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Containerschiff Kapitan Godina

Auf dem Seeweg nach Jacksonville, Florida

MIT DEM RÜCKEN GEGEN DIE STAHLWAND des Containers gepresst, saß Cassie auf dem Fußboden und versuchte, sich gegen das konstante Schwanken des Schiffes abzustützen. Fest klammerte sie sich an einen großen Plastikeimer, während sie sich bemühte, den Drang, sich übergeben zu müssen, unter Kontrolle zu bekommen. Eine Schlacht, die sie verlor. Ihr Magen, dessen Inhalt sich schon vor einer Weile weitgehend entleert hatte, verkrampfte sich erneut. Mit dem Kopf über dem Eimer machte sie eine weitere Runde schmerzhaften, trockenen Würgens durch. Die Episode ging vorbei. Cassie fiel gegen die Wand zurück und schloss die Augen, in der Hoffnung, mit ihrem Öffnen festzustellen, dass alles nur ein böser Traum gewesen war. Sie wurde enttäuscht.

Die beiden anderen Mädchen saßen zusammengesunken neben ihr und hielten sich an ihren eigenen Eimern fest. Der Geruch, der aus den offenen Behältern austrat, produzierte in der abgestandenen Luft des Containers einen wahrhaft beklemmenden Gifthauch. Cassie schätzte, dass es beinahe Mittag war. Seit das erste Licht durch die Fugen des Containers hoch oben an den Wänden zu ihnen vorgedrungen war, stieg die Temperatur im Innern ihres Containers unablässig an. Die Fugen ließen gerade genug Licht eindringen, um die anderen Mädchen erkennen zu können, die nur wenige Schritte von ihr entfernt lagen. Tanya hatte es am Schlimmsten getroffen. Die Seekrankheit hatte sie beinahe unmittelbar überwältigt. Sie hatte es nicht einmal geschafft, einen der Eimer zu erreichen, bevor sie sich auf den Boden des Containers erbrochen hatte. Das blonde Mädchen Karina schien am wenigsten beeinträchtigt zu sein. Als Cassie zu ihr hinübersah, nickte Karina ihr zu und schenkte ihr ein flüchtiges Lächeln.

»Ich denke, wir überleben werden, da

»Ich … das hoffe ich. Aber wohin bringen sie uns?«

Karina zuckte mit den Achseln. »Macht keinen Unterschied. Überall das Gleiche. Nur Akzent der Kerle, an die sie uns verkaufen, ändert sich.«

Cassies Unterlippe begann zu zittern. Karina reichte über Tanya hinweg und tätschelte Cassie aufmunternd das Bein. »Aber daran wir denken im Moment nicht. Wir müssen finden, wie lange wir in Kiste sein werden.« Über Tanyas Beine hinweg gab Karina ihren Eimer weiter. »Hier. Halte meinen Eimer, damit nicht umfällt. Ich will etwas sehen.«

Cassie nahm ihr den Eimer ab und hielt ihn zusammen mit ihrem eigenen fest. Sie sah, wie Karina sich unsicher erhob und die Taschenlampe anknipste, die sie sich in die Jeanstasche gesteckt hatte.

»Was … was wirst du tun?«, fragte Cassie.

»Ich werde Essen zählen, das sie uns gegeben. Nazarov sagt, nur eine Packung am Tag. Wenn ich Vorräte zähle, weiß ich, wie lange wir hier sein sollen. Wenn wir wissen, können wir Wasser zählen und sehen, wie viel wir für jeden Tag haben. Vielleicht, wenn ein wenig extra, wir können uns etwas waschen, da

Ermutigt nickte Cassie. Mit den Augen folgte sie Karina und dem Lichtschein, die sich in der Dunkelheit auf das andere Ende des Containers zubewegten. Sie sah, wie das Licht die in einer Ecke verankerten Kisten anstrahlte, und dann, wie es über Karinas Hand huschte, als sie eine der Packungen aufriss. Danach tastete das Licht der Taschenlampe die Wasserflaschen auf dem Regal entlang der gegenüberliegenden Wand ab und fand seinen Weg durch die Dunkelheit zu Cassie zurück.

»Ist genug Essen für vielleicht zehn Tage«, informierte Karina sie, bevor sie wieder ihre Position auf dem Fußboden einnahm. »Unterstellt, dass sie nur ganze Kisten geladen. Ich denke, Reise wird sieben bis acht Tage dauern. Wir fünfzehn Wasserbehälter haben.« Karina hielt Cassie die Taschenlampe entgegen. »Hier Cassie, halte Licht für mich.«

»Sofort«, erklärte sich Cassie bereit. Sie manövrierte einen der unhandlichen Eimer zwischen ihre Beine, um ihn mit den Knien gegen die Bewegung des Schiffes zu sichern. »Ok«, sagte sie und akzeptierte die Taschenlampe.

»Zeig Licht auf meine Hände«, bat Karina. Cassie sah, wie das russische Mädchen eine Packung mit der Aufschrift MAHLZEIT – FERTIG ZUBEREITET öffnete.

»Wie kannst du jetzt nur essen?«, entfuhr es Cassie überrascht.

Diese Frage trieb Tanya schlagartig von der Wand weg über ihren Eimer. Auch sie konnte nur noch trocken würgen. Mit der freien Hand klopfte Karina Tanya so lange leicht auf den Rücken, bis das Würgen ihrer Freundin nachgelassen hatte und die sich wieder zurückfallen ließ.

»Ich suchen Cracker oder Kekse«, erklärte Karina. »Zu Anfang etwas Leichtes. Und wir müssen Wasser trinken, sonst wir werden austrocknen.«

Tanya stöhnte. »Ist doch egal. Ist sowieso hoffnungslos.«

Cassie sah, wie Karina den Kopf schüttelte und sich weiter durch den Inhalt der Einmannpackung vorarbeitete. »Gibt immer Hoffnung, egal wie schwach. Und wir stark bleiben müssen, um jede Gelegenheit ausnut… Aha!«

»Hast du Kekse gefunden?«, wollte Cassie wissen.

»Nein, aber ich habe Lösung zu anderem, das mich bedrückt hat.« Mit dieser Aussage hielt Karina eine Packung Toilettenpapier in die Höhe.

Im ‚Trainingslager‘

516 Copeland Road

Southwark, London, England

Mit dem Hörer am Ohr folgte Arsov mit wachsender Erleichterung den Ausführungen des Anwalts.

»… und sechs Mädchen sind des Verstoßes gegen das Einwanderungsgesetz bezichtigt – zwei Russinnen und vier aus der Ukraine. Sie sollen ausgewiesen werden, aber ich kann Einspruch einlegen …«

Arsov unterbrach den Anwalt. »Ganz im Gegenteil. Nutzen Sie all ihre Kontakte, um ihre Ausweisung zu beschleunigen; danach geben Sie mir ihre Namen und die Fluginformationen. Den Rest übernehme ich. Verstanden?«

Der Anwalt bestätigte die Anweisung und Arsov machte sich eine Notiz. Unmittelbar nach der Ankunft in ihren Heimatländern würden die Mädchen von Bratstvo-Mitgliedern empfangen werden, um sie umgehend wieder in das System einzugliedern – nach eventuell nötigen ‚Auffrischungskursen‘. Das war der schnellste Weg, sie wieder in einen Einkommen produzierenden Status zu überführen. Selbstverständlich konnten die Mädchen nicht länger in Großbritannien verkauft werden, aber die Welt war groß und die Bratstvo bedienten viele Märkte.

»Was ist mit den Managern der Klubs?«

»Wie erwähnt, Mr Nazarov und drei andere werden des ‚Betreiben eines Bordells‘ bezichtigt. Unwahrscheinlich, dass diese Vorwürfe aufrechterhalten werden können, es sei denn, die Klienten erklärten sich bereit, auszusagen, dass sie Geld gegen Sex getauscht haben. Die Behörden halten die Manager allerdings bis zur Kautionsanhörung in Gewahrsam, mit dem Argument, dass sie als Ausländer ein Fluchtrisiko darstellen. Ich werde darauf bestehen, dass die Anhörung für heute Nachmittag anberaumt wird. Spätestens heute Abend sollten sie wieder auf freiem Fuß sein.«

Arsov dachte nach. »Bestehen Sie nicht zu sehr darauf. Morgen Nachmittag ist vollkommen ausreichend.«

»Ja, aber … Liegt es nicht in Ihrem Interesse, sie so schnell wie …«

»Haben wir eine schlechte Verbindung oder sind Sie schwer von Begriff?«

»Äh … nein … nein, ich habe verstanden«, stotterte der Anwalt. »Morgen also?«

»Oder am Tag danach. Wie es dem Gericht am besten passt. Gibt es sonst noch etwas?«

»Nein, es sei denn, Sie …«

»Auf Wiederhören.« Arsov legte auf.

Zufrieden lehnte er sich in seinem wackligen Stuhl zurück und legte die Beine auf den alten Schreibtisch. Insgesamt liefen die Dinge weit besser als erwartet. Natürlich würde die Razzia ihre Einnahmen beeinträchtigen, aber nicht so weitreichend, wie er es befürchtet hatte. Nach ein oder zwei Wochen eines etwas langsameren Geschäfts würde er es wieder ankurbeln können. Noch besser - mit Nazarov zwei Tage aus dem Weg, konnte er seinen Plan weiter umsetzen. Das Konto in Nazarovs Namen auf den Kaimaninseln war bereits eröffnet. Nur musste er nur noch einige zusätzliche Beweise arrangieren. Danach konnte er Sankt Petersburg über den vollen Umfang des Problems und seine Vermutungen hinsichtlich Nazarovs Untreue unterrichten. Vielleicht sollte er den am wenigsten kompetenten der anderen Klubmanager, die ebenfalls in Gewahrsam waren, mit hineinziehen. Schließlich musste Nazarov einen Komplizen gehabt haben. Er lächelte. Die Bosse in Sankt Petersburg würden beeindruckt sein, dass er schon so kurz nach seiner Ankunft in London diese Unregelmäßigkeiten aufgedeckt hatte. Vielleicht stünde daraufhin eine weitere Beförderung an?