24
Prag
Tschechische Republik
ARSOV THRONTE AN SEINEM ALTEN SCHREIBTISCH und sah sich um. Irgendwie war es gut, wieder in Prag zu sein, insbesondere, wenn man die Alternative bedachte. Beria war von seiner Rückkehr allerdings nicht übermäßig begeistert gewesen und hatte ihm nur ungern wieder sein Büro abgetreten. Arsov war es gelungen, seinen Untergebenen mit der Versicherung zu besänftigen, dass es sich nur um eine vorübergehende Situation handelte.
Damit dem auch so sein würde, musste Arsov sich um ungelöste Probleme kümmern. Er wählte die Satellitentelefonnummer der Kapitan Godina und hörte, wie sich die Geräusche und das Klicken in der Leitung in einen seltsamen Klingelton verwandelten.
»Kapitan Godina, Kapitän am Apparat«, meldete sich eine Stimme auf Englisch.
»Guten Abend, Captain«, erwiderte Arsov auf Russisch. »Sie kümmern sich gut um unsere Fracht, nicht wahr?«
Nach einer langen Pause erwiderte der Mann in ukrainisch-akzentuiertem Russisch. »Jawohl Sir, alles in Ordnung. Wir sollten entweder morgen Abend spät oder übermorgen früh in Jacksonville festmachen, je nach der Verfügbarkeit eines Lotsen.«
»Es gibt einen Planwechsel. Ich denke, dass sie unglücklicherweise von einem Storm überrascht werden, der den Container über Bord reißen wird.«
»Ab… aber, das ist unmöglich! Wir sind zu nahe am Hafen, bei gutem Wetter. Und in dieser Gegend halten sich eine Menge Schiffe auf, die sich alle der amerikanischen Küste nähern. Niemand wird uns glauben, dass wir schlechtem Wetter begegnet sind. Wenn sie die Ladung loswerden wollen, hätten sie mich mitten im Ozean davon unterrichten sollen, wo es weniger Verkehr gibt.«
»Ich sage es Ihnen jetzt und ich werde mich nicht wiederholen.«
»Wie soll ich das den Versicherungen und den Zollinspektoren erklären?«
»Ich bin sicher, Sie werden sich etwas einfallen lassen. Während sie darüber nachdenken, schlage ich vor, dass Sie sich das Bild Ihrer Frau und Ihrer hübschen Töchtern vor Augen führen. Ihre Frau ist zu alt, um von Nutzen zu sein. Von ihr müssen wir uns leider trennen. Ihre Töchter sind allerdings vielversprechend. Ich bin sicher, dass wir einen guten Platz für sie in unserer Organisation finden werden.«
»Nein. Nein. Ich kümmere mich darum. Keine Sorge.«
»Oh, daran habe ich keinen Augenblick gezweifelt, Captain«, betonte Arsov mit Spott in der Stimme. »Falls Sie Probleme mit einem Ihrer Offiziere bekommen sollten, erinnern Sie ihn bitte daran, dass all ihre Familien unter unserem Schutz stehen.«
»Wird … wird erledigt. Machen Sie sich keine Sorgen.«
»Besten Dank. Rufen Sie mich an, wenn die Sache erledigt ist. Und Captain, ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.«
Arsov beendete das Gespräch und lehnte sich mit hinter dem Kopf gefalteten Händen in seinem Stuhl zurück. Die Situation war wieder unter Kontrolle. Sobald der Kapitän ihn vom Tod der lästigen Huren unterrichtet hatte, gab es absolut nichts mehr, was ihn mit den unglücklichen Ereignissen in London in Verbindung bringen konnte. Er würde Karina und ihre kleinen Freundinnen vergessen und hier in Prag damit beginnen können, seinen Ruf innerhalb der Organisation wieder aufzubauen. Er bedauerte seine Fehler, aber man lernte immer mehr von seinen Fehlern als von seinen Erfolgen. War es nicht so? Das nächste Mal würde er vorsichtiger sein.
Kapitan Godina
Auf See, östlich von Jacksonville, Florida
»Haben Sie so etwas schon einmal gemacht?«, fragte der Kapitän den Chefingenieur.
»Nein, aber es sollte uns nicht schwerfallen, denke ich. Der Container steht an einer guten Stelle, und wir haben die Luftsäcke an Bord, die sie uns gegeben haben.« Er sah aus dem Bullauge des Kapitänsbüros hinaus. »Ich schlage vor, dass wir die Sache bei Tageslicht erledigen.«
»Das geht nicht. Mit jeder Stunde kommen wir der Küste und dem zunehmenden Verkehr näher. Wenn wir ihn mitten in der Nacht loswerden, wird uns niemand sehen.«
Der Chefingenieur schüttelte den Kopf. »Ganz im Gegenteil, alle werden es sehen. Wir können nicht im Dunkeln arbeiten, insbesondere nicht an etwas, was wir noch nie zuvor getan haben. Sie müssten die Deckbeleuchtung einschalten, was die Aufmerksamkeit eines Nachbarschiffs erregen könnte. Sie sind sich sicher, dass der Container oben und unten Öffnungen hat, um schnell zu fluten und unterzugehen?«
Der Kapitän nickte. »Mir wurde gesagt, dass dies der Standard für all ihre ‚Spezial‘-Container ist.«
»Also sollte er - wenn wir es zeitlich richtig abstimmen - über die Seite und verschwunden sein, bevor uns jemand überraschen kann, nicht wahr?«
»In Ordnung, sie haben Recht. Aber wir müssen unsere Geschwindigkeit verringern. Je näher wir an den Hafen kommen, desto mehr Verkehr wird es geben. Und niemand soll mitbekommen, wie wir den Container versenken. Es wird schon schwer genug sein, den Behörden sein Verschwinden zu erklären.«
Der Chefingenieur nickte. »Ok. Ich gehe in den Maschinenraum und bereite das Zurückfahren der Maschinen vor. Geben Sie den Befehl, wann immer Sie soweit sind. Ich werde dem Ersten Ingenieur auftragen, alles nötige Werkzeug bereitzustellen. Wir beginnen mit dem ersten Tageslicht. Es sollte uns nicht allzu viel Zeit kosten.«
Der Kapitän nickte. Bevor der Chefingenieur den Raum verließ, drehte er sich noch einmal um.
»Was hält sich in diesem verdammten Container wohl versteckt?«
Der Kapitän zuckte mit den Achseln. »Drogen oder Waffen, nehme ich an. Keine Ahnung, und ich will es auch nicht wissen. Solange nur meine Familie in Sicherheit ist.«
Cecil Field
Jacksonville, Florida
Ward hielt, was er versprochen hatte. Sobald sie vor einem unscheinbaren Gebäude ausgerollt waren, betrat ein Einwanderungsbeamter das Flugzeug. Er sammelte ihre Ausweise ein, stempelte sie, ohne ein Wort zu verlieren, gab sie zurück und schüttelte allen die Hände.
»Meine Herren«, sagte er, »Willkommen in den Vereinigten Staaten.« Dann lief er die kurze Treppe hinunter, ohne sich noch einmal umzusehen.
»Sehr effizient«, bemerkte Ilya. Dugan nickte und sah auf die Uhr.
»Ok, Männer, lasst uns nachsehen, ob uns draußen ein Willkommenskomittee erwartet.« Dugan stand kaum auf der Rollbahn, als er schon seinen Namen hörte. Ein mittelgroßer blonder Mann in der Uniform der Küstenwache kam auf ihn zu. An seiner Schulter trug er das Abzeichen eines Lieutenants.
»Mr Dugan?«, erkundigte sich der Mann erneut.
Dugan nickte und der Mann hielt ihm lächelnd die Hand entgegen. »Joe Mason. Ich bin Ihr Chauffeur.«
»Freut mich, Lieutenant Mason. Aber bitte, nennen Sie mich doch Tom.«
»Nur wenn Sie mich Joe rufen.«
Dugan grinste. »Abgemacht, Joe. Und das sind Nigel Havelock und Ilya Denosovitch.«
Mason schüttelte Nigels Hand. Als er zu Ilya kam, sah er den großen Russen mit Interesse an.
»Dobro pozhalovat’ v Ameriku«, erklärte Mason.
Ilya hatte Schwierigkeiten, seine Überraschung zu verbergen. »Spasibo«, erwiderte er.
Mason sah Denosovitch noch intensiver an. »Spetsnaz?«
Ilyas Unbehagen war offensichtlich. »Da«, gab er zögernd zu.
Mason grinste. »Einen Schlangenfresser erkenne ich überall, egal welcher Nationalität er angehört.«
Soviel für den Plan, dachte Dugan. Beim Anblick der betreten aussehenden Gruppe lachte Mason laut auf.
»Mein Bruder ist ein SEAL und zwei meiner Cousins gehören Spezialeinheiten an. Ich verbringe viel Zeit mit Sondereinsatzkräften. In der Regel treten sie anders als andere auf. Und meine Familie stammt aus Russland. Unser Name war Kamenshchik, was übersetzt – ganz offensichtlich – Mason heißt. Ich bin die zweite Generation, aber meine Eltern und meine Großeltern sprechen zu Hause immer Russisch. So habe ich es gelernt. Ich bin allerdings ein wenig aus der Übung.«
»Klingt aus meiner Sicht ziemlich gut«, sagte Dugan.
Ilya nickte. »Da, seine Aussprache perfekt ist, Dyed.«
Mason lachte. »Dyed? Sie sehen nicht alt genug aus, um sein Großvater zu sein und Russisch sehen Sie erst recht nicht aus. Woher stammt das Dyed?«
»Das ist eine lange Geschichte.« Dugan starrte Ilya an, der Mühe hatte, sein Grinsen zu unterdrücken.
Mason sah zwischen den Beiden hin und her. »Klingt interessant.«
»Ein anderes Mal vielleicht«, vertröstete ihn Dugan. »Wie sieht der Plan aus?«
»Nun, ich muss mich entschuldigen, aber hier bei HITRON gibt es keine passenden Unterkünfte für Sie. Cecil Field ist keine Einrichtung der Küstenwache – wir teilen uns den Flughafen mit dem Personal von Floridas Nationalgarde und einigen gewerblichen Betreibern. Ich habe Ihnen Zimmer im Hampton Inn, etwa zehn Kilometer von hier, entlang der I-10, gebucht. Ich fahre Sie jetzt gerne dort hin, oder falls Sie Hunger haben, halten wir auf dem Weg irgendwo an. Meine Jungs treten um fünf Uhr früh zur Vorflugkontrolle an. Wir sind dann soweit, wann immer es Ihnen Recht ist. Sagen Sie mir nur, um welche Zeit ich Sie morgen früh abholen soll.«
»Ähm … ist es möglich, vielleicht etwas früher zu starten?«
Mason sah verwirrt aus. »Früher? Heute Nacht … meinen Sie?«
»Ja, falls das machbar wäre.«
»Sicher, möglich ist das schon. Wir verfügen über Nachtsichtausrüstung für den Einsatz rund um die Uhr, aber ich muss zugeben, dass ich im Moment etwas verwirrt bin. Meiner Information nach sollte dies ein routinemäßiger Erkundungs- und Trainingsflug zur Demonstration unserer Drogenbekämpfungsmaßnahmen sein.«
»So ist es«, versicherte Dugan ihm zu schnell.
Mason sah Dugan skeptisch an. »Mr Dugan, wenn ich Sie alle bitten dürfte, sich auszuweisen. Mir wurde gesagt, einen Amerikaner und zwei Briten zu erwarten, aber Mr Denosovitch macht nicht unbedingt einen britischen Eindruck. Ich hätte wirklich gerne gewusst, was genau sich hier abspielt.«
Dugan bemerkte den Gebrauch seines Nachnamens und spürte, dass ihm die Situation entglitt. Er wusste, dass ihm irgendwo ein Fehler unterlaufen war, entschied sich aber, weiter zu bluffen. Er lächelte Mason an.
»Wenn ich Ihnen das verrate, müsste ich Sie umbringen.«
Mason antwortete nicht und wartete. Die Stille wuchs.
»Ok, ich sehe, Sie sind sich unsicher«, gab Dugan schließlich nach. »Warum sagen Sie mir nicht, was Sie stört?«
»Mich stört, dass Sie als vermeintliche Beobachter einer Drogenbekämpfungsübung absolut keine Ahnung vom Ablauf der Prozedur haben. In der Regel besteht unsere Aufgabe darin, die kleinen, schnellen Boote der Drogenkuriere ausfindig zu machen und aufzuhalten. Wir zwingen sie zum Anhalten und halten sie vor Ort fest, bis wir die zuständigen Wasserfahrzeuge zu ihrer Position dirigiert haben. Unsere Aufgabe ist die Einschüchterung. Falls die Schmuggler sich weigern, anzuhalten, setzen wir ihnen entweder mit unserem Maschinengewehr einen Schuss vor den Bug oder versuchen, ihre Motoren mit einem 50-Kaliber Scharfschützengewehr außer Gefecht zu setzen. Der Punkt ist, unsere Drohung ist am effektivsten, wenn unser Ziel SICHTBAR ist. Und obwohl wir Nachteinsätze fliegen können, ist das nicht die Standardtrainingsprozedur. Außerdem trägt die Mannschaft bei Nachteinsätzen ihre Nachtsichtausrüstung. Als ‚Beobachter‘ würden Sie somit nicht mehr als unsere Hinterköpfe observieren. Was mich zu der Annahme veranlasst, dass hier irgendetwas nicht stimmt. Dieser Einsatz wurde unter dem Radar als eine ‚Tu-mir-einen-Gefallen‘-Operation organisiert, und momentan habe ich ein schlechtes Gefühl. Deshalb werde ich, ohne eine direkte Anweisung meines Vorgesetzten, weder meinen Vogel noch meine Mannschaft riskieren, bis ich weiß, was hier vorgeht. Ich schlage vor, ich bringe Sie in Ihr Hotel und morgen früh um acht Uhr setzen wir uns mit meinen Vorgesetzten zusammen und klären die Lage.«
Dugan seufzte. »Ok. Ich denke, wir müssen noch einmal von vorne anfangen. Es ist eine lange Geschichte. Warum finden wir nicht einen Ort, an dem wir uns alle setzen und ich Ihnen bei einer Tasse Kaffee die ganze Sache erklären kann. Danach unterwerfen wir uns Ihrer Entscheidung.«
* * *
Eine Stunde später drängten sich die Männer - ein gutes Stück von den restlichen Kunden entfernt - in die Sitzecke eines beinahe leeren Denny’s und unterhielten sich gedämpft. Die Bedienung kam mit der Kaffeekaraffe auf sie zu, aber Dugan winkte ab. Sie zuckte mit den Achseln und wandte sich wieder der Theke zu. Mason vergewisserte sich mit einem Blick über seine Schulter hinweg, dass sie außer Hörweite war, bevor er fortfuhr.
»Diese Mädchen werden also auf dem Schiff gefangen gehalten«, wiederholte er. »Ich verstehe. Warum warten Sie nicht bis das Schiff in einigen Tagen anlegt und schnappen sich die Kerle dann? Die Mädchen sind sowieso schon seit einer Woche auf dem Schiff, und ein landbasierter Einsatz wäre so viel einfacher.«
Dugan schüttelte den Kopf. »Wir wissen nicht, in welchem Zustand die Mädchen sich befinden, wir wissen nicht mal, ob sie beim Anlegen des Schiffs noch an Bord sein werden. Sobald das Schiff den Hafen erreicht, wird es einer Unzahl von Kontrollen unterliegen. Im Gegensatz zu Waffen oder Drogen, die keinen Lärm veranstalten, können Menschen sich bemerkbar machen. Deshalb ist es gut möglich, dass sie sie kurz bevor sie den Hafen erreichen, vom Schiff entfernen. Aus diesem Grund will ich zuschlagen, sobald sie in Hubschrauberreichweite sind und bevor die Besatzung mit jemandem Verbindung aufnehmen kann.«
Mason sah immer noch nicht überzeugt aus. »Möglich, trotzdem bin ich weiter skeptisch. Natürlich haben Sie meine Sympathie, aber die Sache scheint mir mehr etwas für die Polizei zu sein. Noch dazu verstehe ich absolut nicht, warum das CIA und der britische Geheimdienst hier beteiligt sein sollen – unterstellt, Sie sind die, wofür Sie sich ausgeben, was ich bezweifle. Ich kann keine nationalen Sicherheitsinteressen feststellen. Also Dugan, was VERSCHWEIGEN Sie mir?«
Dugan war sich nicht sicher, ob der Übergang von ‚Tom‘ zu ‚Mr Dugan‘ und zurück zum einfachen ‚Dugan‘ einen Fortschritt in seiner Beziehung zu Mason darstellte oder nicht. Zumindest hörte er noch zu. Er entschied, dass die volle Wahrheit ihnen nicht schaden konnte. Mason war jemand, der sich nicht mit Halbwahrheiten abspeisen ließ.
Er seufzte. »Ich arbeite in Teilzeit für das CIA und habe Beziehungen zum britischen Geheimdienst. Diese Herren allerdings haben mit beiden Organisationen nichts zu tun. Ich fürchte, das Ganze ist eine sehr persönliche Angelegenheit für uns.«
»Ich höre.«
»Eines der entführten Mädchen ist mein Patenkind, Cassie Kairouz. Ein anderes ist Ilyas Nichte.«
»Und was ist mit Havelock hier?« Mason zeigte auf Nigel.
»Nigel ist Cassies …« Dugan zögerte; ‚Freund‘ schien zu wenig zu sein, aber wie sollte er ihn sonst nennen? »Nigel liegt sehr viel an Cassie«, fügte er einfach hinzu.
Mason sah ihn an. »Ok, das macht mehr Sinn. Aber das Ganze verstößt TOTAL gegen die Regeln. Ich denke, wir sollten das mit dem Kommandanten meiner Einheit diskutieren …«
»Dazu fehlt uns die ZEIT, Joe. Denken Sie wirklich, dass diese Diskussion ihr Ende finden würde, bevor das Schiff die Lotsenstation erreicht hat? Sie haben die Genehmigung für den Flug, nicht wahr? BITTE, lassen Sie uns den Flug wie geplant durchführen und dann passen wir uns den Umständen an, die wir vorfinden. Wenn wir diese Gelegenheit verpassen, könnten sie tot oder außerhalb unserer Reichweite sein!«
Mason schüttelte den Kopf und antwortete nicht. Dugan sah seine Felle davonschwimmen. Dann begann Ilya mit kaum hörbarer Stimme auf Mason in Russisch einzureden.
* * *
Mit wachsendem Unbehagen sah Ilya, wie Dugans Versuch, den Küstenwachepiloten zu überzeugen, zu scheitern schien. Er war nicht in der Lage, sämtliche Nuancen der Unterhaltung zu verfolgen, aber die Körpersprache des Piloten war unmissverständlich. Sein Kopfschütteln wurde nachdrücklicher, je weiter die Unterhaltung fortschritt. Als beide Männer in ein – wie es schien – endgültiges Schweigen verfielen, konnte er sich nicht länger zurückhalten.
»Es tut mir leid, Joe Mason«, sagte Ilya auf Russisch, »aber mir fehlen die englischen Worte, um das auszudrücken, was ich zu sagen habe. Aber ich flehe Sie an, auf Dyed zu hören und uns ohne Zeitverlust in Ihren Hubschrauber aufzunehmen. Egal wo sie sich befinden, die meisten Familien haben eine enge Verbindung zueinander. Aber ICH fühle sie ohne Zweifel besonders stark. Und wenn Ihre Familie aus Russland stammt, denke ich, dass es Ihnen genauso geht. Ich wette, dass Ihre Eltern und Großeltern und Brüder und Schwestern und Cousins und Nichten und Neffen mehrere Male im Jahr zum Essen und Trinken und Tanzen und Lachen und Kämpfen und Streiten zusammenkommen. Ich denke, Sie haben Familienmitglieder, die Sie grenzenlos lieben und andere, die Sie jedes Mal, wenn Sie nur an sie denken, zur Weißglut bringen. Aber ich bin mir sicher, dass Sie - falls einer von ihnen in Schwierigkeiten stecken sollte – Ihren letzten Rubel oder Ihre letzte Kraft für diese Person geben werden, weil sie Teil der Familie ist, da?«
Mason nickte und Ilya sprach weiter.
»Ich war ein Teenager, als die kleine Karina geboren wurde. Ich schaukelte sie auf meinen Knien und ging mit ihr in den Park oder in den Zoo. Wir taten all das, was Kinder mögen. Als Soldat wusste ich, dass mein Leben sich nicht dazu eignet, Familie zu haben. Ich habe nie geheiratet, aber die Kinder meiner Schwester sind wie meine eigenen. Und dieser Abschaum, diese Schweinehunde der Mafiya haben mir meine kleine Karina genommen und ihr unaussprechliche Dinge angetan.« Der Gesichtsausdruck des großen Russen verhärtete sich. » Und dafür werden sie zahlen, das kann ich Ihnen versichern. Aber als Erstes müssen wir Karina und die anderen retten. Also, bevor sie sich weigern oder den einfachen Weg gehen und die Sache an Ihre Vorgesetzten weiterleiten, bitte ich Sie, an Ihre EIGENE Familie zu denken und was Sie tun würden, wenn eines Ihrer Familienmitglieder in den Klauen dieser Monster festsitzen würde. Es ist Ihre Entscheidung, Joe Mason. Außer meiner Dankbarkeit kann ich Ihnen nichts bieten, aber ich schwöre Ihnen, dass Sie, wenn Sie uns unterstützen, lebenslang mein Tovarishch – mein Kamerad – sein werden.«
* * *
Dugan hörte Ilya zu, ohne ein Wort zu verstehen. Trotzdem war ihm bewusst, dass es sich um einen Appell handelte. Ilya sprach vornübergebeugt, mit deutlich sichtbarer Intensität, und lehnte sich nach dem Ende seiner Ansprache gegen die Bank zurück, als ob er erschöpft sei. Dugan sah Mason an. Die Stille wuchs.
»Ok«, sagte Mason schließlich.
»Ok was?«, fragte Dugan.
»Ok, ich werde euch Irren fliegen, obwohl ich mir neunundneunzig Prozent sicher bin, dass ich meinen Hintern in der Schlinge wiederfinden werde.«
»Spasibo«, bedankte sich Ilya.
»Vsegda pozhaluysta«, erwiderte Mason. »Schon in Ordnung.«
»Wunderbar«, freute sich Dugan. »Gehen wir.«
»Nicht so schnell. Heute Nacht werde ich Sie trotzdem nicht fliegen. Es gibt zu viele unbekannte Größen, um eine Landung oder ein Absetzen auf einem feindlichen Schiff in der Dunkelheit zu versuchen - nicht ohne entsprechende Vorkenntnisse. Sie könnten Drähte gespannt haben, um uns auszuschalten. Wenn wir bei unserem Angriff Nachtsichtgeräte benutzen, könnten Sie in letzter Minute die gesamte Deckbeleuchtung einschalten und uns damit die Sicht nehmen. Daneben gibt es noch ein Dutzend anderer Gründe, warum ein Nachtflug eine schlechte Idee ist. Und außer Ilya hier hat sicher keiner von Ihnen Erfahrung mit dem rapiden Abseilen aus einem Hubschrauber, was bedeutet, dass ich entweder auf den Containern landen oder zumindest über ihnen schweben muss.« Ilya nickte. »Joe hat Recht, Dyed. Ich will schnell auf Schiff, aber Dinge, die er sagt, sind wahr.«
»Außerdem müssen wir zunächst die Position des Schiffs bestimmen«, gab Mason zu Bedenken. »Haben Sie seine Automatische Identifikationssystem-Nummer?«
»Die habe ich«, bestätigte Dugan. »Auf meinem Laptop im Wagen.«
»Ich werde ihn holen«, bot sich Nigel an, bestrebt, ebenfalls einen Beitrag zu leisten.
Mason nickte und angelte seine Autoschlüssel aus der Tasche. Nigel eilte zur Tür.
»Besteht die Möglichkeit, dass die Kerle ihr AIS deaktiviert haben?«, fragte Mason.
»Das bezweifle ich«, meinte Dugan, »da das Schiffsortungssystem den Frachter, sobald er sich der Küste nähert, damit als ‚unbekanntes Fahrzeug‘ ausweisen wird. Die Deaktivierung des AIS würde zu viel Aufmerksamkeit erregen.«
Sie verfielen in Schweigen, bis Nigel zurückkam und Dugan über den Tisch hinweg seinen Laptop reichte.
»Gibt es hier drahtloses Internet?«, erkundigte sich Dugan, während er den Computer hochfuhr.
Mason zuckte mit den Achseln. »Höchstwahrscheinlich. Das gibt es heutzutage doch überall.«
Der Computer erwachte zum Leben und Dugan stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als er das Zeichen für eine existierende drahtlose Internetverbindung am unteren Rand seines Bildschirms entdeckte. Er stellte die Verbindung her und loggte sich in den Schiffstrackingservice ein, bei dem er Mitglied war. Die AIS-Nummer der Kapitan Godina hatte er dort bereits eingegeben.
»Da ist sie.« Er platzierte den Cursor über das Symbol der Kapitan Godina, bevor er Mason den Laptop zuschob.
»Sie befindet sich immer noch etwa einhundertsechzig Kilometer außerhalb unserer maximalen Reichweite. Wir müssen warten, bis sie näher kommt.« Mason studierte den Bildschirm genauer. »Sind diese Kurs- und Geschwindigkeitsangaben zutreffend?«
»Mehr oder weniger, denke ich. Es sind Projektionen, die über einen gewissen Zeitraum anhand der vorherigen Positionen des Schiffes kalkuliert werden. Ich gehe davon aus, dass sie immer ein wenig zeitversetzt sind. Wie oft sie die Angaben auf den neuesten Stand bringen, kann ich nicht sagen. Welchem Kurs folgt sie und wie schnell ist sie?«, forschte Dugan nach.
»Sie ist in westlicher Richtung unterwegs, Geschwindigkeit achtzehn Knoten.«
Mason sah auf seine Uhr. »Es ist beinahe dreiundzwanzig Uhr. Wenn sie ihre gegenwärtige Geschwindigkeit beibehält, wird sie das extreme Ende unserer Reichweite bei Tageslicht erreichen. Wenn wir so gegen sechs Uhr früh losfliegen, sollte das hinkommen.«
»Warum nicht vorher?«, drängte Dugan. »Warum greifen wir nicht beim ersten Tageslicht an?«
»Weil wir genug Treibstoff haben sollten, um lange genug über dem Schiff zu verweilen, um etwas ausrichten zu können. Es sei denn, Sie möchten ihm nur aus der Entfernung zuwinken, bevor wir zur Umkehr gezwungen sind. Einwegflüge in Hubschraubern von Millionenwert sind nicht unbedingt karrierefördernd.«
»Können wir … ich weiß nicht … vielleicht einen anderen Hubschrauber mit einer größeren Reichweite benutzen … oder so etwas?« Nachdem er ihn ausgesprochen hatte, wusste Dugan sofort, dass sein Vorschlag pathetisch klang.
Mason schüttelte den Kopf. »Nicht zu diesem Zeitpunkt und nicht mit mir. Hier bei HITRON fliegen wir den MH-65C und sonst nichts. Sie müssen verstehen, Dugan, normalerweise arbeiten wir als Teil eines Teams mit einem Kutter zusammen, der über ein Flugdeck verfügt. Die USCGC Legare sollte die Startplattform und Basis für unsere geplante ‚kleine Trainingsübung‘ sein. Da wusste allerdings noch niemand, dass Sie ein besonderes Ziel im Auge hatten.«
»Kann sie uns nicht in Richtung unseres Ziels entgegenkommen?«, überlegte Dugan.
»Sicher, aber nicht auf MEIN Kommando hin und nicht ohne guten Grund. Ich könnte vielleicht behaupten, dass unsere britischen Gäste die Änderung des vorgesehenen Einsatzbereiches gefordert haben. Obwohl der Kapitän sicherlich stinksauer sein wird, gehe ich davon aus, dass er kooperieren wird. Schließlich sollte das Ganze ja eine Zirkusvorstellung zu Gunsten von unseren Freunden, den ‚Briten‘ sein.«
Dugan nickte. »Gute Idee. Schieben Sie die Schuld auf uns. Sagen Sie ihm, wir sind aggressive Arschlöcher, die drohen, allen möglichen Aufstand zu veranstalten, und dass Sie einfach nur versuchen, uns zufriedenzustellen.«
Mason grinste. »Jetzt wo Sie es erwähnen, das mit dem aggressiven Arschloch kommt schon irgendwie hin. Und ich schlage vor, dass Sie und unser Mann Ilya hier an Ihrem britischen Akzent arbeiten, bevor Sie mit jemandem über meinen Rang hinaus reden. Andernfalls sollte Havelock allein das Gespräch führen.«
»Keine Sorge. Wir sind Ihnen für Ihre Hilfe äußerst dankbar und unser Auftreten wird Ihrer Geschichte hundertprozentig entsprechen.«
»Ok«, sagte Mason. »Ich setze mich mit der Legare über die Planänderung in Verbindung. Trotzdem sollte Ihnen bewusst sein, dass es im Endeffekt wohl keinen Unterschied machen wird. Ich denke, die Legare ist noch zu weit südlich, um aus diesem vorgezogenen Zeitplan einen Vorteil zu erringen.«
Cecil Field
Jacksonville, Florida
Dugan saß im Hubschrauber und bemühte sich, seine Ungeduld zu verbergen, während er im Licht des bevorstehenden Morgens die Hubschrauber und Starrflügelflugzeuge auf dem Flughafen um sie herum näher betrachtete. Ilya saß ihm in seinem Netzsitz gegenüber, das geborgte Gewehr auf den Knien. Der Overall, den Mason ihm zur Verfügung gestellt hatte, lag eng über seiner massiven Brust und den stark ausgeprägten Armmuskeln des großen Russen an. Das Design der Fluganzüge für Gäste der Küstenwache folgte offensichtlich dem ‚Eine-Größe-Für-Alle‘-Prinzip. Nigel, der neben Ilya saß, ertrank beinahe in seinem Anzug. Der schmale Brite sah für alle Welt wie ein Kind aus, das in den Kleidern seines Vaters unterwegs war – bis auf den Griff der Glock, der aus seiner Tasche ragte. Einzig Dugans Overall passte einigermaßen. Sein Körperbau entsprach wohl dem, den die US-Küstenwache als durchschnittlich einstufte.
Die drei Crewmitglieder ließen keine übermäßige Neugier über das seltsam bewaffnete, multinationale ‚Beobachter‘-Trio erkennen. Dugan unterstellte, dass Mason sie über die etwas aus dem Rahmen fallende Natur ihrer Mission unterrichtet hatte. Falls sie Bedenken hatten, zeigten sie sie nicht. Alle hatten ihnen die Hände geschüttelt und schienen bei Masons Vorstellung freundlich genug zu sein. Nachdem sie ihre Gäste so weit wie möglich vom Cockpit entfernt untergebracht hatten, arbeitete sich das Team methodisch durch die Vorflugkontrollliste hindurch. Nach dem Abschluss der Kontrollen schien allerdings nichts zu passieren. Dugan riskierte es, das Schweigen zu brechen.
»Ähm … worauf warten wir denn?«
Vorne wandte Mason sich in seinem Sitz zu ihm um.
»AIS zeigt uns, dass sich das Ziel noch gut dreihundertfünfzig Kilometer von der Küste entfernt befindet. Damit ist es uns zwar näher gekommen, liegt aber immer noch außerhalb unserer Reichweite.«
»Ja, aber es kommt näher«, argumentierte Dugan, »und uns wird der Hinflug Zeit kosten. Danach wird sie sicher in Reichweite sein, oder?«
»Negativ. Sieht aus, als habe sie ihre Geschwindigkeit stark reduziert. Sie könnte wieder beschleunigt haben, aber das erfahren wir erst mit aktualisierten Satellitendaten. Wann das sein wird, wissen wir nicht. Wenn wir jetzt losfliegen, gibt es keine Garantie, dass wir uns lange genug über dem Frachter aufhalten können – gut möglich, dass uns gar keine Zeit bleibt. Um sicherzugehen, sollten wir noch eine halbe Stunde warten.«
Dugan dachte einen Moment nach. »Warum, zum Teufel, sollte sie so weit von der Küste entfernt, ihre Geschwindigkeit verringern? Ob sie vielleicht ein anderes Schiff erwarten? Himmel, falls dem so ist, könnten wir die Mädchen verlieren.«
»Daran habe ich nicht gedacht«, gab Mason zu. »Wir heben wohl besser ab.« Damit rief er den Kontrollturm an und erbat die Genehmigung für einen sofortigen Abflug. Zehn Minuten später sah Dugan durch die offene Tür des Hubschraubers, wie Jacksonville unter ihnen vorbeirauschte.