Frische Luft


Mit einem Mal war die Luft auf der Dienststelle zu stickig. Wolf Hetzer und sein Team beschlossen, eine Runde über den Weihnachtsmarkt zu drehen. Thorsten Büthe kam nach kurzem Zögern mit. Er konnte jetzt auch nicht so direkt in seinen Wagen steigen und wieder nach Hannover zurückfahren. Sie brauchten alle Abstand, eine Distanz zu den Worten, die gesagt worden waren und zu den Gefühlen, die sie verursacht hatten. Es war ein Gemisch aus Trauer und Wut mit einem Schuss staunender Fassungslosigkeit, das sie mit einem Glühwein beiseitezuschieben versuchten. Aber da sie nur mit einem Glas ihre Kehlen wärmten, rumorte es weiter in jedem Einzelnen von ihnen auf seine ganz eigene Art und Weise.

Doch die Sonne und die weihnachtlichen Gerüche lenkten ein wenig ab. Es war Nikolaustag und ein Samstag obendrein. Niemand sprach mehr von Renate Lippert. Sie verabschiedeten sich bei Sonnenuntergang, als ob nichts gewesen wäre. Peter kaufte noch ein paar gebrannte Mandeln für Nadja und Wolf eine Bratwurst für Lady Gaga, die sie so hilfreich unterstützt hatte. Dann trennten sie sich. Jeder ging seiner Wege. Die Fälle waren gelöst, doch die Menschen, die mit ihrem Leben gehadert hatten, blieben tot, ohne es in jenem Moment gewollt zu haben.

Niklas dachte an seine Mutter. Ihr hatten unerträgliche Qualen das Ende diktiert. Auch der Schmerz war ein Mörder, dachte er bei sich, er war jedoch niemals greifbar. Er fragte sich, wie sich dieser Oliver wohl fühlen musste, wenn er den Selbsttötungen beiwohnte und was seine Beweggründe waren, Menschen beim Sterben zu begleiten. Als er in seinem Zimmer war und sich von Detlef verabschiedet hatte, beschloss er, Oliver anzurufen. Er erhoffte sich Antworten, die ihn verstehen ließen, was nicht zu begreifen war.

Wolf hingegen fuhr mit seiner Hündin nach Hause, die sich sofort in ihrem Korb einrollte. Er selbst war ebenfalls schrecklich müde. Ob das noch von dem Beruhigungsmittel oder den Umständen kam, wusste er nicht.

Es war auch egal.

Heute Abend würde er seine Moni wiederhaben und nur das zählte jetzt für ihn. Eines jedoch wollte er noch erledigen, bevor er sich ein Schläfchen auf der Chaiselongue bei den Katern gönnte.

Normalerweise wäre er lieber persönlich bei Gitta Schneider vorbeigefahren, aber er brachte die Kraft einfach nicht auf. Sie würde verstehen, dass er sie nur anrief.

„Schneider“, meldete sie sich.

„Hallo Frau Schneider, Hauptkommissar Hetzer hier. Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass Ihre Tochter nicht freiwillig vom Turm gesprungen ist, so wie Sie es immer vermutet haben.“

Sie schniefte kurz, schnäuzte sich in ihr Taschentuch und dankte ihm dann, dass er sie informiert hatte. „Haben Sie den Kerl schon?“, fragte sie.

„Wir haben den Mörder. Es ist allerdings eine Frau. Sie hat auch versucht, meinen Sohn zu töten“, sagte Wolf. „Lassen Sie uns aber bitte ein andermal darüber sprechen.“

„Danken Sie Gott, dass Ihnen das erspart geblieben ist“, flüsterte sie, „kein Mensch sollte erleben müssen, dass sein Kind stirbt.“

„Ja“, stimmte er zu. „Eine Bitte habe ich noch. Das ist jetzt vielleicht etwas unpassend, aber es brennt mir auf der Seele.“

„Wie kann ich Ihnen helfen?“, wollte Gitta Schneider wissen.

„Die Gans, die neulich ihren Hals um meinen gelegt hat, wo haben Sie die her?“

„Eine Dame hat sie mir vor Jahren gebracht, weil sie sie nicht mehr halten konnte. Der Ganter hat bei uns quasi Asyl bekommen.“

„Er heißt Emil“, sagte Wolf leise, „und lebte bei mir. Sie hat ihn mir weggenommen.“

„Das tut mir leid!“ Gitta überlegte einen Moment, denn sie wusste, worüber er nachdachte. „Wissen Sie, er fühlt sich hier wohl. Wollen Sie ihn wirklich ein zweites Mal aus seiner gewohnten Umgebung reißen?“

„Nein“, erwiderte Wolf mit Wehmut in der Stimme, denn er wusste, dass sie recht hatte, „aber ich würde ihn gerne ab und zu mal besuchen, wenn Sie nichts dagegen haben.“

„Jederzeit“, versprach Gitta, „aber klingeln Sie bitte erst bei mir.“

„Danke“, sagte Wolf und verabschiedete sich. Er hatte das Gefühl, dass Emil dort gut aufgehoben war.

Jetzt konnte er sich auf den Abend freuen und auch Moni hoffentlich etwas Entlastung bringen, indem er ihr sagte, dass Isabella nicht aus freien Stücken Hand an sich gelegt hatte. Auch sie war dem Einfluss von Renate Lippert ausgesetzt gewesen. Doch er wusste, dass dies nur ein kleiner Trost war. Es konnte keine Garantie dafür sein, dass sie es nicht wieder versuchen würde.

Mit seinem Sohn würde er ebenfalls noch sprechen müssen. Dieser erneute Alleingang, seine Selbstgefährdung, seine Selbstüberschätzung, all das war höchst bedenklich und kaum tragbar. Er wollte ihm ein Sabbatjahr empfehlen, um zu sich selbst zu finden. Niklas sollte noch einmal überdenken, ob dieser Beruf das Richtige für ihn war.

Jetzt jedoch wollte er die Sorgen einfach nur hinter sich lassen. Es war noch einmal alles gut gegangen. Isabella und Niklas lebten. Das war die Hauptsache. Sie hatten eine Zukunft, die Renates Opfern versagt blieb.

Er spürte eine tiefe Dankbarkeit, als er sich neben Max und Moritz kuschelte, die sofort zu schnurren begannen. Sie hatten wirklich Glück gehabt. Und wenn Moni nachher zurückkehrte, dann war alles perfekt. Es konnten besinnliche Weihnachten werden unter der Frankenburg.