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Klub Pyatnitsa
London, England
ARSOV TROMMELTE MIT DEN FINGERN auf seinen Schreibtisch. Eigentlich hätte er bereits von Nazarov hören sollen. Anrufen wollte er ihn nicht, im Fall, dass er noch mit der Operation beschäftigt war. Der Blindgänger würde es sicher schwer genug finden, sich Tanya zu greifen, ohne zusätzlich noch mit seinem Anruf ‚belastet‘ zu werden. Er beruhigte sich mit dem Gedanken, dass es selbst Nazarov unmöglich sein konnte, eine solch einfache Aufgabe zu vermasseln.
Deshalb konzentrierte er seine Überlegungen nun auf seine neuen Freunde vor der Tür. Früher oder später würden sie von ihm erwarteten, dass er das Büro verließ. Falls er sich davonschleichen und sie einfach sitzen lassen würde, würden sie es früher oder später herausfinden. Nebenbei, selbst diese Amateure konnten nicht so unbedarft sein, zu glauben, dass ihm ein BT-Reparaturfahrzeug folgen konnte, ohne von ihm bemerkt zu werden – was bedeutete, dass sie in der Nähe über einen Verfolgungswagen verfügten. Es wäre gut, den ebenfalls zu entlarven. Arsov drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage und rief Victor aus der Bar zu sich. Zwanzig Sekunden später steckte der Barmann den Kopf durch die Tür und überraschte Arsov dabei, wie der sich gerade auszog.
»Ja, Boss?”, fragte Victor offensichtlich verwirrt.
»Komm rein und tausche die Kleider mit mir«, kommandierte Arsov.
* * *
»Da bewegt sich etwas«, kündigte Harry vom Fahrersitz her an.
»Ich sehe es.« Im hinteren Teil des Lieferwagens beobachtete Anna auf dem Monitor ein Taxi, das vor dem Klub vorfuhr. Kurz danach erschien Arsov vor der Tür und stieg in das Taxi ein.
»Er ist in Bewegung«, bestätigte Anna. »Alarmiere Lou und gib das Nummernschild an ihn weiter. Das Taxi sollte im nächsten Straßenzug an ihm vorbeikommen.«
»Wird erledigt«, versprach Harry.
* * *
Mehrere Straßen weiter bestieg der echte Arsov ein Taxi. Dieses Mal war sein Entkommen durch die Küche des Restaurants besser gelaufen. Er hatte sich für seine frühere Notlüge entschuldigt und dem Koch erklärt, dass tatsächlich alles eine Frage des Herzens sei. Seine eifersüchtige Frau habe einen Privatdetektiv engagiert, dessen Überwachung es ihm schwer mache, aus dem Klub zu verschwinden, um seine Geliebte zu treffen. Deshalb brauche er einen Weg, den Klub ungesehen betreten und verlassen zu können. Der Koch hatte gelächelt und verständnisvoll genickt. Danach hatten sie sein Verständnis und seine zukünftige Unterstützung durch die Übergabe von einhundert britischen Pfund besiegelt, die ihn für seine ‚Unannehmlichkeiten‘ entschädigen sollten. Alles lief reibungslos. Victor hatte die Anweisung eine Stunde lang ziellos mit dem Taxi durch die Gegend zu fahren und sich danach in Arsovs Wohnung zu begeben und dort zu bleiben. Der Verfolger würde zweifellos vor dem Apartment ausharren, während das Reparaturfahrzeug wahrscheinlich vor dem Klub verbleiben würde. Zunächst hatte er erwogen, seine Beschatter statt zu seiner eigenen Wohnung zu Victors Apartment zu führen. Diese Idee hatte er jedoch schnell wieder verworfen. Victor lebte aller Wahrscheinlichkeit nach in einem Rattenloch, was einer realistischen Täuschung nicht zuträglich wäre. Zudem gab es in Asarovs eigener Wohnung so wenig von Bedeutung, dass er sie, falls nötig, leicht aufgeben konnte. Das Risiko war also minimal. Und während seine stümperhaften Verfolger Gespenster jagten, würde er sich um Tanya kümmern, herausfinden, wer diese Leute waren und was sie ihnen verraten hatte. Danach würde er zurückkehren und sich ihnen - falls erforderlich - annehmen. Im Gegensatz zu diesen Anfängern wusste er schließlich genau, wo er sie finden konnte.
Vor der Kairouz-Residenz
London, England
Dugan dirigierte das Taxi an den Straßenrand und schob dem Fahrer das Geld über den Sitz hinweg zu. Ohne auf sein Wechselgeld zu warten, sprang er eiligst aus dem Wagen. Der Taxenstand war bei seiner Ankunft verlassen gewesen. Er hatte Schwierigkeiten gehabt, ein Taxi zu finden. Die Technikeruniform der British Telecom ließ ihn anscheinend nicht wie einen respektablen Kunden aussehen. Ein Dutzend Taxen waren an ihm vorbeigerauscht, bevor er eines erwischt hatte, das gerade einen Passagier entließ. Er war hineingesprungen, bevor das Taxi wieder ohne ihn abfahren konnte.
Dugan hatte den Wagen vor der langen Zufahrt zur Rückseite des Hauses anhalten lassen. Aller Wahrscheinlichkeit nach hielt sich Gillian bei Mrs Hogan in der Küche auf. Er rannte die geschwungene Einfahrt hoch und hielt dann beim Anblick eines schwarzen Kastenwagens, der direkt neben der Küchentür geparkt war, abrupt inne. Die Küchentür öffnete sich und ein großer Mann in einer Skimaske trat aus dem Haus – mit einem Bündel über der Schulter. Dann erkannte Dugan das blonde Haar. Cassie!
Instinktiv zog Dugan die Glock aus dem Hosenbund. Ein zweiter, ebenfalls maskierter Mann tauchte auf, deutete auf den Kastenwagen und erteilte Anweisungen. Dugan lud die Waffe durch, eine Kugel rutschte in die Kammer. Dieses Geräusch ließ die Köpfe der beiden Männer gleichzeitig herumfahren. In Schussposition richtete Dugan die Glock direkt und mit sicherer Hand auf das Zentrum der Brust des Wortführers.
»Das war’s, ihr Arschlöcher«, rief Dugan ihnen zu. »Legt das Mädchen vorsichtig auf den Boden, zieht euch langsam von ihr zurück und dann mit dem Gesicht zuerst nach unten. Sofort!«
Bevor seine Welt schwarz wurde, verspürte Dugan einen enormen Schlag auf seinen Hinterkopf.
* * *
Nazarov sah Ivan an, der mit einem blutigen, dekorativen Stein in der Hand - den er offensichtlich aus einem Blumenbeet geklaubt hatte - über dem bewusstlosen Amerikaner stand.
Sein Mann zuckte mit den Achseln. »Was Besseres ist mir nicht eingefallen. Du hast gesagt, keine Schusswaffen.«
»Da. Du hast das Richtige getan«, lobte Nazarov.
»Soll ich ihn fertigmachen?« Erwartungsvoll wog Ivan den Stein in seiner Hand.
»Nein, unsere Befehle waren eindeutig. Wir dürfen niemanden umbringen. Lass ihn liegen. Verfrachtet die Mädchen in den Wagen und dann nichts wie weg von hier.«
Im ‚Trainingslager‘
516 Copeland Road
Southwark, London, England
Kochend vor Wut saß Arsov hinter einem abgenutzten Schreibtisch im Büro der Lagerhalle. Ihm gegenüber rutschte Nazarov auf einem abgenutzten Sofa unruhig hin und her. Arsov unterdrückte den Drang, laut aufzuschreien. Als er sprach, war seine Stimme ruhig, beinahe so, als ob er Konversation machte.
»Du übertriffst regelmäßig meine Erwartungen, Nazarov. Obwohl ich wusste, dass du nicht der Intelligenteste meiner Männer bist, habe ich nicht erwartet, dass du so extrem dumm und absolut inkompetent sein kannst.«
»Es war nicht so einfach, wie du denkst …«
»Ja, ich kann es kaum erwarten, den Schwierigkeiten zu lauschen, die sechs große Männer hatten, zwei Frauen mittleren Alters zu überwältigen. Fang nur an. Ich bin ganz Ohr.«
Nazarov starrte zurück. »Wir haben Tanya zurückgebracht, oder?«
Arsov konnte sich nicht länger beherrschen. »Du Vollidiot! Ja, ihr habt Tanya zurückgebracht, ZUSAMMEN mit einem Mädchen, das sehr wahrscheinlich Kairouz‘ Tochter ist. Und obendrein ist es euch gelungen, zwei weitere britische Staatsbürger tätlich anzugreifen. Was kannst du an dem Begriff ‚Zurückhaltung üben‘ nicht verstehen? Der Großteil unseres Erfolgs hier im Land basiert auf der Tatsache, dass niemand Interesse an diesen ausländischen Mädchen hat. Selbst diesen Leuten ist das klar, sonst wären sie längst bei der Polizei gewesen. Aber mittlerweile hat sich die Situation geändert, nicht wahr? Du hast eine Britin aus reicher Familie gekidnappt, und ich bezweifle ernsthaft, dass sie länger zögern werden, die Polizei einzuschalten. Bis morgen um diese Zeit werden wir das Gesicht des Mädchens in sämtlichen Medien wiederfinden. Wie konntest du nur so dumm sein?«
»Ich musste sie mitnehmen. Sie hat mein Gesicht gesehen.«
»Was deiner Schilderung nach nicht passiert wäre, wenn du sie in ihrem Zimmer mit den Kopfhörern auf den Ohren in Ruhe gelassen hättest. Einige Zeit später wäre sie nach unten gekommen und hätte die beiden Frauen gefesselt vorgefunden, womit die Sache ihr Ende gefunden hätte. Da sie niemandem von Tanyas Verschwinden erzählen konnten, wäre es schlimmstenfalls ein Einbruch Unbekannter gewesen.«
Arsov lehnte sich in seinem Stuhl zurück und musterte Nazarov, der klug genug war, sich nicht zu äußern. Nach einer Weile setzte Arsov erneut an.
»Also schön. Ich werde mir etwas einfallen lassen. Wir können das Mädchen nicht freilassen. Außerdem sieht sie verdammt gut aus. Vielleicht können wir sie aus dem Land schmuggeln und sie woanders einsetzen. Als Erstes müssen wir uns allerdings um diese verfluchten Spetsnaz und um den Amerikaner kümmern. Sie scheinen die treibende Kraft hinter allem zu sein. Sobald sie aus dem Weg sind, gehe ich davon aus, dass die Behörden mit der Zeit das Interesse an der Sache verlieren werden, egal, welche wichtige Beziehungen Kairouz auch hat. Falls nötig werden wir genug Geld unter die Leute bringen, um dieses Ergebnis zu beschleunigen.«
Nazarov grinste. »Der Amerikaner wird uns sicher eine ganze Weile keine Probleme bereiten. Ivan hat ihn mit einem Stein auf den Hinterkopf niederschlagen.«
»Was sagst du?«
»Das wollte ich dir die ganze Zeit schon erzählen. Er tauchte in dem Augenblick vor Kairouz’ Haus auf, als wir dabei waren, die Mädchen einzuladen. Ivan war auf dem Posten, schlich sich von hinten an ihn heran und schlug ihn nieder.«
»Und wo ist der Amerikaner jetzt?«
»W… wir haben ihn zurückgelassen. Er hat unsere Gesichter nicht gesehen. Außerdem hast du mit keinem Wort erwähnt, dass wir ihn uns schnappen sollten. Und - wie du angeordnet hast - umgebracht haben wir auch niemanden.«
Arsov begrub sein Gesicht in den Händen und kämpfte um seine Selbstkontrolle.