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Katholische Kirche Sankt Mary’s

London, England

DICHT AN ANNA GEDRÄNGT sah Dugan links von sich die Kirchenbank hinunter, wo Alex und Gillian saßen. Gillian weinte leise in ein Taschentuch. Neben ihr streichelte Mrs Hogan ihr sanft den Rücken, im vergeblichen Versuch, sie etwas zu trösten. Alex war angemessen gekleidet und hatte sich zum ersten Mal seit Tagen rasiert. Trotzdem starrte er in einem beinahe katatonischen Zustand vor sich hin. Eine einzige Träne rollte ihm die bleiche Wange herunter. Mrs Hogan sah an dem trauernden Paar vorbei. Ihr Gesichtsausdruck verfinsterte sich, als sie Dugan erblickte, der sehr schnell den Blick abwandte.

Gillian hatte ihnen bei ihrer Ankunft ein trauriges Lächeln geschenkt. Alex hatte ihm automatisch die Hand gereicht. Sein Handschlag war der eines toten Fisches. Dugan konnte den Cognac an ihm riechen. Ilya und Nigel saßen rechts von Dugan, neben Anna. Das Gesicht des großen Russen war versteinert und stoisch, während Nigel sich sichtlich anstrengen musste, die Kontrolle zu bewahren. Dugans Unbehagen war unerträglich. Er wusste, er hätte dem Leiden seiner Freunde mit einem Wort ein Ende bereiten können. Ein weiteres Mal fragte er sich, ob er sie dieser Qual hätte aussetzen dürfen. Dies würde die längste Stunde seines Lebens werden.

Der Gottesdienst wurde nicht nur für Cassie abgehalten, sondern auch für die beiden russischen Frauen. Vater O’Malley hatte den Priester der nahegelegenen Russisch-Orthodoxen Kirche eingeladen, ihm in der Durchführung des Gedenkgottesdienstes beizustehen. Dugan war von O’Malleys Sensibilität und Güte beeindruckt. Unter den gegebenen Umständen erhöhte das allerdings seine Sorge, dass diese Geste das Ende des Gottesdienstes unnötig hinauszögern und damit sein eigenes Unwohlsein verlängern würde.

Vater O’Malley trat an die Kanzel und begann zu sprechen.

Außerhalb der Kairouz-Residenz

London, England

Da er sich über den geplanten Ablauf des Tages nicht sicher sein konnte, hatte Fedosov frühzeitig Position bezogen, um mögliche Komplikationen der letzten Minute zu vermeiden. Nach seinem Eintreffen und dem Parken des Lieferwagens hatte er beobachtet, wie das Ehepaar Kairouz zusammen mit seinem Fahrer und der irischen Köchin das Haus verlassen hatte. Jetzt saß er auf der Ladefläche des Lieferwagens hinter einem gut verborgenen Guckloch mit ungehindertem Blick auf die Einfahrt hin. Er würde sowohl die Rückkehr der Kairouz’ als auch Dugans Ankunft beobachten können - seine Bestätigung, dass alle anwesend waren, bevor er die Bombe detonieren würde. Geduldig wartete er ab, als unerwarteter Besuch eintraf.

Ein Taxi fuhr am Straßenrand vor. Ihm entstieg ein Mann dunkler Hautfarbe, der in seinen zerknitterten Kleidern einen Moment lang bewegungslos dastand und sich unauffällig umsah. Interessiert beäugte er den Lieferwagen und schien ihn dann in sein Gedächtnis aufzunehmen. Danach sah er sich langsam weiter aufmerksam in einem Kreis um das Taxi herum um. Fedosovs sechster Sinn schlug Alarm. Dieser Mann war sich seines Umfelds deutlich bewusst. Aber was wollte er hier? Private Sicherheit? Für wen?

Kurz danach erhielt er seine Antwort, als der Mann den Kopf senkte und mit jemandem im Taxi redete. Zwei dunkelhaarige Frauen stiegen aus. Der Mann folgte ihnen die Einfahrt hoch. Sein Kopf war in ständiger Bewegung. Hinter einer Kurve in der Einfahrt verschwanden sie endlich außer Sicht. Fedosovs Anspannung wuchs, während er abzuschätzen versuchte, welche Auswirkung die neueste Entwicklung auf seine Pläne haben könnte. Mit dem Haus im Blickwinkel zog er sich die Kopfhörer über. Kurz danach hörte er, wie sich die Küchentür öffnete und eine Frau mit britischem Akzent sprach.

»Ich werde die Alarmanlage abstellen.«

»Ok«, erwiderte eine männliche Stimme. Zweifelsohne die des dunkelhäutigen Mannes, der dem Akzent nach ein Amerikaner sein musste. »Danach bringe ich euch beide nach oben und außer Sicht.«

»Warum?«, fragte die Frau.

»Weil ich denke, dass der Schock für eure Familien zu groß wäre, hereinzuspazieren und euch hier sitzen zu sehen. Ich will sie etwas vorbereiten, bevor ich euch auf sie loslasse«, erklärte der Amerikaner.

»Ich denke, wird kein Problem für Onkel Ilya sein«, warf eine zweite Frau - dieses Mal mit einem russischen Akzent - ein.

»Gut möglich«, erwiderte der Amerikaner, »aber tut mir den Gefallen. Geht bitte fürs Erste nach oben. Ich rufe euch, sobald ihr nach unten kommen könnt.«

Fedosov hörte zustimmendes Gemurmel und Augenblicke später das Geräusch von Fußtritten auf der Treppe. Er verfluchte die Tatsache, dass ihm keine Abhörgeräte im oberen Stockwerk zur Verfügung standen. Wer waren diese Leute? Was hatten sie in dem Haus zu suchen? Sollte er abbrechen? Nein, der Chef hatte bereits grünes Licht für einen unvermeidlichen Kollateralschaden gegeben. Zudem war Fedosov sowieso nie wirklich davon ausgegangen, dass er Dugan und die Kairouz’ ganz alleine erwischen würde.

Fedosov lehnte sich in seinem Stuhl zurück und wartete, obwohl seine Ungeduld immer größer wurde. Er wollte diesen Job einfach nur schleunigst hinter sich bringen und dann nichts wie weg von hier.

Sankt Petersburg

Russische Föderation

Zum wiederholten Mal wählte Borgdanov Ilyas Handy und fluchte, als der Anruf auf die Sprachbox ging. Er hinterließ eine weitere Nachricht.

»Ilya, ich muss dich erreichen. Ruf mich sofort unter dieser Nummer an.«

Eine genauere Nachricht wollte er nicht hinterlassen, da er bereits mit diesem Anruf die gestrengen Kommunikationsprotokolle brach, die er mit Ilya vereinbart hatte. Es gab einfach zu viele Wege, Gespräche zu belauschen, insbesondere wenn ein Ende des Anrufs aus Russland kam – unabhängig davon, dass sowohl er als auch Ilya Wegwerftelefone benutzten.

Vereinbart war, in einem neu eingerichteten G-Mail-Konto, zu dem beide Männer die Nutzer-ID und das Passwort hatten, den Entwurf einer E-Mail zu hinterlegen. Beide würden sich zweimal am Tag in das Konto einloggen - Ilya um elf Uhr früh und um dreiundzwanzig Uhr abends, Borgdanov um zwölf Uhr mittags und um Mitternacht, um den neuesten E-Mail-Entwurf zu lesen. Selbstverständlich konnten sie sich auch jederzeit einloggen, um eine dringende Nachricht zu hinterlassen, obwohl dem Sender klar war, dass sie bis zur regulären Zeit der Anmeldung des anderen wohl nicht empfangen werden würde. Da diese Nachrichten tatsächlich nie abgesendet wurden, hofften sie damit wenig Aufmerksamkeit zu erregen. Trotz dieser geringen Wahrscheinlichkeit entdeckt zu werden, waren die Russen dennoch vorsichtig hinsichtlich der Anzahl der Nachrichten und deren Inhalt. Die einzige Nachricht von Ilya, die Borgdanov nach dem Ende der Rettungsmission erhalten hatte, war ebenso herzzerreißend wie kurz gewesen. »Bedauere unser Versagen.«

Borgdanovs einziger E-Mail-Entwurf war um ein Uhr früh Londoner Zeit eingegeben worden, unmittelbar nachdem es ihm gelungen war, an einen Computer zu kommen und sich den Inhalt der Datei ‚Großbritannien‘ auf Arkadys USB-Stick anzusehen. Seine Nachricht war präzise. »Anruf unbedingt erforderlich. Nr 4.« Die Vier informierte Ilya, dass er die vierte Nummer auf einer Liste von einem Dutzend Nummern anrufen sollte, die Borgdanov ihm gegeben hatte. Sie alle gehörten zu einer Reihe von Wegwerftelefonen, denen sie sich beide nach einem einzigen Anruf sofort entledigen würden.

Ilya hätte diese Nachricht bereits vor einer halben Stunde erhalten sollen. Der fehlende Anruf bedeutete, dass es ein ernsthaftes Problem gab – was Borgdanov veranlasste, ihr Kommunikationsprotokoll zugunsten einer direkten Ansprache aufzugeben. Nachdem Ilya nicht geantwortet hatte, hatte er Dugan und danach Annas Nummer angewählt. Alle Anrufe waren auf die Stimmbox gegangen. Die Telefonnummern der Kairouz‘ kannte er nicht. Aus purer Verzweiflung hatte er es dann noch bei Annas Kollegen Lou und Harry versucht, mit dem gleichen unbefriedigenden Ergebnis. Wo zum Teufel steckten alle?

Borgdanov wanderte auf dem abgewetzten Teppich der schäbigen Hotelhalle hin und her und betete, dass Ilya ihn zurückrufen möge.