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Die Kairouz-Residenz

London, England

ALEX WAR NOCH IM BÜRO als Gillian nach Hause kam. In der Eingangshalle wurde sie von einer nervösen Cassie begrüßt, was Gillians Plan, umgehend Dugan und Anna anzurufen, momentan in den Hintergrund drängte.

»Hast du es ihm gesagt? Wie hat er darauf reagiert?«

Sorgfältig formulierte Gillian ihre Antwort.

»Dein Vater war von deiner Beziehung nicht unbedingt begeistert, aber ich denke, er wird sich an den Gedanken gewöhnen. Am besten geben wir ihm wohl einfach etwas Zeit.«

»Er wird doch nichts gegen Nigel unternehmen, oder?«, fragte Cassie und sprach ohne eine Antwort abzuwarten weiter. »Ich hätte besser nichts gesagt. Papa wird alles kaputtmachen!«

Gillian nahm ihre Stieftochter in die Arme und zog sie an sich. »Beruhige dich, Schätzchen. Dein Vater ist kein Monster; er macht sich nur Gedanken um dich. Das ist alles. Er will verhindern, dass dir jemand wehtut.«

»Aber Nigel würde mich nie verletzen, Mama. Er ist gutherzig und wunderbar! Ihm liegt nichts an … an vielen Dingen. Tatsächlich ist er Papa sehr ähnlich.«

Gillian lächelte. »Diese Einschätzung solltest du im Moment wohl besser für dich behalten. Ich bin mir nicht sicher, wie dein Vater das verstehen würde.« Sie hielt Cassie auf Armeslänge von sich. »Und wo befindet sich unser junger Nigel jetzt? Was hörst du von ihm?«

»Er ist in Europa. Sein Schiff trifft heute Abend spät in Southhampton ein. Ich hoffe, wir werden uns über Skype unterhalten. Es ist so viel schöner, wenn wir uns sehen können.«

»Das glaube ich dir. Ok, Southhampton sagst du … Vielleicht ist es an der Zeit, unsere Bekanntschaft mit dem jungen Mr Havelock zu erneuern. Solange sein Schiff in der Nähe vor Anker liegt, warum laden wir ihn nicht zum Abendessen ein?«

Alarmiert sah Cassie sie an. »Nein! Ich meine, ich weiß nicht. Er … er weiß nicht, dass ich es dir erzählt habe. Ich bin mir nicht sicher, ob er zum Essen kommen möchte.«

Gillian nickte. »Die Idee, die Eltern deiner Freundin kennenzulernen, ist sicher bedrohlich genug. Noch schlimmer, wenn der Vater des Mädchens dein Arbeitgeber ist. Wie dem auch sei, irgendwann wird er sich dieser Tortur stellen müssen. Also kann er es genauso gut hinter sich bringen. Ich denke, ich kann Mr Havelock zusichern, dass ich deinen Vater zu seinem besten Benehmen verpflichten werde.«

»Ok«, stimmte Cassie mit Zweifel in der Stimme zu. »Ich hoffe nur, dass Nigel mir nicht böse sein wird. Ich … ich habe ihm nicht gesagt, dass ich dir von uns erzählen werde.«

Gillian umarmte Cassie erneut. »Alles wird gut gehen, meine Liebe. Da bin ich mir sicher. Und jetzt genug davon. Wirst du heute Abend mit uns zu Abend essen?«

»Ingrid und ich wollten uns eigentlich mit einigen Freunden zum Pizzaessen treffen.«

»Sicher. Erledige nur deine Hausaufgaben, bevor du gehst. Und lass Mrs Hogan wissen, dass du nicht mit uns essen wirst.«

»Danke, Mama.« Cassie erwiderte Gillians Umarmung, lächelte sie glücklich an und eilte in Richtung Küche davon.

Gillian sah ihrer Stieftochter einen Augenblick nach. Beinahe seit ihrer Geburt hatte sie sich um Cassie gekümmert, aber zur ‚Mama‘ war sie erst in den wenigen Jahren geworden, seit sie Alex geheiratet hatte. Gelegentlich, wenn Cassie sie so rief, wurde Gillian von Emotionen überwältigt. Sie hoffte um seinetwillen, dass Nigel Havelock so wundervoll war, wie Cassie es annahm. Falls er dem Mädchen wehtun sollte, würde Alex Kairouz die Geringste seiner Sorgen sein.

Gillian sammelte sich und ging zum Telefon.

Die Kairouz-Residenz

London, England

Gillian arrangierte ihre Zusammenkunft mit nur einem Anruf in die Büros der Phoenix Schifffahrtsgesellschaft, in der Alex Kairouz als Vorstandsvorsitzender und Tom Dugan als Geschäftsführender Direktor gleichrangige Partner waren. Dugan verabredete, mit Alex nach Hause zu fahren. Anna, in den Büros des MI5 im nahegelegenen Thames House, erklärte sich einverstanden, die beiden Russen für ein Treffen bei den Kairouz‘ in ihrem Apartment abzuholen. Bereits eine Stunde nach Gillians Anruf waren sie um den Esszimmertisch versammelt.

»Das stimmt so ziemlich mit dem überein, was ich vom Sittendezernat der Metropolitan Police erfahren habe«, bestätigte Anna, nachdem Gillian von Glorias Erkundigungen berichtet hatte. »Den Klub Pyatnitsa erwähnten sie ebenfalls, ohne ihn allerdings als das Nervenzentrum auszuweisen. Entweder ist ihnen das unbekannt oder sie waren absichtlich ein wenig vage. Sie schienen nicht sonderlich begeistert, dass ich mich auf ihrem Spielplatz umsehen wollte.«

»Haben sie dir eine Alternative geboten, um zu vermeiden, dass wir uns einmischen?«, erkundigte sich Alex. »Vielleicht, dass sie selbst in der Sache ermitteln werden?«

Anna schüttelte den Kopf. »Nein, und mir fehlt ein Druckmittel. Das Sittendezernat innerhalb der Metropolitan Police ist eine Spezialabteilung, die normalerweise wenig Kontakt zu MI5 hat. Niemand dort schuldet mir einen Gefallen.«

»Ok, dann muss ich wohl in diesen Klub Pyatnitsa gehen, um mich dort ein wenig umzusehen«, folgerte Dugan.

»Nyet, Dyed«, widersprach Borgdanov. »Ist besser, wenn Ilya und ich gehen. Wie Gillian sagt, sind sehr gefährliche Leute. Wir sind dankbar für Information, aber Ilya und ich sollten Sache machen.«

»Nein, tatsächlich hat Tom Recht«, warf Anna ein. »Versteht mich bitte nicht falsch, aber ihr beiden werdet dort wie ein bunter Hund auffallen. Zudem ist es unwahrscheinlich, dass ihr in den Klub spazieren und Karina dort finden werdet. Wahrscheinlicher ist, dass wir uns diskret umhören müssen.«

»Aber meisten Mädchen sind russisch und wir sprechen Russisch«, argumentierte Borgdanov.

»Was eher schaden als nützen könnte«, konterte Anna. »Ihr habt selbst gesagt, dass einige ehemalige Spetsnaz-Angehörige sich mit der russischen Mafia eingelassen haben. Und ihr beiden könntet das Wort ‚Militär‘ genauso gut auf die Stirn tätowiert haben. Sobald ihr auftaucht und anfangt, Fragen zu stellen, werden die Mädchen denken, dass ihr entweder für ihren Arbeitgeber oder für einen Rivalen arbeitet. Egal für wen, jedenfalls werden sie nicht reden wollen oder euch bestenfalls das erzählen, was sie glauben, dass ihr hören wollt.«

Die Russen nickten. »Da, daran ich habe nicht gedacht«, gab Borgdanov zu.

»Vielleicht sollte ich gehen«, schlug Alex vor.

Dugan schüttelte den Kopf. »Ich gehe eher als überzeugender Freier durch, Alex. Du bist zu offensichtlich ein Einheimischer. Wenn du unvermittelt auftauchst, könnten diese Mafiakerle misstrauisch werden, wieso sie dich nicht schon vorher gesehen haben. Mit meinem Akzent kann ich als geiler Amerikaner mittleren Alters auftreten, der geschäftlich in der Stadt ist und sich amüsieren möchte.«

»Zutreffend in so vielen Aspekten«, feixte Anna, »wobei ich mich zurückhalten werde, sie im Einzelnen zu benennen.«

Dugan warf ihr einen beleidigten Blick zu, während Alex und Gillian lachten und die Russen verwirrt aussahen. Nachdem das Lachen verklungen war, schüttelte Ilya Denosovitch den Kopf.

»Sache gefällt mir nicht. Ist meine Familie, ich sollte Risiko eingehen. Das sehr schlechte Menschen sind, Dyed

»Mir ist auch nicht daran gelegen, Tom in Gefahr zu bringen«, versicherte Anna ihm. »Deshalb werden wir uns absichern. Wir statten ihn mit einem Abhörgerät aus, um seinen Gesprächen zuhören zu können. Und ihr beiden …« Sie nickte den Russen zu. »… werdet draußen vor dem Klub mit mir zusammen warten. Falls er in Schwierigkeiten geraten sollte, könnt ihr ihm zu Hilfe kommen.«

»Da«, pflichtete Borgdanov ihr bei und Ilya nickte. »Das, ich denke, ist gute Idee.«

»Wann?«, fragte Dugan.

»Ich muss den Lieferwagen und das Abhörgerät organisieren.« Anna sah auf die Uhr. »Da es sich offensichtlich um eine Nachtoperation handelt und es damit für heute zu spät ist, schlage ich morgen Abend vor.«

Berwick-Straße, Soho

London, England

Dugan blickte aus dem Fenster des Taxis, das südlich in die Berwick-Straße einbog. Soho hatte sich während des letzten Jahrzehnts verändert. Die ehemals anrüchige Gegend voller Sexshops und Striptease-Lokale hatte sich zu einem Theaterdistrikt mit einem vielseitigen Angebot an gehobenen Geschäften, Restaurants und Büros gemausert. Dennoch, hier und da waren noch Überreste der schäbigen Vergangenheit erkennbar - Sexshops und Striptease-Lokale, die nun dank ihres Umfelds beinahe ‚exklusiv‘ erschienen. Kein Wunder, dass die Russen diesen florierenden Standort für den Klub Pyatnitsa gewählt hatten. Zweifellos wurde diese Gegend von einer wohlhabenderen Kundschaft frequentiert. Alles sah beinahe respektabel aus.

Anna und die Russen waren bereits vor Ort - ihr Lieferwagen parkte in einer schmalen Seitenstraße neben dem Klub - als Dugan in seinem Taxi vorfuhr. Ein typischer Ausländer, der in der großen Stadt sein Glück suchte. Direkt gegenüber konnte er den Klub erkennen. Der Taxifahrer fuhr am Straßenrand an.

»Da sind wir, Mr«, kündigte der Fahrer an und sah auf sein Taxameter. »Macht sechzehn Pfund.«

Dugan reichte dem Fahrer einen Zwanziger und verweigerte das Wechselgeld.

»Danke, Kumpel«, sagte der Fahrer, als Dugan die Tür zuschlug.

Dugan sah sich um und zog sein Handy aus der Tasche. Er hielt es ans Ohr, als ob er sich mit jemandem unterhalten würde und sagte dann: »Ich bin hier. Könnt ihr mich hören?«

»Ich kann dich einwandfrei verstehen, Tom«, hörte er Annas Stimme in seinem Ohr. »Aber erregst du kein Aufsehen, wenn du mitten auf der Straße stehst und dich mit deinem unsichtbaren Freund unterhältst?«

»Himmel, traust du mir den gar nichts zu? Ich spreche in mein Handy.«

Anna lachte. »Ok, Tarzan. Nachdem wir nun das System geprüft haben, nimmst du besser das Gerät aus dem Ohr. Erinnerst du dich an das Rettungswort?«

»Nein«, entgegnete Dugan. »Das habe ich total vergessen, seit dem wir vor dreißig Minuten das letzte Mal gesprochen haben. Natürlich erinnere ich mich. Es ist Stoli.«

»Gut. Sei nur vorsichtig, dass du nicht irrtümlich einen Wodka bestellst. Sonst stürmen unsere russischen Freunde den Laden, um dich zu retten.«

»Ich werde mich bemühen, meine Senilität zu bekämpfen, um das im Gedächtnis zu behalten. Ich nehme jetzt den Ohrhörer heraus, damit ich mir nicht länger diese Beleidigungen anhören muss.« Annas Gelächter stoppte mit der diskreten Entfernung des kleinen Ohrstöpsels aus seinem rechten Ohr, den er unbemerkt in seine Tasche gleiten ließ.

Dugan überquerte die Straße und ging auf den Klub zu. Kurz davor öffnete sich dessen Tür, aus der ein großer, gut angezogener Mann trat, in dessen Armen auf jeder Seite ein attraktives Mädchen lag. Stampfende Rockmusik dröhnte aus der Tür, bevor sie sich wieder schloss. Betrunken lächelte der Mann Dugan an. »Ein toller Laden«, teilte er ihm mit starkem deutschem Akzent mit. »Ich habe diese beiden entzückenden Damen zum Essen eingeladen.«

»Aha … sehr schön, viel Glück damit«, erwiderte Dugan.

»Tja, das ist das Schöne an der Sache«, klärte ihn der Mann breit grinsend auf. »Glück ist hier nicht im Spiel. Kommt, meine Hübschen, unser Abendessen wartet auf uns.«

Dugan sah zu, wie das Trio an den Straßenrand wankte, wo der betrunkene Deutsche ein Taxi anhielt.

»Du verwechselst dein Blutdruckmedikament besser nicht mit deinem Viagra, du Schwachkopf«, murmelte Dugan verhalten.

Er schob sich durch die Tür in den Klub hinein, wo ihn die Musik umfing. Drinnen stand ein Mann neben einem Podium, der Dugan abschätzend ansah.

»Guten Abend, Sir«, begrüßte er ihn mit kaum merklichem russischem Akzent. »Der Eintrittspreis beträgt vierzig Pfund, in dem zwei Getränke eingeschlossen sind. Aber ein wohlhabend aussehender Mann wie Sie hätte sicher gerne einen Tisch direkt an der Bühne – für nur zehn Pfund extra.«

Dugan nickte. »Für mich immer nur das Beste«, bestätigte er und zog eine Geldklammer hervor, die speziell für seinen kleinen Ausflug mit einem dicken Packen Fünfzig-Pfund Noten bestückt war. Er reichte dem Mann einen Geldschein.

Der Mann nickte und steckte die Banknote ein. »Ich wusste, dass Sie ein Mann von Qualität sind.« Er bedeutete Dugan, ihm zu folgen.

Im Innern des Klubs war die Musik sogar noch lauter. Eine breite, hufeisenförmige Bühne dominierte den Raum. An den in regelmäßigen Abständen angebrachten Messingstangen bewegten sich windende Mädchen. Die Tänzerinnen trugen nichts außer ihrer Lingerie, die eher dazu diente, ihre Vorzüge hervorzuheben statt sie zu verbergen. Die Bühne diente gleichzeitig als Bar, hinter der attraktive, ebenfalls knapp bekleidete Barmädchen die Kunden nonstop in der Hoffnung anlächelten, einige der Geldscheine zu ergattern, die nicht in die Slips der Tänzerinnen – oder an andere Stellen – gestopft wurden.

Um eine Seite der Bühne/Bar herum waren winzige Tische gruppiert, die mit je zwei Stühlen bestückt waren. Die weniger Begüterten saßen an größeren Tischen, weiter von der Bühne entfernt. Die Mädchen, die nicht auf der Bühne standen, zirkulierten durch den vollbesetzten Raum, tranken und unterhielten sich mit den Kunden. Gelegentlich nahm eines der Mädchen einen Kunden bei der Hand und führte ihn in eine der Nischen an der Rückwand, wo sich der schwarze Samtvorhang hinter ihnen schloss.

»Hier bitte, Sir«, schrie der Russe in Dugans Ohr und deutete auf einen kleinen Tisch. Dugan nickte und nahm direkt vor einem erstaunlich flexiblen Mädchen Platz, während der Mann zwei Getränkescheine vor ihm auf den Tisch deponierte und ging.

Er starrte zu dem lächelnden Mädchen hinauf und wunderte sich, ob die Wahl seines Sitzplatzes angesichts der Tatsache, dass er im Hintergrund bleiben wollte, die Richtige gewesen war. Dann nahm ein Mädchen auf dem leeren Stuhl neben ihm Platz. Sie schien zwischen achtzehn und zwanzig Jahren alt zu sein. Ihr langes, dunkles Haar wurde durch einen Pferdeschwanz zusammengehalten, der ihr halbwegs den Rücken hinunterfiel. Sie trug den knappsten aller schwarzen Bikinis. Dugan fühlte eine Hand auf seinem Oberschenkel. Sie lehnte sich vor. Ihr lächelndes Gesicht war nur Zentimeter von seinem entfernt. Ihr winziges Oberteil wurde ihren üppigen Brüste kaum gerecht.

»Hallo mein Hübscher«, gurrte sie in akzentuiertem Englisch, während sie seine Getränkecoupons aufhob. »Spendierst du mir einen Drink?«

»Mit dem größten Vergnügen«, erwiderte Dugan. Das Mädchen hielt die Tickets hoch und winkte einem ebenfalls spärlich bekleideten Mädchen zu, das ein Tablett mit den verschiedensten Getränken durch den Raum trug.

Dugans neue Bekannte nahm etwas in einem Champagnerglas vom Tablett. Dugans Glas stellte sich als lauwarmes und verwässertes Bier heraus.

Das Mädchen nippte an ihrem Glas und beugte sich nun mit der Hand auf seinem inneren Oberschenkel zu ihm vor. »Also, mein Süßer, wie heißt du? Ich bin Tanya.«

»Ich bin Tom.«

Das Mädchen strahlte. »Ah, du bist Amerikaner, nicht wahr? Was führt dich her, Tom?«

»Geschäfte«, erwiderte Dugan lächelnd. »Und jetzt das Vergnügen.«

»Von Vergnügen verstehe ich etwas«, flüsterte Tanya, die näher rutschte und anfing, ihn mit der Hand zwischen den Beinen zu streicheln – natürlich mit unvermeidlichem Resultat. »Soll ich dir einen blasen?«

So viel für Konversation, dachte Dugan, und sah sich befangen um. Aber niemand schenkte ihnen die geringste Aufmerksamkeit.

»Ähm … hier?«

Das Mädchen lachte. »Natürlich nicht. Du musst uns eine Champagnernische besorgen.« Sie nickte in Richtung der verhangenen Alkoven entlang der rückseitigen Wand. »Nur fünfzig Pfund für eine Flasche ausgezeichneten Champagner und einen privaten Ort zum Trinken.« Sie lächelte verheißungsvoll. »Mein Trinkgeld können wir dann in der Nische besprechen.«

»Etwas Intimeres wäre mir lieber. Als ich hereinkam, verließ ein Mann mit zwei Mädchen am Arm die Bar. Wie wäre es, wenn du mit mir in mein Hotel kommst?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nyet. Ich bin noch im Training. Ich kann nicht weg. Für Intimeres gibt es hinten Zimmer, die teurer sind. Einhundert Pfund für dreißig Minuten. Du musst zahlen, bevor wir dort hingehen.«

Dugan nickte und griff in die Tasche. Er nahm zwei Fünfziger von seiner Rolle und reichte sie Tanya. Sie zeigte ihm an, sitzen zu bleiben und ging dann auf den Eingang zu, zweifellos um dem Mann am Podium das Geld abzuliefern. Einen Augenblick später kam sie mit einem Schlüssel zurück. Sie führte Dugan durch eine mit einem Vorhang verhängte Tür in einen spärlich beleuchteten Flur, von dem auf jeder Seite mehrere Türen abgingen. Sie stoppte vor der letzten Tür auf der rechten Seite, direkt neben der alarmgeschützten Hintertür, die – nach Dugans Einschätzung - in eine Seitengasse mündete.

»Dieser Flur könnte etwas besser beleuchtet sein«, kommentierte Dugan zum Nutzen von Anna im Lieferwagen. »Führt diese Tür nach draußen in eine Seitenstraße? Vielleicht könnten wir von hier aus in mein Hotel kommen.«

»Nyet. Ich sagte doch, dass ich nicht gehen kann. Außerdem …« Sie lächelte ihn an, »… hast du für das Zimmer schon bezahlt.«

Damit öffnete sie die Tür und führte Dugan in ein mittelgroßes, nicht unbedingt sauberes Schlafzimmer, von dem aus eine Tür in ein angeschlossenes Badezimmer führte. Sie legte den Schlüssel auf einer mitgenommenen Truhe ab und drehte sich zu Dugan um. Mit den Armen um seinen Hals gelegt, lächelte sie ihn an und presste ihren Körper gegen den seinen.

»Und jetzt, Amerikaner Tom, wir besprechen, was Tanya für dich tun kann, da

Sanft befreite sich Dugan aus den Armen des Mädchens, bevor er einen Schritt zurücktrat und in seine Hosentasche griff. Er zog seine Geldklammer vor und hielt dem Mädchen ein Dutzend Banknoten entgegen.

Ihre Reaktion überraschte ihn. Tanyas Augen weiteten sich. Sie wirkte bestürzt. Ihre Körpersprache drückte Angst aus. Mit den Augen auf das Geld in seiner ausgestreckten Hand gerichtet, trat sie einen halben Schritt zurück.

»Ist sehr viel. Was … was soll ich dafür tun?«

»Nichts Ausgefallenes. Ich will nur einige Informationen.«

Der Gesichtsausdruck des Mädchens verhärtete sich. »Du bist also Polizei. Ich habe nichts zu sagen. Verschwinde!«

»Beruhige dich. Ich bin nicht von der Polizei.«

»Wer du auch bist, ich will nicht mit dir reden. Du musst gehen!«

»Ok, ich gehe.« Dugan legte das Geld auf die Kommode und griff nach etwas in seiner Jackentasche. »Aber erst möchte ich, dass du dir ein Foto ansiehst und mir sagst, ob du das Mädchen erkennst.«

Tanya wandte sich ab, aber Dugan hielt ihr das Bild direkt vor die Nase. Ihr blieb keine andere Wahl, als es anzuschauen.

Sie wurde leichenblass, schüttelte aber den Kopf. »Ich habe sie nie gesehen. Ich kenne nicht. Und jetzt geh!«

»Das Foto eines Mädchens, das du gar nicht kennst, scheinst dich stark zu verwirren. Erzähle mir, was du weißt, und das Geld gehört dir. Und noch Fünfhundert mehr.«

Das Mädchen sah sich verängstigt um, senkte dann die Stimme und zischte Dugan zu: »Du wirst uns beide Tod bringen, du Narr! Nimm dein Geld und verschwinde!«

* * *

Mehrere Türen weiter den Flur hinunter richtete sich Nazarov an seinem Schreibtisch auf und starrte auf den Monitor. Es war Standardprozedur, zuzuhören und zuzusehen, wenn eines der Mädchen einen Freier auf ein Zimmer mitnahm. Die Mädchen den Preis aushandeln zu lassen, hatte sich als effektiver erwiesen, da die Freier sich gewöhnlich großzügiger zeigten, sobald sie glaubten, dass das Geld den Mädchen zugute kam. Dennoch, gutes Geschäftsgebaren verlangte, dass sie den Verhandlungen folgten, um sicherzustellen, dass die kleinen Schlampen später auch alles Geld ablieferten. Und noch dazu war es oft unterhaltend, dem Sex zuzusehen – die lustigsten Videos behielt er, um sie sich später erneut ansehen zu können.

»Yuri«, forderte er einen großen Mann auf, der auf dem Sofa neben ihm ein Pornoheft durchblätterte. »Tanya hat ein Problem mit einem Freier in Zimmer Sechs. Bring ihn zu mir.«

»Da«, bestätigte der Mann und erhob sich. Er war mindestens 1,95 Meter groß mit einem ausladenden Brustkorb. Unter einem eng anliegenden Polohemd waren seine muskelbepackten und mit stark hervortretenden Venen gezeichneten Arme sichtbar – das eindeutige Anzeichen von Steroidmissbrauch. Eine durch sein Hemd kaum kaschierte Nackentätowierung war ebenfalls zu erkennen.

»Kann ich ihm eine verpassen?«

Nazarov zuckte mit den Achseln. »Bring ihn einfach nur her. Tu ihm nicht zu sehr weh, es sei denn, er wehrt sich. Dann tu, was du tun musst.«

Yuri nickte und setzte sich in Bewegung.

»Bring ihn in keinem Fall um«, rief ihm Nazarov hinterher. »Da läuft irgendetwas, und ich muss wissen, was es ist.«

Klub Pyatnitsa

London, England

Ein überraschter Dugan wich zurück, als er schwere Schritte im Gang vernahm, die sich rasch ihrem Zimmer näherten. Unmittelbar danach sprang die Tür auf und ein ungeschlachter Russe stand im Türrahmen. Tanya floh in die hinterste Ecke des Zimmers und kauerte sich dort mit über dem Kopf verschlungenen Armen in Abwehrstellung zusammen. Es war offensichtlich, dass ihr dieser Mann bekannt war. Dugan, den dieser unerwartete Besuch zugegebenermaßen aus der Fassung gebracht hatte, versuchte, darüber hinwegzutäuschen.

»Ich habe für das Zimmer bezahlt. Verschwinden Sie, verdammt noch mal!«

Der Russe ignorierte Dugan und betrat den Raum. »Du kommst mit mir.« Sein Englisch war stark akzentuiert.

»Ich gehe nirgendwo hin, Freundchen«, weigerte sich Dugan, der einen weiteren Schritt zurücktrat, »es sei denn, zurück zur Bar auf einen Stoli.« Den letzten Satz sprach er auf seine Brust hinunter, mit besonderer Betonung auf das Wort ‚Stoli‘.

»Du kommst jetzt.« Der Russe ging auf Dugan zu.

Dugan zog sich um das Bett herum auf die andere Seite zurück. Der massive Russe blockierte den Weg zur Tür. Dugan war ebenfalls kein kleiner Mann - aber gegen diesen Typen hatte er keine Chance. Wo zum Teufel blieben Borgdanov und Ilya?

»Ich könnte wirklich einen verdammten Stoli gebrauchen!«, wobei er die letzten Worte beinahe laut ausrief.

Der große Russe sah ihn fragend an. »Was soll Gerede von Stoli? Bist du Idiot? Jetzt komm, bevor ich dir wehtue.« Diese Drohung unterstrich er damit, indem er schneller als Dugan es für möglich gehalten hatte, das Bett umrundete.

Dugan sprang auf das Bett, in der Absicht, zur offenen Tür zu gelangen. Stattdessen fühlte er, wie sich die Arme des Russen um seine Beine legten. Wild wand er sich im Griff des Mannes und schlug mit der Faust der rechten Hand hart und dennoch vorsichtig - um sich nicht die Fingerknöchel zu brechen - auf den knochigen Schädel des Schlägers ein. Der Russe gab Dugan frei und fiel auf das Bett. Dugan setzte zur Flucht an.

Aber der Russe hatte andere Pläne. Es gelang ihm, einen von Dugans Füßen zu erwischen und ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Der stürzte und landete hart und mit dem Rücken aufschlagend auf dem Fußboden, was ihm die Luft nahm. Und dann stand der Russe mit geballten Fäusten über ihm – mit einem teuflischen Lächeln in den Augen.

* * *

Anna saß im Fahrersitz des Lieferwagens und folgte Dugans Gespräch mit dem Mädchen über die Lautsprecher, heimlich über das Unbehagen amüsiert, das er empfinden musste. Stoisch und betont unbeteiligt vermieden die Russen Annas Blick, als das Mädchen Dugan oralen Sex anbot.

»Er lässt uns wissen, dass er in Bewegung ist«, teilte sie mit, nachdem Dugan die Flurbeleuchtung erwähnt hatte. »Klingt, als ob er sich in der Nähe der Hintertür aufhält. Um sicherzugehen, werde ich um die Ecke herum an den Eingang der Sackgasse fahren.«

Die Russen nickten und sie startete den Lieferwagen. Währenddessen hörten sie, wie Dugan zur Sache kam und dem Mädchen das Geld anbot

»Etwas ungeschickt«, murmelte Anna beim Einfädeln in den Verkehr. »Er hätte das Thema diplomatischer angehen können.«

Gerade als sie in einen neuen Parkplatz einfuhr, kam das laute Geräusch einer sich öffnenden Tür zu ihnen durch, gefolgt von Dugans seltsamem Austausch mit einem männlichen Russen.

»Stoli? … Verflucht! Er steckt in Schwierigkeiten«, rief sie aus. Mit quietschenden Reifen ließ sie den Straßenrand hinter sich und schoss die dreißig Meter zum Eingang der Sackgasse vor. Sie bremste hart, schlug das Lenkrad ein und raste nun mit Vollgas im Rückwärtsgang in die enge Gasse hinein. Mit kreischenden Bremsen kam sie in der Nähe des Hinterausgangs des Klubs zum Stehen. Zu dritt stürzten sie aus dem Lieferwagen. Ilya erreichte als Erstes die Tür und zog an dem Griff.

»Abgeschlossen«, rief er.

»Vorsicht.« Anna zog ihre Glock aus dem Gürtelhalfter und feuerte mehrere Runden um das Schloss der Metalltür herum.

Ilya sprang vor und riss mit beiden Händen am Griff. Nach einem Moment des Widerstands öffnete sich die Tür mit einem metallischen Kreischen, unmittelbar gefolgt von dem ohrenbetäubenden Lärm des ausgelösten Alarms.

Anna wollte gerade in den Klub vorpreschen, als Borgdanov sie am Arm zurückhielt. »Wir Dyed herausholen werden. Besser, du hast Wagen bereit, damit wir sofort, ohne Zeitverschwendung, verschwinden können.«

Sie wollte protestieren, überlegte es sich dann aber anders und nickte. »Hier. Nimm das.« Sie reichte Borgdanov ihre Glock, bevor sie zum Fahrersitz zurückeilte.

Borgdanov und Ilya drängten nach drinnen. Nur wenige Schritte den dunklen Flur hinunter fanden sie die offene Schlafzimmertür, wo sich ein riesiger Mann mit hoch erhobener Faust über Dugan bückte, bereit, ihm einen vernichtenden Schlag zu versetzen.

»Stopp!«, schrie Borgdanov auf Russisch. Der Kopf des schweren Russen fuhr herum – gerade rechtzeitig, um einen gewaltigen Tritt von Ilya zu empfangen, der ihn über Dugan hinweg auf der anderen Seite des Zimmers zu Boden sacken ließ. Sofort stand Ilya neben dem Mann und verpasste dessen Gesicht zwei weitere gewaltige Hiebe.

»Genug, Ilya!«, rief Borgdanov auf Russisch. »Er ist erledigt. Hilf mir, Dyed aufzuheben.«

Ilya drehte sich um und sah, wie Borgdanov sich die Glock in den Gürtel steckte und nach unten griff, um Dugan hoch zu helfen. Der schob Borgdanovs Hand zur Seite und richtete sich unsicher selbst auf.

»Ich bin in Ordnung. Er hat mir nur den Wind aus den Segeln genommen.«

»Wir müssen verschwinden!«, mahnte Borgdanov.

»Wartet!« Dugan sah zu Tanya hinüber, die weiter in der Ecke kauerte. »Sie hat Karina auf dem Bild erkannt. Sie weiß etwas. Wir müssen sie befragen.«

Borgdanov trat an die Tür und sah den langen Gang hinunter. »Keine Zeit, Dyed. Wir bald werden Gesellschaft haben, ich denke.«

Dugan sah von Borgdanov zu dem Mädchen hinüber und wieder zu ihm zurück. Dann zeigte er von Ilya auf Tanya.

»Nimm sie mit! Und dann lasst uns schleunigst verschwinden!« In aller Eile zog Ilya das Mädchen aus seiner Ecke und entfloh dicht hinter Dugan und Borgdanov dem Gebäude.

Sie hatten den Lieferwagen beinahe schon erreicht, bevor Tanya registrierte, was mit ihr geschah. Sie begann, sich in Ilyas Armen zu winden und stieß wilde russische Flüche beim Versuch aus, ihm zu entkommen. Ilya legte ihr die Hand auf den Mund, um sie zum Schweigen zu bringen. Dafür würde er mit einem Biss ihrer scharfen Zähne belohnt. Am Lieferwagen dirigierte Dugan die beiden Russen samt ihrer sich wehrenden Gefangen durch die Frachttür, warf die Tür hinter ihnen zu und sprang auf den Beifahrersitz.

»Los!«, kommandierte Dugan. Beim Umdrehen sah er, wie Borgdanov in Zusammenarbeit mit Ilya Mühe hatte, ein halbnacktes Mädchen unter Kontrolle zu bekommen, die wie eine Wildkatze kämpfte.

»Verdammter Mist!«, war alles, was Anna zu sagen hatte.

»Los!«, wiederholte Dugan. Das Kreischen der Reifen machte ihm deutlich, dass Anna das Gaspedal bis hinunter auf den Boden durchgedrückt hatte.

Die Kairouz-Residenz

London, England

Anna wanderte auf dem teuren orientalischen Teppich hin und her und murmelte aufgebracht vor sich hin. Gelegentlich warf sie dabei einen scharfen Blick auf Dugan und die beiden Russen, die auf dem Sofa saßen. Alex, der sie beobachtete, saß dem kleinlauten Trio gegenüber.

»Einfach unglaublich«, sprudelte es endlich aus Anna heraus. Ihr Zorn war gegen Dugan gerichtet. »Dieses Mal hast du dich wirklich selbst übertroffen, Tom. Wie konntest du nur?«

»In dieser Situation schien es die richtige Entscheidung zu sein. Außerdem haben wir sie gerettet.«

»Wenn ich dich korrigieren darf. Man spricht von ‚Rettung‘, wenn die Person freiwillig mitkommt. Sobald du sie gegen ihren Willen mitnimmst, nennt man das Entführung. Ist dir der Unterschied klar?«

»Sie wird uns dankbar sein, sobald sie versteht«, konterte Dugan.

»Und wie gut hat das bisher funktioniert?«

»Anna, ich weiß, du bist aufgebracht«, mischte sich Alex ein. »Und zweifellos war Thomas’ Aktion unüberlegt, aber was geschehen ist, ist geschehen. Und wenn jemand Zugang zu dem Mädchen finden kann, dann ist es Gillian.«

»Und wie sieht der Plan aus, falls Gillian sie nicht erreichen kann? Schleppen wir sie in den Keller und foltern sie solange, bis sie uns sagt, was wir wissen wollen?«

»Bitte, Anna. Nicht böse auf Dyed sein«, bat Ilya. »Ist mein Fehler. Ihr versucht zu helfen, daher ist Problem meine Verantwortung. Und ich nahm Mädchen, nicht Dyed

»Nachdem er es dir aufgetragen hat«, wehrte Anna ab.

»Du hast Recht«, stimmte Dugan ihr zu. »Ich habe nicht richtig überlegt. Aber wie Alex schon sagte, was geschehen ist, ist geschehen. Hoffen wir, dass Gillian Kontakt zu ihr aufbauen kann. Andernfalls wird sie wohl keinem von uns je vertrauen.«

* * *

Gillian saß Tanya gegenüber am Küchentisch. Das Mädchen trug immer noch ihren winzigen schwarzen Bikini, der jetzt aber von einem alten Bademantel bedeckt war, den Gillian in Cassies Schrank gefunden hatte. Obwohl Tanya zitterte, war sie nicht länger am Weinen. Das Augen-Makeup rannte ihr in dunklen Streifen die Wangen hinunter. Still starrte sie auf ihre Hände, die gefaltet vor ihr auf dem Tisch lagen. Seit Gillian vor dreißig Minuten die anderen aus dem Raum gescheucht und sich zu dem Mädchen gesetzt hatte, hatte sie keinen Laut von sich gegeben.

»Möchtest du etwas essen, meine Liebe, oder vielleicht eine schöne Tasse Tee trinken?«, bot Gillian ihr an.

Mit gesenkten Augen schüttelte Tanya den Kopf.

Gillian ließ die Stille noch einige Minuten länger im Raum stehen. Dann griff sie über den Tisch fest nach den Händen des Mädchens, das versuchte, sie ihr zu entziehen.

»Ich weiß, was du durchmachst«, sagte Gillian leise.

Tanyas Kopf flog nach oben. Ihre Augen spien Feuer. »Du weißt nichts. Du bist feine Dame in großem Haus, sicher mit vielen Dienern. Du gehst, wohin du willst und tust, was du willst. Du denkst, Welt ist sicher und wunderbarer Ort und Schlechtes passiert nur im Fernsehen. Du denkst, alles kann mit ‚netter Tasse Tee‘ repariert werden, da? Du nichts weißt von MEINEM Leben, feine englische Dame, also bitte, du mir nicht sagst, du weißt ALLES.«

Wieder versuchte sie Gillian ihre Hände zu entziehen, die sie jedoch sanft, aber bestimmt, weiter festhielt. Endlich gab Tanya auf und starrte erneut regungslos auf den Tisch. Gillian verlor eine ganze Weile lang kein Wort. Dann begann sie mit einer leisen, sanften Stimme zu sprechen, die mit der brutalen Geschichte, die sie von sich gab, absolut nicht in Einklang stand.

»Meine Mutter war drogenabhängig und eine Straßenprostituierte. Mein Vater war ihr Zuhälter. Sie brachte mich in einem Armenkrankenhaus zur Welt, nachdem mein ‚Papa‘ durch eine brutale Tracht Prügel versucht hatte, eine Spätabtreibung einzuleiten.« Gillian hielt inne. »Aber ich habe überlebt. Man könnte also behaupten, dass ich von Anfang an hart im Nehmen war.«

Schockiert hob Tanya den Kopf.

»Ich habe meine Mutter nie kennengelernt«, fuhr Gillian fort. »Kurz danach starb sie an einer Überdosis Drogen. Ich nehme an, ich war mit der Geburt drogenabhängig. Da aber niemand Drogen auf einen Säugling verschwenden wollte, habe ich glücklicherweise keine Erinnerung an meinen ersten Entzug. Ich wurde zwischen den Mädchen meines Vaters herumgereicht, aber von dieser Zeit sind mir nur wenige Erinnerungen geblieben.« Gillian erschauderte und schien sich stählen zu müssen, bevor sie weitersprach.

»Aber an meinen achten Geburtstag kann ich mich erinnern. Mein Vater sagte mir, dass wir eine Party mit einem neuen Freund feiern würden. Er zog mich aus und band mich auf einer schmutzigen Matratze fest. Danach verkaufte er meine Unschuld an einen fetten alten Mann mit faulen Zähnen und stinkendem Atem.« Wieder hielt sie inne, um sich zu sammeln. »Später prahlte er damit, dass er 500 Pfund an dieser Transaktion verdient hätte und kaufte mir zur Belohnung eine Packung Geleebohnen. Ich hasse diese Dinger bis zum heutigen Tag.

»Danach wurde es noch schlimmer, so schwer man sich das auch vorstellen kann. Es gab viele Pädophile, und mein lieber Vater verdiente gutes Geld. Als ich dafür endlich zu alt wurde, schickte er mich auf die Straße. Zu diesem Zeitpunkt war ich, wie alle anderen Mädchen auch, bereits von Drogen abhängig – um den schrecklichen Realitäten unseres Lebens zu entfliehen. Als die Drogen und das Leben, das ich führte, mich so zerstört hatten, dass ich selbst als Hure nichts mehr einbrachte, schickte er mich auf die Straße, um Drogen zu verkaufen. Irgendwann wurde ich dann verhaftet. Er besuchte mich im Gefängnis - um mich zu warnen, den Mund zu halten und ohne sich die Mühe zu machen, Kaution zu stellen. Ich wurde zu fünf Jahren verurteilt.«

»Sie waren im Gefängnis?«

Gillian nickte. »Das Beste, was mir passieren konnte. Ich kam von den Drogen weg, war zum ersten Mal in meinem Leben gesund und erhielt eine Ausbildung. Angst hatte ich nur vor meiner Entlassung. Aber ich fand einen Job als Bedienung und alles sah gut aus. Bis er eines Tages wieder vor der Tür stand.«

»Ihr Vater? Was haben Sie getan?«

Einen Moment lang senkte Gillian den Kopf, um ihre Fassung zu bewahren. Als sie Tanya wieder ansah, war jede Sanftheit aus ihrem Gesicht verschwunden und ihre Augen waren voller Stahl.

»Ich begrub ein Küchenmesser im schwarzen Herzen dieses Schweins.«

»Ab… aber mussten Sie nicht wieder ins Gefängnis zurück?«

Gillian lächelte sie an und ihre sanfte Stimme kehrte zurück. »Das ist eine lange Geschichte. Vielleicht ein anderes Mal. Aber erst muss ich wissen, ob du mir glaubst?«

Tanya dachte einen Augenblick nach und nickte dann bedächtig. »Da

»Gut. Dann solltest du wissen, dass ein Großteil der Leute, die mir zu diesem neuen und wundervollen Leben verholfen haben, im Raum nebenan sitzt. Ich vertraue ihnen mit meinem Leben, so wie du es tun kannst. Und wenn du uns vertraust, wird es uns vielleicht möglich sein, dir dein eigenes Leben zurückzugeben.«

Gillian konnte Tanyas emotionalen Aufruhr deutlich nachvollziehen, als Angst und Ungläubigkeit die Gesichtszüge des Mädchens verzerrten – gefolgt von einem Funken der Hoffnung vielleicht? Sie sah, wie die Hoffnung schließlich siegte und Tanyas Kinn zu zittern begann. Neue Tränen liefen ihr über das mit Makeup verschmierte Gesicht. Gillian stand auf, umrundete den Tisch und zog Tanya hoch, um sie fest in die Arme zu schließen. Der Körper des Mädchens wurde von stillem, verzweifeltem Schluchzen geschüttelt. Krampfhaft klammerte sie sich an Gillian fest, während die ältere Frau sie tröstete und ihr zuflüsterte, dass ihr Albtraum bald ein Ende haben würde.