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Krankenhaus St. Ignatius

London, England

KOMPLETT ANGEZOGEN STARRTE ANNA DUGAN von der Seite des Bettes her aufgebracht an.

»Ich bin sehr wohl in der Lage zu laufen. Ich brauche KEINEN Rollstuhl.«

»Hey, kein Grund wütend auf mich zu sein. Ich habe nur wiederholt, was mir gesagt wurde. Krankenhausregeln. Alle entlassenen Patienten werden mit dem Rollstuhl zum Ausgang gebracht. Kein Rollstuhl, keine Entlassung.«

»In dem Fall hätten sie effizienter sein können. Ich warte hier nun schon eine ganze Stunde.«

Wie auf Kommando brachte in diesem Moment ein Pfleger einen Rollstuhl ins Zimmer. »Wer möchte nach Hause gehen?«, fragte er mit breitem Lächeln. Dugan sah, wie Anna sich eine scharfe Erwiderung verbiss.

»Das wäre ich«, sagte sie. Und trotz der vorherigen Bezeugung ihrer Fitness verzog sie beim Aufstehen ein wenig das Gesicht. Um ihr Gleichgewicht zu halten, hielt sie sich beim Umdrehen am Bett fest, was dem Pfleger erlaubte, den Rollstuhl hinter ihr in Position zu bringen. Dugan sprang von seinem eigenen Stuhl auf und griff ihr stützend unter den Arm, während sie im Rollstuhl Platz nahm. Anna hatte noch eine lange Zeit der Erholung vor sich

Der Pfleger sah Dugan an. »Zu Ihrem Wagen?«

»Vor dem Eingang wartet ein Taxi auf uns«, informierte Dugan ihn. Der Mann nickte und rollte den Stuhl den Gang hinunter. Aus dem Aufzug hinaus überquerten sie die großzügige Eingangshalle bis hinaus zum Taxi. Dugan half Anna, es sich auf dem Rücksitz des Taxis bequem zu machen, bevor er auf der anderen Seite neben ihr einstieg. Nachdem er dem Fahrer die Adresse Ihrer Wohnung genannt hatte, lehnte er sich zurück. Das Taxi fuhr an. Anna griff nach Dugans Hand.

»Wie geht es ihnen?«

Dugan sah sie an und zuckte mit den Achseln. »Zuerst waren sie genauso betäubt wie wir alle, denke ich. Die letzten Tage ist es in ihr Bewusstsein vorgedrungen. Ich bin mir nicht sicher, wer mehr am Boden zerstört ist, Alex oder Gillian. Das Haus wirkt wie ein Grab. Mrs Hogan kümmert sich um sie, aber keiner von beiden bekommt einen Bissen hinunter. Alex sitzt stundenlang allein in seinem Büro und starrt den leeren Kamin an. Mrs Hogan sagt, dass er stark der Flasche zuspricht. Genau wie damals als Kathleen starb. Und dieses Mal hat Gillian mit ihren eigenen Dämonen zu kämpfen.«

»Wie steht es mit dir?«

Erneutes Achselzucken. »Ich … ich bin ok, denke ich. Ich muss nur ständig daran denken … Was, wenn ich die Dinge anders angegangen wäre – wenn wir nur eine Stunde früher dort eingetroffen wären …«

»Tom, du darfst dir nicht die Schuld geben. Du hast alles Menschenmögliche getan, ihnen zu helfen. Das habt ihr alle. Alex und Gillian wissen das, da bin ich mir sicher.«

»Vielleicht. Aber sobald sie mich ansehen – sobald sie einen von uns ansehen – komme ich einfach nicht umhin zu denken, dass sie uns dennoch, bewusst oder unbewusst, die Schuld geben.«

»Das ist doch lächerlich. Alex und Gillian wissen, wie sehr du Cassie geliebt hast. Und Ilya hat seine Nichte verloren.«

Dugan nickte. »Vom Verstand her weiß ich, dass du Recht hast. Aber etwas macht es mir einfach unglaublich schwer, ihnen gegenüberzutreten. Anstatt unsere Trauer zu teilen, scheint es, als ob sie sich, wenn wir zusammen sind, vervielfältigt. Ich kann es nicht erklären. Aber die anderen empfinden es ebenso.«

»Und wie geht es Nigel und Ilya?«

»Nigel ist vollkommen am Ende. Er hat Albträume. Im Schlaf schreit er laut auf. Ilya ist wie eine tickende Zeitbombe. Er macht kaum den Mund auf, und wenn er spricht, dann nur einsilbig. Du kannst seine Rage beinahe fühlen, die in keinem geringen Maße gegen mich gerichtet ist.«

»Gegen DICH? Aus welchem Grund?«

»Er wollte die Kerle auf dem Schiff, die den Container abgeworfen haben – das wollten wir alle – aber der Pilot der Küstenwache weigerte sich, auf dem Schiff zu landen. Außerdem muss er eine Nachricht über die Angespanntheit der Situation weitergeleitet haben, da ich - noch bevor wir auf Cecil Field landeten - einen Anruf von Ward bekam. Er teilte mir mit, dass, falls wir nur den geringsten Versuch unternehmen sollten, uns dem Schiff und der Mannschaft zu nähern, der Handel, den er für Borgdanovs Rekruten abgeschlossen hat, hinfällig sein wird. Ich kann ihn verstehen. Es war sicher schwer genug, die eigentliche Idee zu verkaufen, ohne dass einer der potenziellen neuen Mitbürger ein Schiff voller Ausländer im Hafen von Jacksonville zusammenschießt. Und das noch bevor das Programm überhaupt angelaufen ist.«

»Wie hat Ilya das aufgenommen?«

»Schlecht, aber was konnte er tun? Momentan hat er keinen Kontakt zu Borgdanov, der im Hinblick auf die Stärke von Wards Versprechen Leute rekrutiert. Egal welcher Zorn auch in ihm wütet, Ilya würde nie etwas tun, was Andrei kompromittieren könnte. Aber er kann es nicht erwarten, von Borgdanov nach Russland befohlen zu werden. Die Schweinehunde dort tun mir leid, wenn er erst einmal eingetroffen ist.«

»Wie hast du dich von Ward getrennt?«

»Nicht im besten Einvernehmen. Einen Tag lang bemühten wir uns, herauszufinden, was mit der Mannschaft der Kapitan Godina passieren würde – nicht viel, wie sich herausstellte. Wirklich, ich war bereit, den Behörden die Sache zu überlassen, aber ich dachte zumindest, dass ETWAS mit ihnen geschehen würde. Ward eröffnete mir, dass sich der Kapitän einen Anwalt zugelegt hat, einen sehr teuren, und dass schlussendlich wohl nichts an ihm hängen bleiben wird.«

»Ich kann verstehen, wieso Ilya aufgebracht ist. Wie hat er DIESE Nachricht verkraftet?«

Dugan schüttelte den Kopf. »Er war schon wütend genug; ich habe es ihm nicht gesagt. Falls er die Wahrheit erfahren sollte, möchte ich nicht wissen, wie er reagieren wird. Jedenfalls wechselten Ward und ich Worte. Keine besonders freundlichen. Sagen wir einfach, dass er im Augenblick von meiner Weihnachtskartenliste gestrichen ist, zumindest vorläufig.«

»Deine Freundschaft mit Jesse Ward besteht seit langer Zeit.«

»Das tut sie auch weiter, denke ich. Und wir werden weiter gemeinsam an dem Handel arbeiten, den der Borgdanov versprochen hat. Aber momentan, zumindest die nächsten Tage, will ich nichts mit ihm zu tun haben. Er hat einige Male versucht, mich zu erreichen, aber was gibt es zu diskutieren? Ich lasse die Anrufe auf die Sprachbox gehen.«

»Hast du dir die Nachrichten angehört?«

»Nein. Und in naher Zukunft habe ich das auch nicht vor.«

Anna nickte. »Du bist aufgebracht. Das ist verständlich. Vielleicht wird der Gedenkgottesdienst allen ein wenig Trost spenden. Haben sich Alex und Gillian schon für ein Datum entschieden?«

»Nein. Sie denken, dass sie, sobald sie einen Gedenkgottesdienst planen, Cassie aufgeben. Ich weiß, dass Mrs Hogan sie vorsichtig in diese Richtung drängt, aber ohne Erfolg. Morgen früh als Erstes hat sie einen Besuch von Vater O’Malley arrangiert, zu dem sie mich eingeladen hat. Darauf freue ich mich nicht.«

»Soll ich mitkommen?«

Dugan schüttelte den Kopf. »Nein, der Arzt hat dich unter der Bedingung entlassen, dass du dich schonst. Er sagte, die erste Woche täglich nicht länger als eine Stunde auf den Krücken. Daran werden wir uns halten.« Er beugte sich zu ihr hinüber und sah ihr in die Augen. »Ich habe genug Menschen in meinem Leben verloren, Anna. Auf dich werde ich sehr gut aufpassen, ob du willst oder nicht.«

St. Petersburg

Russische Föderation

Vladimir Glazkov hielt den Hörer ans Ohr und schüttelte in stiller Verzweiflung den Kopf. Er seufzte. Es gab einfach keine Professionalität mehr, nur ein sich verringernder Pool an verwöhnten und jammernden Fachleuten einer aussterbenden Kunst. Manchmal vermisste er die alten Tage.

»… und Sie wissen, wie schwierig Mehrfachanschläge sind. Sobald ich ein Ziel erledigt habe, sind die anderen umgehend gewarnt. Sie könnten untertauchen und die Erledigung des Jobs verzögern. Und Sie bestehen darauf, dass dieser Job schnell erledigt wird.«

»Natürlich würden Sie sie alle gleichzeitig erledigen«, entgegnete Glazkov ungeduldig. »Eine Bombe etwa oder ein Autounfall, wenn alle im gleichen Wagen sitzen.«

»Was ist mit Kollateralschaden? Sind zusätzliche Opfer akzeptabel?«

Glazkov seufzte erneut. »Natürlich wollen wir nicht sehen, dass ein Dutzend unschuldiger Schulkinder oder beliebiger Touristen an einem öffentlichen Ort abgeschlachtet werden. Das würde als Terrorismus gelten und die Aufmerksamkeit der Behörden nur noch stärker auf uns lenken. Andererseits, solange sich die Liste der Opfer auf diese Kairouz-Leute, ihren amerikanischen Freund und auf nahe Bekannte beschränkt, halte ich es für hinnehmbar. Meiner Erfahrung nach regt sich die Allgemeinheit nicht allzu sehr über den Mord an reichen Leuten auf. Vielmehr gibt es ihr einen unbewussten Sinn der Zufriedenheit, denke ich. In wenigen Monaten wird eine andere Sensationsnachricht diesen Vorfall verdrängt haben. Danach können wir dann unauffällig damit beginnen, unsere Operationen in Großbritannien wieder aufzubauen.«

»Sie alle gleichzeitig an den gleichen Ort zu bekommen könnte schwierig werden. Einen Zeitrahmen kann ich nicht garantieren. Aber ich habe sie alle unter Beobachtung und werde hoffentlich bald zuschlagen können.«

»Überwachen Sie ihren Telefonverkehr?«

»Bisher nicht. Es war mir noch nicht möglich …«

»Wenn ich Recht verstehe, Fedosov, besteht Ihr Plan darin, ihnen so lange zu folgen, bis sich zufällig alle am gleichen Ort versammeln, wo Sie sie dann ausschalten werden?«

»Nein, natürlich nicht. Aber Sie sprachen das Thema gerade zum ersten Mal an, alle mit einem …«

Glazkov unterbrach ihn. »Das kam erst jetzt zum ersten Mal zur Sprache, da dies ein solch einleuchtender Gedanke ist, dass nur ein Trottel wie Sie nicht von alleine darauf kommt. Überwachen Sie ihre Gespräche, finden Sie heraus, wann Sie sich treffen werden und ERLEDIGEN SIE SIE! Habe ich mich klar genug ausgedrückt oder muss ich Ihnen ein Bild malen?«

»Nein, Chef. Ich mache mich sofort an die Arbeit.«

» Wenn Sie wissen, was gut für Sie ist. Und halten Sie mich auf dem Laufenden.« Er warf den Hörer auf die Gabel, stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch und vergrub das Gesicht in den Händen. Er vermisste die alten Tage, ohne Zweifel.