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Im ‚Trainingslager‘

516 Copeland Road

Southwark, London, England

IN SEINEM SCHÄBIGEN BÜRO STARRTE ARSOV auf die Fotocollage, die auf dem Schirm des kleinen Fernsehers zu sehen war. Per Knopfdruck auf die Fernbedienung erhöhte er die Lautstärke.

»… wahrscheinlich die Opfer eines Entführungsringes, der im Menschenhandel tätig ist. Die mutmaßlichen Kidnapper stammen aller Wahrscheinlichkeit aus Russland oder aus Osteuropa. Diese Tatsache muss allerdings erst bestätigt werden. Die Bevölkerung wird gebeten, umgehend die auf dem Bildschirm angegebene Nummer anzurufen, falls sie die Mädchen sehen sollten. Die Metropolitan Police betont, dass die Entführer bewaffnet und gefährlich sind. Niemand sollte versuchen, sie aufzuhalten. Ich wiederhole, sollten Sie etwas sehen oder über Informationen verfügen, rufen Sie bitte diese Nummer …«

»Verfluchte Scheiße!«, schrie Arsov und warf die Fernbedienung mit aller Kraft auf Nazarov, der auf dem Sofa saß. Der konnte sich rechtzeitig ducken. Die Fernbedienung prallte gegen die Betonwand und Nazarov wurde von herabregnenden Batterien getroffen, während sich der Fernsehschirm verdunkelte.

»Ich hoffe, du bist glücklich, du Idiot! Unser profitables, im Verborgenen fungierendes Geschäft wird jetzt enorm viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Jede beknackte Fernsehstation bringt die Geschichte!«

»Na und?«, begehrte Nazarov auf. »Bisher konnten sie uns nichts nachweisen. Das werden sie auch dieses Mal nicht tun. Wir haben die Mädchen. Zeugen gibt es keine. Die Mädchen, die noch nicht voll trainiert sind, ziehen wir aus dem Verkehr und bedrohen zur Sicherheit noch ihre Familien. Die trainierten Mädchen werden uns wie gewöhnlich unterstützen.« Er zuckte mit den Achseln. »Nichts hat sich geändert.«

»Kannst du wirklich so wahnsinnig begriffsstutzig sein? Natürlich hat sich die Situation verändert. Wie viel Macht und Einfluss bedarf es wohl, diese Fotos so schnell in alle Medien zu bekommen? Und noch dazu gleich als Aufmacher der Nachrichten auf jedem Kanal? Die Kacke ist am Dampfen, Nazarov, und sie wird uns von oben bis unten bespritzen.«

»Aber sie wissen nichts …«

»Sie kennen die Verbindung zum Klub Pyatnitsa, zumindest der Amerikaner und die Spetsnaz. Wir können davon ausgehen, dass die Polizei es somit ebenfalls weiß. Und glaubst du ernsthaft, dass unsere kleinen Vergnügungsangebote ein Geheimnis sind? Allein unsere Methoden machen es den Behörden unmöglich, eine Verurteilung zu erreichen. Und unsere Mädchen entstammen nicht der Lokalbevölkerung, was bedeutet, dass unsere strafrechtliche Verfolgung wenig politische Priorität hat. Aus dem Auge, aus dem Sinn. Schlimmstenfalls sieht uns die öffentliche Meinung als Verursacher eines ‚opferlosen‘ Verbrechens an. Und nun ist es dir innerhalb eines nachmittags gelungen, uns zu Entführern zu stempeln und uns zum Ziel einer Medienkampagne zu machen. Den Behörden bleibt jetzt keine Wahl. Selbst im Bewusstsein, dass es schwierig sein wird, Verurteilungen zu erreichen, müssen sie zumindest bei dem Versuch gesehen werden. Und das wird unsere Geschäfte enorm beeinträchtigen.«

An Nazarovs Gesichtsausdruck konnte Arsov erkennen, dass er endlich zu ihm durchgedrungen war.

»W… was sollen wir tun?«

»Zum Teil das, was du gerade vorgeschlagen hast. Sie kennen den Klub Pyatnitsa bereits. Kein Grund, ihn zu schließen, solange du sicherstellst, dass nur die absolut zuverlässigsten Mädchen dort arbeiten. Das gleiche gilt für all unsere Klubs. Ich bin mir sicher, dass sie sich in diesem Inferno, das du angerichtet hast, jeden Nachtklub mit vermuteter russischer Beteiligung vornehmen werden. Bring alle Mädchen, an denen du nur den geringsten Zweifel hegst, hier ins Lager zurück. Und mache vorübergehend alle Hurenhäuser dicht. Die mit den Kindern zuerst. Bring alle her. Und die Drogengeschäfte stoppst du ebenfalls …«

»Den Straßenverteilern wird das nicht gefallen. Die Junkies werden heulen und die Verteiler könnten versuchen, andere Quellen aufzutun.«

»Lass die Junkies ruhig einen Monat oder so jammern. Die kommen zurück, wenn wir so weit sind«, winkte Arsov ab. »Markentreue ist nicht unbedingt etwas, was den Junkies liegt. Und falls uns die Verteiler vorübergehend verlassen, ist das auch kein Problem. Sollten sie auf unsere Aufforderung hin nicht zurückkommen, bringen wir einfach einige von ihnen mitsamt ihren Familien um. Verstanden?«

»Aber wo soll ich all die Huren unterbringen? Wir haben nicht genug Käfige, um sie alle zu verstauen.«

»Hier im Warenhaus gibt es ausreichend leere Container. Sperr sie dort ein. Und jetzt beweg dich.«

Nazarov nickte und stand auf. Auf halbem Weg zur Tür hielt er inne. »Was ist mit Tanya und den beiden anderen? Soll ich sie zum Rest der Huren sperren?«

Arsov überlegte einen Augenblick. »Nein. Sie sind Unruhestifter, die einen schlechten Einfluss auf die anderen haben werden. In England werden wir sie in absehbarer Zeit sowieso nicht einsetzen können. Exportiere sie.«

»Wie denn? Ihre Fotos sind überall zu finden und unsere normalen Routen werden sicher strengstens überwacht.«

Arsov dachte nach. »Haben wir noch eine der ‚besonderen Frachtkisten‘, die wir modifizieren können?«

»Als wir das letzte Mal versuchten, Huren per Container zu verschicken, waren sie bei der Ankunft tot.«

Arsov zuckte mit den Achseln. »Dann wird die Beseitigung der Leichen das Problem eines anderen sein. Yuri und Anatoli sollen einen Container modifizieren, während du dich um den Rest kümmerst.«

Nazarov nickte und verließ das Büro. Arsov saß an seinem Schreibtisch und starrte sein Handy an. Er seufzte und nahm es auf, um Sankt Petersburg anzurufen.

Sonderdezernat 9, Spezielle Vergehen (SCD9)

Ausbeutung von Menschen/Organisiertes Verbrechen

Victoria Block, New Scotland Yard

Broadway

London, England

»Wir sind schon seit langem nicht mehr das ‚Sittendezernat‘, Agentin Walsh. Aber ich gehe davon aus, dass sich Ihr Verein in den heiligen Hallen des Thames House nicht mit solch banalen Kleinigkeiten beschäftigt. Dennoch wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie den korrekten Abteilungsnamen verwenden würden.«

Über den Konferenztisch hinweg erwiderte Anna den Blick des Mannes und verbiss sich eine scharfe Antwort. Ihr Treffen war von Anfang an schlecht gelaufen, da der Polizeiinspektor darauf bestanden hatte, Alex, Dugan und die Russen auszuschließen. Zudem hatte er deutlich gemacht, dass er die Beteiligung von Anna und die ihrer Kollegen vom MI5 nur auf eine Anordnung von ganz oben her tolerierte – deren Befolgung sich nicht auf Zivilisten erstreckte. Alex würde vor Wut im Exil eines Warteraums rasen, begleitet von Dugan und den aufgebrachten Russen. Da war sie sich sicher. Anna musste sich darum bemühen, diese Begegnung zu retten. Sie ließ dem Inspektor ihr gewinnendstes Lächeln zukommen.

»Meine Entschuldigung, Detective Inspector McKinnon. Ihre Abteilung war so lange das ‚Sittendezernat‘, dass ich einfach gewohnheitsmäßig diesen Begriff verwende. Selbstverständlich werde ich künftig den korrekten Abteilungsnamen verwenden und meine Kollegen werden meinem Beispiel folgen.«

Rechts und links von ihr nickten Lou und Harry einvernehmlich und McKinnons Blick wurde freundlicher – allerdings nur geringfügig.

»Das würden wir begrüßen, Agentin Walsh. Ihnen ist zweifellos bewusst, dass das alte Sittendezernat eine lange Geschichte hatte, die insgesamt nicht unbedingt positiv war. Die meisten von uns sind dieser Einheit neu zugewiesen worden. Wir haben uns die letzten achtzehn Monate sehr darum bemüht, SCD9 vom Vermächtnis unseres Vorgängers zu befreien.« McKinnon seufzte. »Wir haben Fortschritte gemacht, aber unsere Reformen sind noch nicht abgeschlossen.«

Anna nickte. Das Sittendezernat war schon immer die unterste Schublade der Londoner Metropolitan Police gewesen. Die Versetzung dorthin kam einem karrierebeendenden Umzug gleich. Seit seiner Formierung in den dreißiger Jahren hing dem Dezernat ein anrüchiger Ruf an. Ihren Tiefpunkt erreichte die Abteilung in den siebziger Jahren, als sich beständige Vorwürfe der Korruption als wahr erwiesen und über zwanzig Detectives fristlos entlassen wurden. Seither hatte es gelegentliche und bislang wenig überzeugende Versuche gegeben, die Einheit zu reformieren. Der vor kurzem erfolgte Namenswechsel und der damit verbundene Einsatz von neuem Personal stellten nur die Neuesten all dieser Bemühungen dar.

»Ich verstehe«, nickte Anna, »und ich versichere Ihnen, dass MI5 Sie bei diesen Anstrengungen unterstützen wird.«

McKinnon zog eine Augenbraue nach oben. »Das bringt mich zu meiner ersten Frage. Aus welchem Grund ist der Geheimdienst an dieser Sache interessiert? Da es sich hier eindeutig um eine polizeiliche Aufgabe handelt, kann ich mir MI5s Einmischung nicht erklären. Können Sie mir dazu Näheres sagen?«

Anna zögerte. »Alexander Kairouz, Thomas Dugan und ihre Begleiter haben der Krone wiederholt herausragende Dienste geleistet. Aus diesem Grund und dank Mr Kairouz’ politischen Verbindungen genießen sie das Wohlwollen der Regierung Ihrer Majestät. Daher ist es nur natürlich, dass Mr Kairouz in einer Lage wie dieser die Hilfe der Regierung in Anspruch nehmen möchte.« Sie hielt inne. »Von daher gleich ein Hinweis in aller Freundschaft, Inspektor. Ich bin mir nicht sicher, ob es

eine gute Idee ist, Mr Kairouz von diesen Diskussionen auszuschließen.«

»Nun, ich denke, da steckt womöglich etwas mehr dahinter, Agentin Walsh – mir scheint, als gäbe es zwischen Ihnen eine persönliche Verbindung. Aber das wollen wir im Moment außen vor lassen. Hinsichtlich unseres Vorgehens werde ich allein IHNEN den kompletten Sachverhalt darlegen. Was Sie Mr Kairouz und seinem Anhang mitteilen oder wie Sie sie gegebenenfalls einbeziehen, bleibt vollkommen Ihnen überlassen. Nur eines noch: von Außenstehenden erwarte ich, dass sie sich nicht in unsere Operation einmischen. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?«

»Absolut«, versicherte Anna. »Womit wollen wir beginnen?«

McKinnon öffnete eine dicke Aktenmappe und reichte Anna einen gehefteten Packen Papier.

»Zusammengestellt, ohne über detaillierte Geheimdienstinformationen zu verfügen und unter enormem Zeitdruck«, kündigte McKinnon an. »Das ist eine Liste aller vermuteten und bekannten illegalen Unternehmen in London und Umgebung, die von Russen betrieben werden. Wir sind dabei, uns auf eine simultane Razzia aller Standorte vorzubereiten. Egal, wo die Mädchen sich aufhalten, ich denke, wir werden sie finden und höchstwahrscheinlich noch eine Menge anderer Dinge.«

Anna blätterte die Liste durch. »Das müssen über fünfzig Örtlichkeiten sein. Wie wollen Sie das durchziehen? Dazu ist eine massive Anzahl von Einsatzkräften nötig.«

»Siebenundfünfzig, um genau zu sein. Und ich gehe davon aus, dass ich Ihrem Mr Kairouz für diese Einsatzkräfte zu danken habe. Leute, die mich sonst nicht einmal angesehen hätten, rufen mich nun an, um mir ihre Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Und Friedensrichter, die uns normalerweise alle möglichen Hindernisse in den Weg legen, unterschreiben plötzlich die Durchsuchungsbefehle mit einem Minimum an Aufwand unsererseits.« Hier lächelte er zum ersten Mal. »Tatsächlich fühlt es sich beinahe etwas wie Weihnachten an.«

»Hervorragend!«, freute sich Anna.

»Wann geht es los?«, erkundigte sich Lou.

»In achtundvierzig Stunden oder vielleicht ein wenig später«, gab McKinnon Auskunft.

»So lange?«, fragte Anna.

»Wir müssen sicher gehen, dass wir auf einen Schlag so viele wie möglich von ihnen erwischen. Was Koordination voraussetzt. Sobald wir mit der Operation begonnen haben, wird sich die Kunde wie ein Lauffeuer an jeden Ort verbreiten, den wir übersehen haben. Bitte verstehen Sie, falls wir die Mädchen bei diesen Durchsuchungen nicht ausfindig machen, wird es danach weit schwieriger werden, sie aufzuspüren.«

»Vielleicht sollten wir abwarten und zunächst versuchen, den Aufenthaltsort der Mädchen zu bestimmen«, schlug Harry vor.

McKinnon sah zu Anna hinüber. »Denken Sie, dafür bleibt uns die Zeit, Agentin Walsh?«

Anna sah sich die Liste noch einmal intensiv an, bevor sie langsam den Kopf schüttelte. »Nein, das denke ich leider nicht. Ihre schnelle, allumfassende Razzia ist unsere beste Chance. Gott steh uns bei, falls wir uns täuschen.«