedosov konnte das Zögern in der Stimme des Mannes hören.
»Ich … ich bin gekommen, um Ihnen mein Beileid auszusprechen«, sagte der Mann. »Es tut mir so leid.«
»Vielen Dank«, antwortete die Frau. »Aber wieso sind Sie nicht zur Kirche gekommen … und wie kamen Sie ins Haus? Die Tür war verschlossen und die Alarmanlage war eingeschaltet.«
»Ich … ich bin gerade erst eingetroffen und wusste, ich würde den Gottesdienst verpassen. Ich rief Tom an. Der sagte mir, wo der Ersatzschlüssel war und gab mir den Alarmcode …«
»ICH BRAUCHE WAS ZUM TRINKEN, VERDAMMT«, kommandierte eine schleppende britische Stimme, begleitet von dem plötzlichen Geräusch von auf Kacheln rutschenden Stuhlbeinen.
»ALEX! Vorsicht! Du wirst sonst fallen«, warnte die Frau.
»Keine Sorge«, sagte eine Frau mit irischem Akzent. »Ich werde ihn im Büro unterbringen. Kommen Sie, Mr Kairouz. Seien Sie ein braver Mann.« Fedosov hörte, wie sich stolpernde Schritte zurückzogen und Stille eintrat.
»Tom hat gesagt, dass es ihn schwer getroffen hat«, erklang die Stimme des dunkelhäutigen Amerikaners wieder.
»Ja, es fällt keinem von uns leicht«, erwiderte die Frau. »Zurück zu Ihrer …«
»Wo ist Tom?«, fragte der Amerikaner schnell. »Ich bin davon ausgegangen, dass er mit Ihnen kommen wird.«
»Er wird gleich da sein«, versprach die Frau. »Er wurde an der Kirche aufgehalten. Es tut mir leid, wir haben niemanden erwartet. Darf ich Ihnen etwas anbieten? Einen Kaffee vielleicht? Ich werde Mrs Hogan bitten, uns eine Kanne zu kochen.«
Fedosov sah hoch, als ein Wagen in die Straße einbog und an ihm vorbeiraste. Am Steuer konnte er Dugan erkennen und eine rothaarige Frau auf dem Beifahrersitz, zusammen mit zwei Männern auf dem Rücksitz, die er nicht identifizieren konnte. Mit Schwung fuhr der Wagen in die Einfahrt ein und verschwand dann hinter einer Kurve. Sekunden später hörte er das Zuschlagen von Autotüren und dann das Aufstoßen der Küchentür.
»KARINA?«, brüllte eine tiefe Männerstimme mit russischem Akzent und danach – das totale Chaos.
Die Kairouz-Residenz
London, England
Auf dem Weg zum Haus der Kairouz’ erläuterte Dugan die Geschehnisse der letzten Tage. Seine Erkundigungen nach dem besten Weg, Alex und Gillian zu informieren, wurden von Nigels und Ilyas Stimmen übertönt, die darauf bestanden, alle Einzelheiten des Überlebens der Mädchen zu erfahren. Als er in die Einfahrt zu Kairouz’ Haus einbog, hatte er immer noch keine Idee, was er tun sollte. Die Autotüren seiner Passagiere auf dem Rücksitz standen bereits offen, bevor Dugan das Auto vor den Garagen zum Stillstand bringen konnte.
»Wartet«, rief Dugan den Männern erfolglos nach. Besorgt warf er einen Blick auf Anna, die zwischen den Sitzen nach ihren Krücken fischte.
»Nun geh schon«, forderte Anna ihn auf. »Geh schon vor. Du solltest so schnell wie möglich im Haus sein. Die wenigen Schritte bis zur Tür schaffe ich auch alleine.«
»Du bist sicher …«
Anna lächelte. »GEH!«
Dugan nickte und lief los. In der Küche herrschte das absolute Chaos. Mit verwirrtem Gesichtsausdruck standen Jesse Ward und Gillian Kairouz stocksteif in der Küche. Alex lehnte mit einem Glas in der Hand im Türrahmen seines Büros. Hinter ihm stand Mrs Hogan, bereit, ihn zu stützen, sollte sich die Notwendigkeit ergeben. Ilya und Nigel standen am Fuß der Treppe und riefen aus Leibeskräften die Namen der Mädchen, die von Antwortrufen aus dem oberen Stockwerk erwidert wurden.
Die beiden Männer stürmten die Treppe hinauf, während der Rest der Gruppe verständnislos und entgeistert zusah. Und dann konnte Dugan Cassies unverkennbares glückliches Lachen hören, und alles passierte gleichzeitig.
Das Geräusch von Glasbruch, als Alex seinen Cognacschwenker fallen ließ und sich im Türrahmen aufrichtete, ließ alle zu Bewusstsein kommen. Und dann waren die Mädchen die Stufen hinunter und der Gang war übervoll, als alle ihnen entgegeneilten, sie küssten und umarmten und sich an sie klammerten. Die Freude über die Rückkehr ihrer Lieben war grenzenlos, ohne einen zweiten Gedanken an das WARUM dieses außergewöhnlichen Wunders.
Dugan und Ward blieben in der Küche zurück und hofften, dass diese glückliche Stimmung ihnen zu Gute kommen würde, sobald allen aufging, dass sie den Augenblick der Freude bewusst verzögert hatten. Dugan hörte, wie sich die Tür hinter ihnen öffnete und eilte hinüber, um Anna behilflich zu sein. Sie grinste ihn an und marschierte auf ihren Krücken den Flur hinunter an ihm vorbei, um Anteil an diesem glücklichen Wiedersehen zu haben.
Wie sich herausstellte, hätte es kaum einen Unterschied gemacht, wenn die Mädchen aus einem Kuchen gesprungen wären, dachte Dugan.
Außerhalb der Kairouz-Residenz
London, England
Fedosov fing den Wirrwarr der Stimmen mit seinem Kopfhörer auf und verfluchte diese unerwartete Komplikation. Der Lärm war ohrenbetäubend und schien von überall herzukommen. Mehrere seiner Abhörgeräte fingen ihn zur gleichen Zeit auf. Wo genau sich die Ziele im Haus aufhielten, konnte er demzufolge nicht bestimmen. Das war ein Problem.
Trotz der Tatsache, dass der Chef ihm freie Hand in der Hinnahme eines Kollateralschadens gelassen hatte, hatte Fedosov nicht unüberlegt gehandelt. Sie befanden sich in einer eleganten Nachbarschaft, bewohnt von reichen Leuten, die über beträchtliche politische Macht verfügten. Nur ein Haus weiter in dieser baumbestandenen, ruhigen Straße wohnte ein Mitglied des britischen Parlaments. Eine Sprengladung, die die komplette und vollkommene Zerstörung des Hauses der Kairouz’ garantiert hätte, hätte auch den einflussreichen Nachbarn Tod und Zerstörung bringen können. Deshalb hatte Fedosov bei der Anbringung seines Sprengstoffs im Keller Vorsicht walten lassen. Den Großteil hatte er direkt unter dem Wohnzimmer und der Küche verborgen, wo er logischerweise erwarten durfte, dass seine Ziele dort am ehesten zusammen kommen würden. Über den Rest des Hauses und entlang seiner Peripherie hatte er kleinere Brandsätze gelegt, um sicher zu gehen, dass die Trümmer der großen Explosionen von einer rasenden Feuerbrunst vernichtet werden würden. In der unwahrscheinlichen Situation, dass eines seiner Zielobjekte die ursprüngliche Explosion überleben sollte, würde es ganz sicher dem darauffolgenden Feuer zum Opfer fallen. Insgesamt ein ausgezeichneter Plan, aber einer, der von seiner Fähigkeit abhängig war, eindeutig bestimmen zu können, zu welchem Zeitpunkt seine Zielobjekte sich entweder gemeinsam im Wohnzimmer oder in der Küche aufhalten würden.
Frustriert hörte Fedosov dem Durcheinander zu, das ihm seine Abhörgeräte übermittelten. All diese zusätzlichen Stimmen in aufgeregter Konversation überstiegen seine Wahrnehmungsgabe. Wer hielt sich wo auf? Er verfluchte sich selbst, nicht genug Voraussicht gezeigt zu haben, mehr Videokameras zu installieren. Andererseits hatte er so wenig Spuren wie möglich hinterlassen wollen. Zusätzliche Geräte brachten ein größeres Risiko der Entdeckung mit sich.
Flüchtig überlegte er, den Anschlag vorläufig zu verschieben. Aber nein, er hatte dem Chef versprochen, dass es heute passieren würde – der Mann erwartete Ergebnisse. Versagen oder ein Verschieben stand außer Frage. Zudem konnte er die Sprengladungen nicht auf ewig dort warten lassen. Früher oder später würden sie entdeckt werden. Damit wären die Zielobjekte vorgewarnt, was ihm die Aufgabe, sie zu töten, nur noch erschweren würde. Er musste sich einfach noch ein wenig in Geduld üben. Hoffentlich würde er zu einem späteren Zeitpunkt eindeutig feststellen können, dass sich seine Zielobjekte in einer der beiden Todeszonen eingefunden hatten.