2
Die Kairouz-Residenz
London, England
EINE STUNDE SPÄTER saß Gillian in ihrem gemütlich und gut eingerichteten Wohnzimmer Dugan, Anna und den Russen gegenüber. Neben ihr auf dem Sofa richtete Alex das Wort an ihre Gäste.
»Selbstverständlich werden wir alles tun, um zu helfen«, versicherte Alex ihnen. »Allerdings bin ich mir ehrlich gesagt nicht sicher, wie viel wir beitragen können. Ich werde unsere Sicherheitsleute informieren. Sie stehen euch zur Verfügung.« Er sah Anna an. »Ich denke, dass Annas Kontakte bei Scotland Yard und ihre MI5-Kollegen weit hilfreicher sein werden.«
Die Russen nickten ihm dankbar zu. Anna schnitt Borgdanov das Wort ab, bevor er zum Sprechen ansetzen konnte.
»Eigentlich hatte ich gehofft, dass Gillian uns helfen könnte, Alex.«
»Wie könnte ich euch behilflich sein, Anna?«, wunderte sich Gillian. »Wie Alex schon sagte, sind deine Quellen den Kontakten, die ich möglicherweise habe, sicher weit überlegen.«
»Ja und nein«, erwiderte Anna. »Morgen früh, gleich als Erstes, werde ich meine Beziehungen spielen lassen. Falls aber, wie Andrei vermutet, die russische Mafia hinter der Sache steckt, haben sie ihre Spuren sicher gut verwischt. Ich werde mit der britischen Grenzbehörde beginnen und mir dort die Visa- und Einwanderungsunterlagen ansehen. Falls das Mädchen hier sein sollte, ist es allerdings gut möglich, dass sie unter falschem Namen eingeschleust wurde.«
Zweifelnd sah Gillian Anna an. »Selbstverständlich werde ich alles tun, um zu helfen. Aber was kann ich schon tun?«
Anna zögerte und suchte nach Worten. »Ich bin an deinen Kontakten interessiert, die du von … Aus deiner Zeit, bevor du Kindermädchen wurdest. Stehst du noch mit jemandem in Verbindung?« Alex‘ Haltung versteifte sich und er nahm Gillians Hand in die seine. Er sah zu den Russen hinüber und dann auf Dugan und Anna.
»Alles in Ordnung, Alex«, versicherte Dugan ihm. »Du kannst Alexei und Ilya vertrauen.«
»Es scheint, als ob uns Anna diesbezüglich keine Wahl gelassen hat«, bemerkte Alex scharf. »Und ich sehe nicht, wie dies auch nur annähernd …«
Gillian fiel ihm ins Wort. »Schon in Ordnung, Alex. In einer guten Sache bin ich gerne behilflich.«
»Es ist NICHT in Ordnung! Sie haben kein Recht, dich darum zu bitten …«
Mit ihrer freien Hand lehnte sich Gillian zu Alex hinüber und legte ihm zärtlich einen Finger auf die Lippen. »Ich weiß, dass du mich beschützen willst, und dafür liebe ich dich, aber letztendlich ist es meine Entscheidung.«
Alex ließ sich in das Sofa zurückfallen und sah Dugan und Anna unfreundlich an, während Gillian fortfuhr.
»Was möchtest du wissen, Anna?«
»Morgen werde ich das Sittendezernat der Metropolitan Police aufsuchen, um zu sehen, was ich über die Operationen der russischen Mafia hier in London erfahren kann. Da die meisten Beamten dort aber verdeckt ermitteln, ist es unwahrscheinlich, dass sie laufende Ermittlungen gefährden, um eine ‚inoffizielle‘ Untersuchung zu unterstützen. Dazu kommt noch die Tatsache, dass ich zu niemandem in der Einheit eine enge Arbeitsbeziehung habe. Ich agiere wirklich ein wenig im Dunkeln. Deshalb dachte ich - falls du noch Kontakte in dieser Welt hast - die vielleicht sehr hilfreich sein könnten. Du könntest uns womöglich einen besseren Einblick als das Sittendezernats bieten.«
Gillian nickte zögernd. »Möglich, dass ich jemanden kenne, der helfen kann. Aber es könnte einen oder zwei Tage dauern. Ich werde mich morgen früh gleich als Erstes erkundigen.«
»Danke, Gillian«, sagte Anna.
Der Raum verfiel in Schweigen. Alex’ brütende Missbilligung hing spürbar in der Luft. Endlich erhob sich Anna aus ihrem Stuhl.
»Nun gut«, begann sie. »Wir gehen jetzt wohl besser. Vielen Dank für eure Hilfe.«
Dugan und die Russen folgten ihrem Beispiel und sprachen ihren Dank aus. Alex hingegen sah alle nur mit aufgebrachtem Gesichtsausdruck an, bevor Gillian ihre Gäste zur Tür begleitete. Bei ihrer Rückkehr fand sie ihn an der Anrichte mit einem großen Brandy in der Hand. Gillian seufzte innerlich und gesellte sich zu ihm. »Mir bitte einen Kleinen, mein Lieber.«
Alex nickte und griff nach einem zweiten Cognacschwenker.
»Möchtest du weiter schmollen oder sollen wir die Sache wie Erwachsene diskutieren?«
Alex drehte sich zu ihr um und explodierte. »Sie haben kein Recht, dich um so etwas zu bitten. Deine Vergangenheit ist genau das … vergangen. Daisy Tatum ist lange tot und begraben. Du bist jetzt Gillian. Meine Frau und Cassies Mutter. Die Vergangenheit heraufzubeschwören wird niemandem helfen. Zudem ist diese russische Mafia gefährlich. Wer weiß, was sie tun …«
Gillian stoppte ihn, indem sie ihre Arme um ihn schlang, ihre Wange gegen seine Brust drückte und ihn so fest umarmte, dass sich sein Ärger verflüchtigte. Sie sah zu ihm auf.
»Du weißt, dass ich euch beide mehr als das Leben liebe. Du hast mir ein wundervolles Leben gegeben. Dafür bin ich Tag für Tag dankbar. Aber wer sollte besser als du verstehen, dass ich mich dieser Bitte nicht verweigern kann. Das arme Mädchen könnte so leiden, wie ich es getan habe. Wie soll ich nachts in dem Bewusstsein schlafen, dass ich ihr hätte helfen können, es aber versäumt habe?« Sie hielt inne. »Genauso wenig, wie du es könntest, mein Lieber.«
Scharf atmete er ein. »Du hast wohl Recht. Trotzdem kann ich den Gedanken an das, was du durchgemacht hast, kaum ertragen. Ich würde alles dafür geben, dich davor zu schützen, erneut mit dieser elenden Welt in Kontakt zu kommen. Wenn es in meiner Macht stünde, würde ich all diese schrecklichen Erinnerungen ausmerzen.«
Sie berührte seine Wange. »Ich weiß. Aber das kannst du nicht, und selbst wenn du es könntest, würde ich es nicht zulassen. Daisy wird immer ein Teil von mir sein – ein versteckter Teil, sicherlich – aber immer eine Quelle der Stärke. Wie sagt man so schön: Was uns nicht umbringt, macht uns stärker.«
Alex erwiderte ihre Umarmung. Dann fragte er: »Du wirst dich also mit ihr in Verbindung setzen?«
»Du musst nicht IHR sagen, als ob es ein Schimpfname ist, mein Lieber. Du weißt, dass sie immer eine treue Freundin war.«
»Das trifft sicherlich zu«, bestätigte Alex. »Und ich werde mich nie ausreichend bei ihr erkenntlich zeigen können, dass sie dich gerettet und dir eine neue Identität verschafft hat. Allein ihr Lebensstil macht mir Probleme.«
Gillian kicherte und die Spannung fiel von ihnen ab. »Gloria hat Diebstahl im Blut, Alex. Die Tatsache, dass sie deine wiederholten Versuche, ihr ein rechtschaffenes Geschäft aufzubauen, zurückgewiesen hat, solltest du ihr nicht verübeln.«
»Eigentlich dachte ich eher an die Zeit, als sie mein Angebot NICHT zurückgewiesen sondern einen der Männer in meinem Klub um zehntausend Pfund erleichtert hat.«
»Du hast es nicht besser verdient. Sie sagte mir, dass dies ihre einzige Chance war, dich von deinen ununterbrochenen Versuchen, sie zu einem ehrlichen Lebenswandel zu zwingen, abzubringen. Du hast ihm den Verlust erstattet und alles hat sich in Wohlgefallen aufgelöst.« Gillian konnte sich ihr Lachen kaum verkneifen. »Außerdem hast du selbst gesagt, dass Clive Falworth – ich zitiere – »ein Schwachkopf erster Güte« war.«
Alex seufzte. »Dieses Argument werde ich wohl nicht gewinnen, was?«
»Keine Chance.« Gillian küsste ihn zärtlich, bevor sie den Kopf zurücklegte und ihm ins Gesicht sah.
»Aber vielleicht könnte ich dich dafür entschädigen. Cassie verbringt die Nacht bei ihrer Freundin Ingrid. Bringt dich das womöglich auf eine Idee?«
Klub Pyatnitsa
London, England
Arsov saß am Ende der Theke und ließ seinen Blick über das dämmrige Innere des Klub Pyatnitsa schweifen, dem Aushängeschild seines neuen Londoner Herrschaftsbereiches. Ein beeindruckender Schritt nach vorn, verglichen mit seinem alten Prager Revier. Ein Dutzend Klubs und ein halbes Dutzend erstklassiger Bordelle, die in diversen Apartments über der Stadt verteilt waren, gehörten zum Bestand mehrerer Scheinfirmen, die von den hochqualifizierten Londoner Anwälten der Bratstvos gegründet worden waren. Kompetente Rechtsberatung zu finden war ursprünglich ein Problem gewesen. Dennoch, die Bruderschaft hatte sich stets um die beste Vertretung in jedem juristischen Spezialbereich bemüht. Die Kanzleien, denen es an der moralischen Flexibilität gefehlt hatte, die unerhört großzügigen Gebühren, die ihnen geboten wurden, zu begrüßen, hatten es sich nach einem Heimbesuch der ‚überzeugenderen‘ Mitglieder der Bruderschaft schnell anders überlegt. Überwachungsfotos der Angehörigen mehrerer Rechtsanwaltsfamilien, die ihren täglichen Aufgaben nachgingen, in Kombination mit detaillierten Beschreibungen möglicher tödlicher Unfälle (Hand in Hand mit grafischen Fotos von bereits stattgefundenen ‚Unfällen‘), verfehlten nie ihr Ziel. Die Welt war schließlich ein gefährlicher Ort. Wer konnte es den Anwälten schon verübeln, dass sie ihre Familien sicher sehen wollten?
Der Anwalt, der die Grundstücks- und Geschäftstransaktionen durchgeführt hatte, hatte besonderes Geschick gezeigt. Aus dem gut ausgestatteten Büro im hinteren Bereich des Klub Pyatnitsa - auch Klub Freitag genannt - hatte Arsov ein Auge auf seinen Zuständigkeitsbereich. Nach außen hin verband ihn nichts mit den anderen Orten. Er war eine mächtige Spinne, die in der Mitte eines Netzes thronte, das nur die Bratstvo sehen konnten.
Sein Karrierewechsel nach dem Ausscheiden aus dem Federal’naya sluzhba bezopasnosti Rossiyskoy Federatsii, dem russischen Inlandsgeheimdienst, war nahtlos vonstatten gegangen. Als Leiter einer FSB-Einsatztruppe, die das kontrollierte Verbrechen im Zaum halten sollte, hatte es nicht lange gedauert, die Hoffnungslosigkeit dieses Unterfangens zu registrieren. Korruption in der Regierung war weit verbreitet. Der Einfluss der Bratstvo reichte tief in die Behörden hinein, die damit beauftragt waren, sie zu kontrollieren – und das schon seit den Zeiten des Zaren. Arsov hatte – als Pragmatiker, der er war - entschieden, ihnen beizutreten, anstatt sie zu bekämpfen. Schnell hatte er sich von der Annahme eines gelegentlichen Bestechungsgeldes zu einem willigen Rekruten gemausert.
Zufrieden lächelte er sein neues Umfeld an. Die Bruderschaft hatte ihm mehr Macht und Geld verschafft, als er je (selbst als korrupter) Diener des Staates erhalten hätte. Die Methoden, die er in Prag eingeführt hatte, hatten sowohl die Effektivität als auch die Profite ihrer Menschenhandelsoperation verzehnfacht. Seine Belohnung dafür war London gewesen. In den sechs Wochen seit seiner Ankunft hatten sich die Dinge zu seiner Zufriedenheit entwickelt.
»Das ist Katya«, sagte der Mann neben ihm und deutete auf ein Mädchen, das beim Betreten der vom Rampenlicht beleuchteten Bühne nichts als einen Stringtanga trug. Begleitet von ohrenbetäubender Rockmusik setzte sie zu einem wild erotischen Tanz an.
Arsov sah einen Augenblick lang zu. »Sie sieht zu jung aus.«
»Ich halte mich an deine neuen Regeln. Sie ist absolut legal. Achtzehn Jahre, seit letzter Woche. Die nötigen Beweisdokumente liegen mir vor. Die jüngeren Mädchen habe ich alle in die Hurenhäuser verschwinden lassen, wie du es angeordnet hast.« Er zögerte. »Aber wenn du mich fragst, wird uns das Einnahmen kosten.«
Arsov schüttelte den Kopf. »Du musst die Psychologie der Kunden verstehen, Nazarov. Die Männer kommen her, um einer Fantasie nachzugehen. Männer mittleren Alters mit schütter werdendem Haar und ausufernder Gürtellinie, denen es gelingt, sich selbst davon zu überzeugen, dass es eine junge Frau, die wie ein Filmsternchen aussieht, danach drängt, ihnen in einer Nische hinter dem Vorhang einen Blowjob zu geben. Sie wollen stark, männlich und attraktiv sein. Wenn sie hier ein Mädchen sehen, dass wie ihr eigener Teenager daheim aussieht, könnten einige womöglich ein schlechtes Gewissen entwickeln und die Polizei rufen.«
»Damit gab es nie Probleme. Wir haben Posten auf der Straße, die uns bei den ersten Anzeichen eines Polizeieinsatzes alarmieren. Die Minderjährigen sind lange von hier verschwunden, bevor die Bullen es zur Tür schaffen.«
»Und wie viele Männer sind allein damit beschäftigt, herumzustehen und sich nach der Polizei umzusehen? Zwei? Vier? Und jetzt rechne das auf einen Dutzend Klubs hoch. Eine riesige Verschwendung von Arbeitskräften.«
Nazarov grunzte kommentarlos und Arsov fuhr fort.
»Wir müssen unsere Kunden kennen, Nazarov. Das ist das Wichtigste. Die Männer, die ins Hurenhaus gehen, folgen einer anderen Dynamik; hier gibt es keine Illusion von Romantik. Und ein Mann, der mit dem ausdrücklichen Wunsch in einem Puff auftaucht, Kinder zu bumsen, wird höchstwahrscheinlich nicht von einer Gewissenskrise gebeutelt werden.« Arsov lächelte. »Außerdem sind Kunden mit diesen besonderen Vorlieben bereit, weit mehr zu zahlen. Warum sollten wir ihnen deshalb erlauben, ihren Drang im Hinterzimmer zum gleichen Preis wie jeder normale Freier zu befriedigen?«
»Also schön. Ich kann dir folgen. Trotzdem gefallen mir die anderen Änderungen nicht. London ist nicht mit Prag zu vergleichen. Das bisherige Führen der Geschäfte lief ganz gut.«
Arsov unterdrückte ein Seufzen. »Gut im Vergleich zu was? So weit ich feststellen konnte, habt ihr nie etwas anderes versucht. Ihr habt die Mädchen von Drogen abhängig gemacht, sie durch Einsperren kontrolliert und ihnen gelegentlich, ohne ersichtlichen Grund, die Drogen verweigert oder sie zusammengeschlagen. Du magst eine grün und blau geschlagene Hure mit im Drogenrausch verschwommenem Blick für sexy halten, aber ich bezweifle, dass das die Fantasien unserer Kunden auf Dauer befriedigen wird. Von den Kosten für die Drogen ganz zu schweigen. Unser Profit durch den Verkauf der Drogen ist weit höher, als wenn wir sie zur Kontrolle der Mädchen einsetzen.«
»Da wir schon von Kontrolle reden. Mit diesem neuen Plan kann ich mich überhaupt nicht anfreunden. Ich denke, du lässt ihnen zu viel Freiheit.«
»Ganz im Gegenteil. Wir erreichen, dass sie sich selbst kontrollieren, NACHDEM sie sich einige Freiheiten erarbeitet haben«, widersprach Arsov.
Nazarov sah nicht überzeugt aus und Arsov wunderte sich, ob sie einen neuen Mann finden mussten. Etwas Widerstand war zu erwarten gewesen und tolerierbar, angesichts der Tatsache, dass Nazarov wohl davon ausgegangen war, zum Leiter der Londoner Operation ernannt zu werden. Dennoch, Arsovs Geduld hatte Grenzen.
Seine Hauptsorge war die Weigerung seines neuen Untergebenen, das klar Ersichtliche zu verstehen – was durch dessen Widerstand gegen den neuen Kontrollplan deutlich erkennbar war. Das Konzept, das Arsov in Prag perfektioniert hatte, war sowohl brillant in seiner Anwendung von Psychologie als auch elegant in seiner Einfachheit. Den Geist eines Mädchens zu brechen und ihre Schauspielkünste zu verbessern war nur der erste Schritt. Selbst danach konnte sie noch nicht aus der direkten Überwachung entlassen werden. Auch dann bestand weiterhin die Möglichkeit, dass sie einen mitfühlenden Kunden davon überzeugen konnte, die Polizei zu kontaktieren.
Arsovs Lösung war ein Präventivschlag. Ohne dass es dem neuen Mädchen bewusst war, befand sich unter ihren ersten zahlenden Kunden ein eingeschleuster Bratstvo-Mann, der auf jeden Versuch des Mädchens, Außenkontakte zu arrangieren, achtete. Falls das Mädchen den passiven Test bestand, bemühte sich ein Bratstvo-‘Freier’ als nächstes aktiv darum, ihr Vertrauen zu erlangen und ihr anzubieten, Kontakte für sie herzustellen. Sollte das Mädchen akzeptieren, gab sich der falsche Freier als einer von Arsovs Männern zu erkennen und das Mädchen wurde durch wiederholte Wasserfolter und andere Torturen bestraft, die keine körperlichen Merkmale zurückließen. Diese Tests wurden in einer kontrollierten Klub-/Hurenhaussituation so lange durchgeführt, bis das Mädchen als vertrauenswürdig genug erachtet wurde, zur nächsten Ebene aufzusteigen. Die nächste Stufe gewährte dem Mädchen einige limitierte Freiheiten, vielleicht einige Besorgungen zu erledigen oder in einem nahegelegenen Schnellrestaurant zu Mittag zu essen. Aber auch hier war nicht alles so, wie es den Anschein hatte. Das Mädchen stand weiterhin unter ständiger lückenloser Observierung. Sollte sie den Versuch unternehmen, zu entkommen oder mit jemandem Kontakt aufzunehmen, wurde sie umgehend eingefangen und nachhaltig bestraft.
Mädchen, die diesen Herausforderungen gerecht wurden, wurden noch strengeren Tests unterzogen. Ihnen wurde eine Aufgabe übertragen, die sie direkt an einem uniformierten Polizisten auf Patrouille vorbeiführten – natürlich ein verkleideter Arsov-Mann. Der falsche Polizist hielt das Mädchen unter einem Vorwand an und unterhielt sich mit ihr, was ihr ausreichend Zeit gab, um Hilfe zu bitten. Sollte sie das tun, würde er sie mitfühlend in seinem Wagen unterbringen und sie umgehend zurück in die Gefangenschaft liefern. Dann wurden dem falschen ‚Polizisten‘ vor den Augen des Mädchens eine große Geldsumme ausgehändigt, was die Idee weiter untermauerte, dass Arsov die Polizei in seiner Tasche hatte. Zudem würde die Strafe des Mädchens noch härter ausfallen, da sie die vermeintlichen Ausgaben für die Bestechung des Polizisten verursacht hatte.
Die Unsicherheit der ‚Absolventen‘ von Arsovs Programm, wem sie oder wem sie nicht vertrauen konnten, verwandelte sich in die absolute Gewissheit, dass sie niemandem, nicht einmal der Polizei, trauen konnten. Das, zusammen mit oftmaligen Erinnerungen daran, was denen, die ihnen daheim in Russland am Herzen lagen zustoßen könnte, in Verbindung mit ihren Pornovideos und ihren Interviews, in denen sie begeistert von ihrem neuen Leben in der Sex-Industrie schwärmten, führte letztendlich dazu, auch den größten Widerstand zu brechen. Danach durften sich die Mädchen ganz nach Belieben frei bewegen, da sie nicht länger eine Hoffnung auf Rettung hegten.
Aber damit nicht genug. Nachdem Arsov den Willen eines Mädchens gebrochen hatte, baute er es wieder auf. Spitzenmädchen erhielten besondere Privilegien, gutes Essen und großzügige Geschenke. Weniger enthusiastische Mädchen wurden ignoriert. Und falls sie die von Arsov festgesetzten Minimaleinnahmen nicht einbrachten, wurden sie bestraft. Wiederholtes Versagen, die angestrebte Quote einzubringen, führte dazu, dass ein Mädchen ‚weggeschickt‘ wurde. Den Gerüchten nach bedeutete das den Verkauf an ein Bordell in irgendeinem Drecksloch der Dritten Welt. Im Vergleich dazu konnte sogar ihr gegenwärtiges Los als traumhaft ausgelegt werden.
Arsov war der Erste, der zugab, dass dieser Prozess zeitraubend war. Dennoch war er stolz auf seine Langzeitplanung. Nachdem ein Mädchen nach seiner Methode trainiert war, genoss sie ein viel längeres Arbeitsleben als diejenigen, die mit Drogen kontrolliert wurden – und verdiente dazu noch sehr viel mehr Geld. Außerdem hatte er so gut wie keinen Bedarf an Schlägern, um die Mädchen unter Kontrolle zu halten. Deren Einsatzkraft konnte er dazu nutzen, andere Bereiche seines Geschäftes zu erweitern. Im Drogenhandel gab es immer Bedarf für Männer. Und das Kredithaigeschäft innerhalb der kleinen, aber stetig wachsenden russischen Einwanderungsgemeinschaft war dabei, sich zu einem blühenden Geschäftszweig zu entwickeln.
»Was ist mit Karina, dem neuen Mädchen?«, unterbrach Nazarov Arsovs Gedanken.
Arsov lächelte. Insgesamt hatte Beria mit ihr gute Arbeit geleistet, obwohl sie sich als der härteste Brocken entpuppt hatte, der ihm bislang untergekommen war. Vielleicht würde er Beria, falls alles erwartungsgemäß lief, hier nach London versetzen lassen; er war ein weit kompetenterer Stellvertreter als dieser Idiot Nazarov.
»Ich genieße die kleine Karina, denke aber, dass sie noch ein wenig eingearbeitet werden muss. Ich werde sie noch eine Woche in meiner Wohnung behalten, bevor sie anfangen wird, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen.«
Belgravia
London, England
Gillian Kairouz nahm den Finger vom Knopf, als sie das gedämpfte Geräusch der Klingel durch die geschlossene Tür vernahm - kein schriller Ton oder ein schnelles Bim-Bam, sondern ein langsamer, gemächlicher Glockenschlag, der zu dem vornehmen Gebäude passte, in dem sie sich befand. Sie hörte Schritte und dann stand eine attraktive, etwas matronenhafte Frau undefinierbaren Alters in der offenen Tür. Ein breites Willkommenslächeln lag auf ihrem Gesicht.
»Gillian, meine Liebe«, begrüßte die Frau sie und zog sie mit einer engen Umarmung in die Eingangshalle hinein.
Die Frau gab Gillian frei, trat einen Schritt zurück und musterte sie auf Armeslänge. »Sieh dich nur an! Die Zeit hat es gut mit dir gemeint. Du siehst so blendend wie eh und je aus.«
Gillian lachte. »Und du sprühst immer noch vor Charme, Gloria. Du siehst selbst sehr gut aus.«
»Man tut was man kann«, nickte die Frau und lud Gillian weiter in die Wohnung hinein. »Aber komm herein. Lass uns Tee trinken. Wir haben uns eine Menge zu erzählen.«
Während Gloria die Tür schloss, sah Gillian sich in der geschmackvoll eingerichteten Wohnung um.
»Stadtteil Belgravia, nicht übel. Dir scheint es gut zu gehen.«
Gloria lächelte. »Das äußere Erscheinungsbild zählt, meine Liebe. Um erfolgreich zu sein, musst du zunächst erfolgreich AUSSEHEN.«
»Ich frage wohl besser nicht, WOMIT du erfolgreich bist«, erwiderte Gillian und durchquerte das gemütlich eingerichtete Wohnzimmer auf ein Sofa hin, auf das Gloria sie mit einer Handbewegung zum Sitzen einlud.
»Oh, mit diesem und jenem. Einfach nur mit diesem und jenem.« Mit verschmitztem Blick nahm Gloria Gillian gegenüber Platz und goss zwei Tassen Tee aus dem silbernen Service ein, das zwischen ihnen auf dem Tisch stand.
»Und wie geht es Cassie?«, erkundigte sich Gloria.
»Wunderbar. Danke der Nachfrage. Sie wird jeden Tag hübscher und hat ausgezeichnete Ergebnisse in ihrer letzten Testreihe verzeichnet. Sie testete am unteren Ende des Normalbereichs.«
»Vergiss den Tee!« Gloria stand auf und trat vor eine antike Kredenz. »Das verlangt nach einem Toast!« Sie kam mit einem Tablett zurück, auf dem eine kunstvoll verzierte handgeschliffene Karaffe und zwei Cognacschwenker bereitstanden.
»Ich sollte wirklich …«
»Nur einen Kleinen«, ermunterte Gloria Gillian über ihren Einspruch hinweg und schenkte einen kräftigen Schluck in die Gläser ein. »Solch gute Nachrichten hört man nicht jeden Tag. Wir sollten das Schicksal nicht in Versuchung führen, indem wir undankbar erscheinen.«
»Also schön«, gab Gillian nach und akzeptierte den angebotenen Schwenker.
»Auf Cassie.« Gloria hob ihr Glas.
Gillian prostete ihr zu und stellte ihr Glas nach einem kleinen Schluck auf den Kaffeetisch zurück. Gloria machte es sich ihr gegenüber in einem Stuhl bequem.
»Freut sich Cassie darüber?«, fragte Gloria.
»Enorm. Es ist eine aufregende Zeit für sie. Sie unterhält sogar eine Art Beziehung zu einem jungen Mann.«
»Gut. Wie schön für sie.«
»Ja, ich halte es auch für gesund. Alex, auf der anderen Seite, ist natürlich weniger davon begeistert.«
Gloria schnaubte. »Und wie geht es Seiner Gnaden?«
»Gut. Und nebenbei, er lässt dich schön grüßen.«
»Oh ja, davon bin ich überzeugt.«
»Wirklich, Gloria. Alex ist ein guter Mann.«
Gloria nickte. »Das habe ich nie bezweifelt. Aber du musst schon zugeben, dass er ein wenig unbeweglich ist.«
»Das ist er«, stimmte Gillian zu. »Das wird sich sicher nicht ändern. Er ist, wer er ist, genau wie du. Und ich habe das seltene Privileg, euch beide zu lieben. Aber ich bin nicht gekommen, um mit dir über Alex zu diskutieren. Warst du in der Lage, etwas herauszufinden?«
Glorias Gesicht verdüsterte sich. Sie stellte ihr Glas auf dem Kaffeetisch ab, bevor sie zögernd antwortete.
»Ja, genug, um mir Gedanken zu machen. Bist du sicher, dass du dich tatsächlich auf diese Sache einlassen willst?«
»Es ist keine Frage des Wollens, Gloria. Sergeant Denosovitch hat niemanden, an den er sich wenden kann. Und ich könnte nicht in den Spiegel sehen, wenn ich ihm meine Hilfe bei der Rettung seiner Nichte verweigern würde. Nicht, nachdem was ich … Nicht, nachdem …«
»Ich weiß, ich weiß, meine Liebe. Aber diese Russen sind eine Größenordnung gefährlicher als unsere heimischen britischen Schweinehunde. Ich will nur sicher gehen, dass du verstehst, worauf du dich einlässt. Ehrlich gesagt hat es mich schon nervös gemacht, mich nur etwas umzuhören.«
Gillian war bestürzt; selten hatte sie Gloria so zögerlich gesehen. »Sprich weiter.«
»Die russische Mafia ist wie ein Tintenfisch mit sehr vielen Armen. Die herausragende Gruppe scheint im Moment die Bruderschaft oder Bratstvo zu sein. Sie haben ihre Finger in allem, von legitimen Geschäften bis hin zu jeder nur vorstellbaren kriminellen Machenschaft. Sie verfügen über enge Verbindungen zu der russischen Regierung. Viele von ihnen sind ehemalige Mitglieder der russischen Polizei oder der Geheimdienste, was sie in Russland praktisch unantastbar macht. Wie ich höre, haben sie dort drüben komplett freie Hand.«
Gillian nickte und Gloria fuhr fort.
»Außerhalb Russlands operieren sie wann immer möglich über legale Einrichtungen. Sie engagieren nur die besten Anwälte und kaufen sich je nach Bedarf die Polizei oder hohe Regierungsbeamte. Ihre Geschäfte werfen eine Menge Bargeld ab.«
»Und hier bei uns?«
»Drogen, Mädchen, Wucherei – das Übliche.« Gloria zuckte die Achseln. »Hinsichtlich der Bestechungen - schwer zu sagen. Eine reine Vermutung, aber angesichts der Menge an Geld, mit der sie um sich werfen können, möchte ich wetten, dass zumindest einige der Bullen auf ihrer Gehaltsliste stehen.«
»Was macht sie gefährlicher als all die anderen Kriminellen?«
Gloria schüttelte sich. »Absolute Gnadenlosigkeit. Vor acht bis zehn Jahren tauchten sie plötzlich in großer Zahl in Großbritannien auf. Allerdings hatte sich die armenische Mafia schon vor ihnen etabliert. Ein Jahr nach der Ankunft der Russen waren alle Anführer der armenischen Mafia entweder tot - ihre Familien eingeschlossen - oder sie arbeiteten für die Bratstvo. Wenn du der Bratstvo in die Quere kommst, bringen sie dich und jeden, der dir nahesteht um. Und darüber hinaus jeden, von dem sie auch nur vermuten, dass er dir etwas bedeuten könnte. Dem Gerücht nach foltern sie ihre Opfer davor auch noch. Jemanden zu nötigen, in dem sie gegen seine unschuldigen Familienmitglieder vorgehen, ist zweite Natur für sie. In diesem Bereich ist jeder angreifbar. Verglichen damit sind italienische Mafiabosse die reinsten Gentlemen.«
»Falls sie das Mädchen tatsächlich hier in London festhalten, hast du eine Idee, wo das sein könnte?«
Gloria schüttelte den Kopf. »Keiner meiner Kontakte wäre mutig genug, seine Nase so tief in Bratstvo-Geschäfte zu stecken. Darum würde ich sie nicht bitten.« Fest sah sie Gillian an. »Und du solltest ebenfalls die Finger davon lassen. Diese Kerle sind EXTREM gefährlich.«
»Ich werde diese Informationen nur weitergeben. Kein Grund zur Sorge.«
»Hast du mir zugehört, Gillian? Sobald du auf irgendeine Weise auch nur am Rande in diese Sache verwickelt bist, bist du in Gefahr.«
»Möglich. Trotzdem muss ich die Information weitergeben. Sie ist sowieso recht allgemein. Etwas Spezifischeres hast du nicht erfahren können?«
Gloria setzte zum Sprechen an, schien es sich dann aber anders zu überlegen und schüttelte den Kopf.
»Gloria? Was verschweigst du mir?«
»Lass die Sache auf sich beruhen. Das wird kein gutes Ende nehmen.«
»Gloria, wenn du es mir nicht sagst, bin ich gezwungen, mich anderweitig umzuhören, was sich als weit gefährlicher herausstellen könnte.«
Gloria seufzte. »Du wirst nicht aufgeben, nicht wahr?«
»Keine Chance.«
»Also gut. Viel mehr weiß ich nicht, aber der Eindruck auf der Straße ist, dass ein Großteil der Bratstvo-Operationen von einem einzelnen Nachtklub in Soho aus kontrolliert wird – aus einem Klub namens Pyatnitsa, was übersetzt offensichtlich Klub Freitag heißt.«
Gillian entnahm ihrer Handtasche einen Notizblock und begann zu schreiben. »Kennst du die Adresse?«
»In der Berwick-Straße«, teilte Gloria ihr mit, »aber komme bitte nicht auf den Gedanken, dort hin zu gehen!«