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Abteilung Maritime Gefahrenlage

CIA Hauptquartier

Langley, Virginia, USA

JESSE WARD BEUGTE SICH ÜBER SEINEN SCHREIBTISCH. Ein blaues Sportjackett hing über dem Rücken seines Stuhls, die gelockerte Krawatte stand sechs Zentimeter unterhalb des offenen Kragens seines zerknitterten weißen Hemds auf Halbmast. Er hatte die Ärmel hochgerollt, die die ausgeprägten Muskeln unter der dunklen Haut seines Unterarms sichtbar werden ließen. Aber auch dort konnte er den seinem Alter entsprechenden Abbau erkennen, der wohl unvermeidlich war. Er seufzte. Beschleunigt wurde dieser Vorgang leider noch durch die Tatsache, dass er den Job als Abteilungsleiter akzeptiert hatte und draußen nur noch wenig zum Einsatz kam. Er würde Zeit finden müssen, ein Fitnessstudio aufzusuchen, bevor er sich komplett in einen Wackelpudding verwandelte.

Jesse verbannte die Gedanken an die näherkommende Altersschwäche und richtete seine Aufmerksamkeit auf den Bildschirm. Diese kleinen ‚inoffiziellen Gefallen‘ für Dugan und die Briten stellten immer eine Herausforderung dar. Er starrte weiter auf den Monitor und überlegte, wie weit er die Sache vorantreiben konnte, ohne selbst den Hals in die Schlinge zu legen. Dugan Beteiligung an einem Fall bedeutete meist, sich weit aus dem Fenster lehnen zu müssen.

Das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte. Beim Blick auf die Anrufererkennung dachte er: Wenn man vom Teufel spricht …

»Ich hoffe, du rufst nicht an, um mich um einen weiteren Gefallen zu bitten. Ich arbeite immer noch am ersten.«

»Auch dir einen Guten Tag, Jesse«, erwiderte Dugan. »Sind wir in schlechter Stimmung?«

»Von UNS kann ich das nicht sagen, aber ich hatte schon bessere Tage. Hast du eine Idee, wie schwierig es ist, Regierungsressourcen ausfindig zu machen, die ein ausländisches Schiff in internationalen Gewässern stoppen, ohne dass US-Interessen auf dem Spiel stehen? Noch dazu, da ich absolut keinen offiziellen Anlass habe, dies anzuordnen?«

»Leicht ist das sicher nicht. Wie kommst du voran?«

»Ich versuche mir immer noch eine plausible Erklärung auszudenken. Zuerst dachte ich, ich könnte behaupten, Informationen über eine große Drogenlieferung zu haben. Aber ich bin sicher, alle werden das Schiff erst anlegen sehen wollen. Dann dachte ich, ich könnte sagen, ich hätte einen Hinweis erhalten, dass das Schiff eine Massenvernichtungswaffe an Bord hat. Damit wäre das Eingreifen auf See die sicherste Lösung. Wenn ich das tue, werden wir eine Menge Aufmerksamkeit erregen, die wir eigentlich vermeiden wollen. Und du bist dir sicher, dass wir sie auf offener See abfangen müssen?«

»Unbedingt, Jesse. Wir wissen nicht, in welchem Zustand die Mädchen sich befinden. Ich will so schnell wie möglich an sie heran. Leider waren sie für uns hier schon außer Reichweite eines Hubschraubers, sonst wären wir von England aus aktiv geworden. Selbst wenn ein Hubschrauber uns nur einen Tag gewinnt, ist es die Sache wert.«

Ward seufzte. »Ok, ich verstehe. Mir wird schon etwas einfallen. Gibt es sonst noch etwas?«

»Wenn du schon fragst …«

»Mist. Wann werde ich endlich lernen, die Klappe zu halten.«

»Du musst einige Leute für mich in die USA bekommen.«

»Welche Leute?«

»Borgdanov und Denosovitch und die Leute, die sie in Russland rekrutieren werden.«

»Wie viele?«

»Vielleicht ein Dutzend. Vielleicht fünfzehn.«

»Einfach so, was?«, spottete Ward. »Ich schnippe mit dem Finger und produziere fünfzehn Visa?«

»Nein, ich denke sie werden Aufenthaltsgenehmigungen brauchen.«

»Ach ja? Ist das alles, Mr Dugan? Wird sofort erledigt. Darf es sonst noch etwas sein? Unsere Agentur ist bemüht, Ihnen alle Wünsche von den Augen abzulesen.«

»Ähm … ja, nun ja … sie werden ihre Familien mitbringen und wohl auch neue Identitäten brauchen.«

»Himmel noch mal, Tom! Wenn ich dich recht verstehe, soll ich einer großen – bislang unbekannten – Anzahl von Ausländern permanente Aufenthaltsgenehmigungen besorgen, ohne den geringsten Bezug zur nationalen Sicherheit nachweisen zu können. Danach erwartest du von mir, dass ich sie in einem Zeugenschutzprogramm …«

»Davon war keine Rede. Sie werden sich um ihren eigenen Schutz kümmern. Allein die neuen Identitäten sind notwendig, um ihre Spuren zu verwischen.«

»Du treibst es wirklich bis zum Äußersten, mein Freund. Vielleicht fängst du besser am Anfang an. Wenn ich diese Sache schon jemandem verkaufen soll, muss ich einen Weg finden, sie - wie entfernt auch immer - mit einem nationalen Sicherheitsanliegen zu verknüpfen.«

Dugan seufzte und erläuterte Ward Borgdanovs Idee. Fünf Minuten später wartete er still auf dessen Erwiderung.

»Warum wollen sie hierherkommen? Warum nicht näher daheim unterkommen, irgendwo in Osteuropa, wo sie sich unauffälliger unter die Bevölkerung mischen können?«

»Weil es zu viele Personen sein werden, um unauffällig unterzutauchen«, gab Dugan zu Bedenken. »Außerdem werden alle russischen Mafiosi, die in Europa nach ihnen suchen werden, ins Bild passen und damit eine Gefahr für sie darstellen. Sobald eine solch große Gruppe in einer ländlichen Gegend der USA auftaucht, fällt sie zweifelsohne auf, aber es sollte möglich sein, eine halbwegs plausible Geschichte zu erfinden. Andererseits wird dort auch jeder Fremde, der nach ihnen sucht, ebenfalls auffallen - eine Art Frühwarnsystem. Zudem können sie sich in einer ländlichen Gegend Waffen zulegen, ohne sich Gedanken um die Verletzung des Waffenrechts machen zu müssen.«

»Und wer wird die Kosten für all das übernehmen?«

»Alex und ich tragen dazu bei. Außerdem habe ich Ray Hanley in Houston angerufen. Er ist Borgdanov und Denosovitch noch etwas schuldig. Sie halfen ihm, seine Mannschaft von den somalischen Piraten zurückzubekommen. Zuerst hat er ein wenig gemurrt, erklärte sich dann aber einverstanden, sich zu beteiligen. Es wird den amerikanischen Steuerzahler keinen Cent kosten.«

Ward stöhnte. »Also gut. Ich habe immer noch Zugriff auf einige der für verdeckte Operationen bereitgestellten Mittel. Die Aufenthaltsgenehmigungen und neuen Identitäten sollten in Ordnung gehen. Aber das kann kein reiner ‚Gefallen‘ sein – nicht etwas so Weitreichendes. Ich habe schließlich auch Vorgesetzte, denen ich gute Gründe präsentieren muss. Du stellst besser sicher, dass den Russen klar ist, was wir im Gegenzug von ihnen erwarten.«

»Lass hören.«

Dugan und Annas Wohnung

London, England

»Ich alles tun werde, was Ward von mir erwartet, es sei denn, es gegen Russland gerichtet wäre«, erklärte Borgdanov. »Russland unser Rodina ist, unser Heimatland, egal welche Schweine gerade an Macht sind. Ich es nie verraten werde.«

Ilya neben ihm nickte bestätigend. Dugan schwieg.

»Ich denke, dass ist es, was Ward Sorgen macht«, sagte er schließlich. »Er hat darauf bestanden, dass ich diesen Punkt besonders betone. Wenn er euch neue Identitäten und Aufenthaltsgenehmigungen besorgt, erwartet er im Gegenzug absolute Loyalität. Es steht in seiner Macht, euch alle schnellstens zu Staatsbürgern zu machen. Dafür erwartet er, dass ihr euch alle total und bedingungslos den USA verpflichtet. Er wird euch - und wen immer ihr auch rekrutiert - als private Auftragnehmer für künftige CIA-Operationen engagieren und euch gut dafür bezahlen. Er wird sich dafür einsetzen, dass ihr niemals gezwungen sein werdet, gegen Russland vorzugehen. Aber wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen. Falls es zwischen Russland und den USA Differenzen geben sollte, kann Russisch als Muttersprache von Vorteil ist. Gut möglich, dass ihr dann aufgefordert werdet, gegen russische Interessen zu handeln. Das Leben ist nun einmal so. Wenn ihr euch dazu nicht bereit erklären könnt, solltet ihr den Handel ablehnen, und wir finden eine andere Lösung.«

»Gibt KEINE andere Lösung, Dyed. Wir keine Beziehungen haben, und in Russland wir nicht sicher sind, selbst jetzt nicht.«

»Ich will kein Verräter von Rodina sein«, konterte Ilya missmutig. »Dinge dort jetzt nicht so gut, aber ist mein Zuhause.«

»Das kann ich verstehen«, nickte Dugan. »Aber ihr müsst euch entscheiden und sicher gehen, dass all eure Rekruten diese Verpflichtung ebenfalls verstehen. Ich weiß, es ist eine harte Entscheidung, aber beantwortet mir diese Frage: Seht ihr ein mögliches Szenario, in dem sich die gegenwärtige Situation in Russland in nächster Zeit verbessern wird?«

Die Russen antworteten nicht und Dugan erhob sich von der Couch.

»Ich werde im Krankenhaus ein letztes Mal nach Anna sehen, bevor wir abreisen. Denkt darüber nach. Tut mir leid, euch unter Zeitdruck zu setzen, aber unser Flug in die USA geht in zwei Stunden. Und falls Ilya mit uns kommt und du nach Russland zurückkehrst, müsst ihr vor der Abreise eine Entscheidung getroffen haben, damit Ward alles in die Wege leiten kann.«

Borgdanov nickte ohne hochzusehen und starrte weiter vor sich auf den Tisch. Dugan legte kurz eine Hand auf die Schulter des Mannes und ging dann zur Tür. »Ich bin in einer Stunde zurück.«

* * *

Borgdanov sah auf, als Dugan eine Stunde später das Apartment wieder betrat. Die Russen saßen sich gegenüber. Zwischen ihnen auf dem Wohnzimmertisch standen zwei Schnapsgläser und eine fast leere Flasche Wodka.

»Wir dachten, du nichts dagegen hast, Dyed, dass wir deinen Wodka trinken.«

»Kein Problem«, bekräftigte Dugan und setzte sich neben Borgdanov. »Habt … habt ihr eine Entscheidung getroffen?«

»Wir haben.« Borgdanov schob Dugan sein leeres Schnapsglas zu und füllte es bis zum Rand, bevor er das Gleiche mit Ilyas tat. »Aber zuerst einen Trinkspruch.«

Ilya hob sein Glas an. Borgdanov deutete Dugan an, seinem Beispiel zu folgen. Er selbst nahm die Flasche in die Hand.

»Auf Mütterchen Russland, unser Rodina«, rief Borgdanov aus. Ilya führte das Glas an die Lippen und kippte den Schnaps hinunter, während Borgdanov einen kräftigen Schluck aus der Flasche nahm. Dugan fürchtete das Schlimmste, folgte aber höflich ihrem Beispiel. Der Wodka brannte ihm in der Kehle.

Kein gutes Zeichen, dachte er und wartete auf die schlechte Nachricht, während er vorsichtig sein Glas abstellte. Borgdanov schenkte ihnen ein zweites Mal ein.

»Ein letzter Toast.« Er sah Dugan an. »Du erinnerst dich, Dyed, als Ilya und ich dich zu Ehrenrussen machten. Jetzt wir werden wohl echte Landsleute werden.« Er hob die Flasche an und Ilya sein Glas.

»Auf die USA, unser neues Rodina, und auf ein sicheres und besseres Leben für unsere Familien!«

St. Petersburg

Russische Föderation

In Gedanken studierte Arsov seine Geschichte weiter ein, während er sich bemühte, seine Unsicherheit in dem gut eingerichteten Wartezimmer zu verbergen. Dieser Versuch wurde ihm erheblich durch die Anwesenheit von zwei muskelbepackten Schlägertypen erschwert, die die kunstvoll verzierten Doppeltüren zum inneren Bürobereich flankierten. Das Paar strahlte Gewalt aus. In ihren schlecht sitzenden Anzügen, die sich eng über ihre durch Steroide aufgeblähte Muskulatur streckten, beäugten sie ihn mit offensichtlichem Interesse, als ob sie den Eindruck hatten, dass er in Kürze das Subjekt einer unterhaltsamen Ablenkung sein könnte. Arsov gab vor, sie zu ignorieren. Lässig blätterte er eine Zeitschrift durch, die er neben sich auf dem Tisch gefunden hatte.

Sein bisheriger Empfang war mehr als kühl ausgefallen. London war für die Bratstvo ein bedeutender und stetig wachsender Markt. Und weit wichtiger - er galt als Trainingszentrum für die Huren, die für die geplante Expansion auf den US-amerikanischen Markt abgerichtet wurden. Der fast komplette Zusammenbruch der englischen Operation wurde hier in Sankt Petersburg nicht gefeiert. Seine Vorgesetzten waren seiner Version der Geschehnisse mit offener Skepsis begegnet. Mit dem Tod seiner Handlanger und mit Nazarovs glücklichem Verschwinden konnte jedoch niemand seine Geschichte widerlegen. Und wie alle guten Märchen enthielt Arsovs Geschichte auch einige wahre Elemente. Die Polizei konnte vom Warenhaus nur durch Nazarov erfahren haben. Das schien offensichtlich und untermauerte Arsovs Behauptungen. Nazarovs vermeintlicher Verrat war der Hauptgrund, dass Arsov nicht umgehend hingerichtet worden war. Das - zusammen mit seiner freiwilligen Rückkehr nach Russland - hatte ihm einen Aufschub eingebracht. Sein Fall war über die Vorgesetztenkette weitergereicht worden. Bis ganz nach oben.

Unbewusst versteifte Arsov sich, als einer der Türsteher die Hand an seinen Ohrhörer legte, um Anweisungen entgegenzunehmen.

»Da«, sagte der Schlägertyp. Er griff hinter sich, um eine Seite der Doppeltür zu öffnen und zeigte dann auf Arsov. »Du«, forderte er ihn auf. »Da rein.«

Arsov ignorierte die Unhöflichkeit des Mannes und ließ das Magazin auf den Beistelltisch fallen. Mit vorgetäuschter Selbstsicherheit erhob er sich und schlenderte auf die Tür zu. Unbeeindruckt grinsten die Wächter ihn an, als er an ihnen vorbei das Innere des Büros betrat. Arsov hielt inne, um seinen Augen Gelegenheit zu geben, sich auf den im Dunkeln liegenden Raum einzustellen. Als er das leise Klicken der sich hinter ihm schließenden Tür vernahm, übermannte ihn ein momentanes Angstgefühl

»Haben Sie vor, den Tag wie eine Statue zu verbringen, Arsov?«, fragte eine körperlose Stimme vom entfernten Ende des luxuriösen Büros her. Arsov bewegte sich auf die einzige Lichtquelle des Raumes zu.

Der Mann saß hinter einem prächtig geschnitzten Eichenholzschreibtisch, der von einer einzelnen Schreibtischlampe beleuchtet wurde. Das Licht fiel vor ihm auf den Schreibtisch. Der Mann selbst saß im Schatten, eine schwache Silhouette am Rande des Lichts. Er war nur als Glavnyy – der Chef – bekannt. Und nur Wenige, außer einem kleinen Kreis von Vertrauten, hatten je sein Gesicht gesehen – neben denen, die nicht lange genug lebten, um von Bedeutung zu sein. Selbst in Umständen wie diesen war er dafür bekannt, seine Stimme oder sein Auftreten leicht zu verändern – mehr, um die nötige Eliminierung des Gesprächspartners zu vermeiden, als aus Furcht um seine eigene Sicherheit. Arsov hielt seine Augen auf den Schreibtisch gerichtet. Er fühlte sich ermutigt. Falls der Chef vorgehabt hätte, ihn zu töten, wäre er ihm offen gegenübergetreten.

Die rechte Hand des Chefs griff nach einem Glas Tee, das auf dem Schreibtisch stand, und zog es zu sich in den Schatten hinüber. Arsov hörte ein schlürfendes Geräusch. Plötzlich fühlte sich seine eigene Kehle sehr trocken an. Dann erschien die Hand wieder unter dem Licht und stellte das leere Glas ab. Arsov stand unbeweglich da und wartete darauf, dass der Chef die Diskussion eröffnen würde. Sekunden verwandelten sich in Minuten, die ihm wie Stunden vorkamen. Arsov fühlte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat.

Dann schlug der Chef mit der offenen Hand so hart auf den Schreibtisch auf, dass er das leere Glas umwarf. Eingeschüchtert fuhr Arsov durch das laute Geräusch zusammen.

»Berichten Sie mir, was in London vorgefallen ist, und ersparen Sie mir Ihre lächerliche Märchengeschichte«, fuhr ihn der Chef an.

»Ich … ich habe Nazarov bei der Unterschlagung erwischt und …«

»Hirnverbrannt! Warum hören wir davon jetzt zum ersten Mal?«

»Ich war mir nicht sicher. Ich wollte zuerst Beweismaterial sammeln, bevor ich ihn beschuldigte. Ab… Aber er muss herausgefunden haben, dass ich ihm auf der Spur war und entschied sich danach offensichtlich, Polizeiinformant zu werden.«

»Ich fasse zusammen. Nazarov bestiehlt uns und beschließt dann, Informant zu werden. Was bedeutet, dass wir kein Geld mehr machen und er nichts mehr abzweigen kann. Macht das Sinn, Arsov? Sie haben doch sicher Besseres zu bieten, oder?«

»Aber das habe ich doch bereits erklärt! Er muss bemerkt haben, dass ich ihm auf der Fährte war. Er wusste, dass das Geld nicht länger fließen würde. Deshalb hat er die Cops auf uns angesetzt. Ich denke, keiner von uns sollte überleben. Er hat die Cops dafür bezahlt, seinen Plan auszuführen. Ich denke, er wollte das Gebäude abfackeln, um eine Identifizierung der Leichen unmöglich zu machen. Danach wollte er mit dem Geld verschwinden. Und wenn ich nicht entkommen wäre, hätte die Sache geklappt. Außerdem habe ich einen Beweis. Die im Ausland eingerichteten Bankkonten …« .

»Ja, ja, die ausländischen Bankkonten. Wie schön, dass Sie sie entdeckt und uns freundlicherweise darüber informiert haben. Aber ich bin ein wenig verwirrt, Arsov. Erst sagen Sie mir, dass Sie uns nicht informiert haben, weil Sie noch auf Beweise warteten, und im nächsten Atemzug erzählen Sie mir, dass Sie die Beweise bereits HABEN. Ich bin sicher, Sie verstehen mein Problem, da

Arsov atmete tief durch und kämpfte darum, ruhig zu bleiben.

»Die Konten habe ich erst kurz bevor Nazarov uns verpfiffen hat entdeckt, Dann ist er verschwunden. Den Beweis HABE ich zwar gefunden, aber mir fehlte die Zeit, Sie darüber zu informieren, bevor Nazarov uns in die Falle gelockt hat. Nach meiner Flucht kam ich auf dem schnellsten Weg zurück.«

Arsov sah, wie der Kopf der Silhouette nickte. Er entspannte sich ein wenig. Vielleicht konnte er seine Geschichte am Ende doch verkaufen.

»Das klingt … möglich«, gab der Chef zu. »Aber es gibt immer noch zu viele ungeklärte Fragen. Zum Beispiel: Nazarov hielt sich über vier Jahre lang in London auf, vorwiegend als Stellvertreter. Die ausländischen Bankkonten, die Sie entdeckt haben wollen, wurden erst vor zwei Monaten eröffnet und ihre Einlagen sind relativ gering. Wenn unser Nazarov - wie Sie behaupten - Geld unterschlagen hat, ist er entweder ziemlich inkompetent oder sehr geduldig.«

»Es macht sehr wohl Sinn, wenn man überlegt, dass Nazarov vor genau zwei Monaten in London die Geschäfte übernommen hat - mit Tsarkos Rückkehr nach Sankt Petersburg.« Arsov war in seinem Element. »Ich war noch in Prag und bin erst später eingetroffen. Ich denke, Nazarov hat sich diese Gelegenheit zu Nutze gemacht, um seine Unterschlagungen einzufädeln, in der Annahme, er könne genug stehlen, um zu verschwinden, bevor das Problem offensichtlich werden würde. Ich habe ihn nur früher als erwartet erwischt. Das ist alles.«

Die Silhouette nickte erneut. Arsov entspannte sich weiter. Seine wachsende Hoffnung wurde allerdings sofort wieder zerstört.

»Das ist eine Erklärung«, sagte der Chef. »Nazarov ist nicht der Klügste. Andererseits denke ich, dass er seine eigenen Grenzen kennt. Deshalb werden Sie verstehen, dass ich Schwierigkeiten habe zu glauben, er soll die Yaytsa - die Eier – gehabt haben, die Bruderschaft zu bestehlen.«

Der Chef schwieg einen Moment. Obwohl Arsov sein Gesicht nicht sehen konnte, fühlte er, wie die Augen des Mannes Löcher in ihn bohrten. »Aber Sie, Arsov, Sie sind ziemlich clever. Leicht, sich eine Szene auszumalen, in der Sie selbst es für eine gute Idee hielten, ein wenig Geld der Bratstvo für sich persönlich auf die Seite zu legen. Mir ist nicht entgangen, dass die ausländischen Konten tatsächlich erst NACH Ihrer Ankunft in London eröffnet worden sind. Vielleicht waren SIE derjenige, der Geld zur Seite geschafft hat und dabei von unserem nun abwesenden Freund Nazarov erwischt wurde? Eine interessante Theorie, meinen Sie nicht?«

»Niemals! Ich versichere Ihnen, Sir, dass …«

»Beruhigen Sie sich, Arsov. Ihre Beteuerungen, egal wie passioniert, sind bedeutungslos, also langweilen Sie mich nicht. Freuen Sie sich, dass ich Ihnen, dank Nazarovs Verschwinden, Ihre Geschichte für den Moment abkaufe. Seien Sie sich aber bewusst, dass Ihre Loyalität von nun an in Frage steht. Aufgrund Ihrer bisherigen hervorragenden Leistungen werden Sie eine seltene zweite Chance bekommen. Aber enttäuschen Sie mich nie wieder. Haben Sie mich verstanden?«

»Absolut, Sir! Ich werde alles in meiner Macht … «

»Sparen Sie sich Ihre Versicherungen, Arsov. Allein Ihre Taten sind ein akzeptabler Beweis. Sie werden Leistung bringen oder einen langsamen, schmerzhaften Tod sterben. An dieser Tatsache wird keine noch so blumige Sprache etwas ändern. Und jetzt berichten Sie mir, wie es Ihnen gelungen ist, eine solch intensives Interesse der Polizei auf sich zu ziehen.«

»Ich … tut mir Leid, dass ich mich wiederholen muss, aber das war Nazarovs Tun.«

Der Chef seufzte. »Die Abwesenden sind immer die Schuldigen, so scheint es. Wie ist es dem passenderweise verschwundenen Mr Nazarov gelungen, die Polizei in diesem Umfang auf uns aufmerksam zu machen?«

»Wir hatten ein Mädchen aus Wolgograd namens Karina Bakhvalova. Obwohl sie bereits in Prag abgerichtet worden war, war sie ein echter Hitzkopf, der in London zusätzliche Arbeit nötig machte. Dann tauchten plötzlich zwei ehemalige Spetsnaz auf, die nach ihr suchten. Einer von ihnen war ihr Onkel. Offensichtlich hatten sie - was wir nicht ahnten konnten - einflussreiche Freunde in London. Die haben Tanya entführt …«

»Sagten Sie nicht, dass das Mädchen Karina hieß?«

»Richtig. Tanya ist ein anderes Mädchen, das sie im Klub zu befragen versuchten. Als Nazarov jemanden hinschickte, um das zu unterbinden, überrumpelten die Spetsnaz unseren Mann und schnappten sich Tanya. Als ich Nazarov und einige Männer damit beauftragte, Tanya zurückzubringen, hat er eigenständig entschieden, nicht nur Tanya sondern auch die Tochter des Haus mitzunehmen, in dem Tanya sich aufhielt. Wie sich herausstellte, war sie die Tochter eines sehr einflussreichen Briten, der über ausgezeichnete Beziehungen verfügt. Und damit war die Katastrophe passiert.«

»Wenn ich recht verstehe, ist es Ihnen und Nazarov mit einem einzigen unüberlegten Streich gelungen, uns ins Rampenlicht zu bringen. Nachdem wir dort jahrelang vollkommen unauffällig operiert haben.«

»Ich nicht. Nazarov.«

»Und für wen genau hat Nazarov gearbeitet?«

Arsov schwieg. Die Stille hielt so lange an, dass er bereits befürchtete, der Chef hätte seine Meinung bezüglich seiner zweiten Chance geändert.

»Wir werden in England monate-, wenn nicht jahrelang keinen Fuß mehr fassen«, murmelte der Chef, bevor er sich wieder an Arsov wandte. »Also schön. Was ist mit dieser Tanya oder Karina, wie immer sie auch heißt, und diesem britischen Mädchen passiert? Ich vertraue darauf, dass Sie sich auf eine Weise um sie gekümmert haben, die die Polizei nicht wieder magisch anziehen wird?«

Arsovs Gedanken überschlugen sich. Seit er diese Unruhestifterinnen in den Container befohlen hatte, hatte er nicht weiter an sie gedacht. Aber jetzt - vor dem Chef - war nicht der geeignete Zeitpunkt, unsicher und keiner Entscheidung fähig zu erscheinen.

»Ganz sicher. Tot und begraben, wo sie niemand finden wird.«

Die Silhouette nickte. »Gut, wenigstens dabei haben Sie keinen Mist gebaut.«

Arsov zögerte einen Moment und wagte dann, die Frage zu stellen, die er bisher zurückgehalten hatte.

»Was wird mein nächster Job sein?«

»Sie werden Ihre alte Position in Prag wieder einnehmen. Dort scheinen Sie zurechtzukommen. Aber bevor Sie gehen, müssen Sie mir noch einige Fragen beantworten. Ich will alles über die Hure wissen, mit der der Ärger begonnen hat, und über diese Spetsnaz-Idioten.«

»Das Mädchen war Karina Bakhvalova aus Wolgograd. Einer der Spetsnaz war ihr Onkel, Ilya Denosovitch. Ein ehemaliger Sergeant, in welcher Einheit kann ich nicht sagen. Der Zweite war sein kommandierender Offizier, ein Mann namens Borgdanov, Vorname unbekannt. Aber ich bin mir sicher, er wird nicht schwer zu finden sein.«

»Und die Briten?«

»Einer von ihnen war Amerikaner. Thomas Dugan. Er ist der Geschäftspartner eines Briten namens Alex Kairouz. Es war Kairouz’ Tochter, die von Nazarov entführt wurde.«

»War sonst noch jemand beteiligt?«

Arsov zögerte und überlegte kurz, ob er dem Chef von der toten MI5-Tante erzählen sollte, war sich aber relativ sicher, dass ihm das das Kreuz brechen würde. Es sah aus, als ob er dieses Interview lebend überstehen würde, und er hatte nicht vor, daran etwas zu ändern. Außerdem war er der Einzige, der wusste, dass sie MI5 war. Falls sich diese Tatsache später ergeben sollte, konnte er immer noch vorgeben, das nicht gewusst zu haben.

»Nein. Das sind alle. Werden wir zurückschlagen?«

»Selbstverständlich werden wir zurückschlagen. Wir können schließlich niemanden glauben lassen, dass sie sich ungestraft mit der Bratstvo anlegen dürfen. Wir müssen überlegen, wie wir eine klare Aussage machen, ohne die Lage zu verschlimmern. Es wird uns schwer genug fallen, erneut in England Fuß zu fassen.«

»Ich möchte an dem Gegenschlag teilnehmen«, bat Arsov - seine erste wahre Aussage, seit er durch die Tür getreten war.

»Ah, Sie haben bereits genug getan, Arsov. Verschwinden Sie von hier und finden Sie schleunigst einen Flug nach Prag. Und denken Sie daran. Wir werden ein Auge auf Sie haben.«

Arsov nickte und eilte auf die Tür zu, bevor der Chef seine Meinung ändern konnte. Mit dem Öffnen der Tür drehten sich die Wachposten mit grimmigem Gesicht zu ihm um und blockierten seinen Rückzug.

»Lasst ihn gehen«, kommandierte die Stimme des Chefs aus dem Dunkeln heraus. Offensichtlich enttäuscht traten die beiden Männer zur Seite. Arsov grinste sie an. Wer lachte nun?

Seine Euphorie verflüchtigte sich allerdings schnell wieder, als seine Gedanken im Aufzug zu den lästigen Huren zurückkehrten, die sich auf dem Weg in die USA befanden. Hatte Nazarov den Abholern in den USA den Namen der Mädchen verraten? Wohl eher nicht. Die Empfänger hatten sicher keine Ahnung, wer die Mädchen waren. Einfach die nächste Ladung frischer Huren, das war alles. Die unorthodoxe Art der Lieferung würde vielleicht vor Ort etwas Neugier erregen, ansonsten war sein Geheimnis höchstwahrscheinlich sicher. War es das tatsächlich? Die Mädchen waren nicht dumm. Falls eine von ihnen entkommen sollte, könnte dem Chef zu Ohren kommen, dass Arsov ihm nicht die ganze Wahrheit gebeichtet hatte. Zudem konnten die beiden russischen Mädchen ihn identifizieren – ein unakzeptables Risiko. Nein, er musste sicherstellen, dass diese Lieferung niemals ankam!

* * *

Vladimir Glazkov, der Vorsitzende des Bezirksdirektorats Sankt Petersburg / Leningrad des Inlandsgeheimdienstes der Russischen Föderation, auch ‚der Chef‘ genannt, sah hinter Arsov her, als der Trottel aus dem Zimmer floh. Diesen Idioten persönlich zu treffen war vielleicht nicht die beste Idee gewesen, war aber nötig, um ein besseres Verständnis des Londoner Debakels zu gewinnen. Nicht alles konnte über Lakaien oder über Video abgewickelt werden. Manchmal musste man sich im gleichen Raum mit einem Mann aufhalten, um seine Anspannung zu spüren und seine Furcht zu riechen. Außerdem hatte er seine doppelte Identität als der oberste Polizeichef von Sankt Petersburg und als Kopf der Bratstvo so lange nebeneinander gelebt, dass sie ihm zur zweiten Natur geworden waren.

Und eines war ihm nun vollkommen klar – nichts von dem, was Arsov ihm erzählt hatte, entsprach der Wahrheit. Obwohl Nazarov zweifellos auf die eine oder andere Weise kompromittiert worden war, waren die Umstände seines Verrates mehr als fraglich. Arsov hatte die Hand im Spiel. Ohne Frage. Früher oder später musste er beseitigt werden. Bis dahin konnte die Bruderschaft dann genauso gut noch von seinem Talent, die Huren zu trainieren, Gebrauch machen. Ressourcen zu verschwenden war kein gutes Geschäftsgebaren, und Glazkov war unstreitig ein gerissener Geschäftsmann.

Was ihn wieder an das Londoner Desaster erinnerte. Dass es einen Rachefeldzug geben musste, verstand sich von selbst, allein der Umfang und die Ziele waren problematisch. Diese Spetsnaz-Hunde und ihre Familien würden sterben, das stand außer Frage. Darüberhinaus wurden die Dinge schwierig. Innerhalb der Grenzen Russlands und in vielen der ehemaligen sowjetischen Satellitenstaaten konnte die Bratstvo dank großzügiger ‚Geschenke‘ an politisch an sie gebundene ‚Freunde‘ ohne Furcht vor einer möglichen Verfolgung ungehindert operieren. Aber in den Ländern, in denen solche Gepflogenheiten nicht dem Alltag entsprachen, war Teil ihres Modells – welches er persönlich entwickelt hatte – im Verborgenen zu agieren. Das Geschäft mit dem Sex wurde von ‚Talenten‘ bestückt, die außerhalb des Landes, in dem sie ihre Dienste anboten, akquiriert wurden. Und Drogen wurden in erster Linie an die unteren Klassen der Gesellschaft verkauft. In beiden Fällen waren es ,Opfer‘, an denen die Durchschnittsbevölkerung keinerlei Interesse zeigte. Es war einfach unvorstellbar, wie es Arsov und Nazarov gelingen konnte, diese grundlegendste Regel ihrer Operation so eklatant zu verletzen.

Und nicht etwa, indem sie es mit einem Allerweltsbriten aufnahmen – oh nein – sie mussten die Tochter dieses Kairouz entführen, der offenbar nicht nur schwerreich war, sondern auch über politische Verbindungen verfügte. Diese unglaubliche Idiotie verursachte Glazkov Kopfschmerzen.

Zumindest stellte das Mädchen nicht länger ein Problem dar, und falls man Arsov Glauben schenken durfte – eine Aussage, die womöglich fragwürdig war – gab es nichts mehr, was die Behörden auf die Spur der Bratstvo lenken konnte. Nichts, außer unbestätigten Vermutungen. Die Sache hatte nur einen Haken. Falls das Milieu tatsächlich unterstellte, dass dieser Kairouz und sein amerikanischer Partner die Bratstvo in die Knie gezwungen hatte, würde ihre augenscheinliche Schwäche ihre Rivalen dazu ermutigen, sich das britische Geschäft unter den Nagel zu reißen. Aus dieser Sicht gesehen, war ein Schlag gegen Kairouz und Dugan absolut notwendig. Andererseits, falls sie zurückschlagen würden, würde das nicht ihr Profil bei den Behörden weiter erhöhen und die zukünftige Wiederaufnahme ihrer britischen Operationen zusätzlich erschweren? Glazkov verwünschte Arsov erneut, die Bruderschaft in eine solch prekäre Situation gebracht zu haben.

Zog man jedoch in Betracht, dass die Dinge in England eine ganze Weile brenzlig sein würden, gab es tatsächlich keine bessere Zeit, als die Familie dieses Kairouz und Dugan zu eliminieren – falls die Bruderschaft eine dementsprechende Entscheidung treffen sollte. Je schneller sich die Lage verschärfte, desto schneller würde sie sich wieder beruhigen. Er griff zum Hörer und wählte eine vorprogrammierte Nummer. Auf der anderen Seite der Stadt antwortete eine Stimme.

»Arkady«, befahl Glazkov, »besorgen Sie mir alles, was Sie über einen Alex Kairouz und einen Thomas Dugan, Partner in einer Londoner Schifffahrtsgesellschaft, finden können. Ich will alles über sie und ihre Familien wissen. Ist das klar?«

»Sicher, Boss. Es könnte etwas länger dauern, da sie außerhalb Russlands leben, aber bis heute Abend sollte ich Ihnen einen kompletten Bericht liefern können. Sonst noch etwas?«

»Ja. Ein ähnliches Profil für einen Ilya Denosovitch, ehemaliger Sergeant einer Spetsnaz-Einheit. Er stammt aus Wolgograd, soweit ich weiß. Und suchen Sie nach einem Borgdanov, Vorname und Geburtsort unbekannt. Ebenfalls ein ehemaliger Spetsnaz und Denosovitch’ kommandierender Offizier. Sie sollten ihn in den Unterlagen der gleichen Einheit finden. Sehr wahrscheinlich war er Stabsoffizier, ein Major oder ein Oberstleutnant.«

»Viel einfacher. Diese Information sollte ich innerhalb einer Stunde haben.«

* * *

Arkady Baikov, Leiter der Abteilung Datenanalyse des Inlandgeheimdienstes der Russischen Föderation, mit Verwaltungssitz in Sankt Petersburg für den Bereich Leningrad, sah auf den Namen auf seinem Notizblock hinunter. Borgdanov. Den Namen musste er nicht erst suchen. Er kannte ihn bereits. Andrei Nikolaevich Borgdanov, Major Andrei Nikolaevich Borgdanov.

»Was immer du tust, Dyusha«, sagte er leise, »du machst einen großen Fehler.«

Arkady seufzte und setzte sich vor seinen Computer.