Kurz vor Nikolaus


Der Nikolaustag fiel auf einen Sonnabend und schon am Tag vorher lockte der frische Schnee etliche Familien mit ihren Schlitten in den Harrl. Den Waldboden bedeckte eine lockere, weiße Schicht, auf der sich kleinere Kinder schon gut ziehen ließen.

Es gab aber noch einen anderen Grund, zur Kuppe des Harrls zu wandern – und der hieß Neugierde. Man wollte schon einmal einen Blick durchs Fenster werfen. Die Turmgaststätte, die schon seit langer Zeit verwaist zu Füßen des Sandsteinmonumentes lag, hatte endlich einen neuen Pächter. Sie sollte am siebten Dezember eröffnet werden. Nach und nach waren die Räumlichkeiten renoviert und sogar eine Wasserleitung zum Turm hoch verlegt worden. Der Blick durch die Scheiben versprach ein gemütliches Ambiente bei Kaminfeuer.

Lars Michallek stapfte mit seiner Frau und Töchterchen Greta den Kammweg entlang, wobei die Dreijährige fröhlich krähte, da sie auf einem Schlitten saß, der bei jeder Wurzel, über die er gezogen wurde, etwas hüpfte.

„Pass doch auf!“, schimpfte Ines mit ihrem Mann. „Nicht, dass sie noch rausfällt.“

„Du siehst doch, was für einen Heidenspaß sie hat“, lachte Lars, „außerdem hält sie sich am Kindersitz fest.“

Dass das mit dem Festhalten nicht wirklich gut klappte, musste sich Lars eingestehen, als der Schlitten etwas seitlich abdriftete. An einer richtig dicken Wurzel bockte das Gefährt auf und kippte zur Seite. Greta kullerte in den Schnee und schrie. Noch lauter schimpfte Ines, die es hatte kommen sehen, während sie Greta aufhob, die Beule an der Stirn begutachtete und zwischen den Tiraden pustete. Lars war sauer und zerknirscht zugleich. Musste sie denn immer alles herbeireden, dachte er und stieß mit der Fußspitze wütend nach dem verschneiten Übeltäter, der allerdings nicht fest verwachsen war, sondern wie ein loser Ast davonflog. Nur, dass er anstelle von Zweigen vier von fünf Fingern hatte. Lars, der Mitglied bei der Freiwilligen Feuerwehr in Bergdorf war, erkannte sofort, dass er es mit einem Arm zu tun hatte und starrte dem gefrorenen Flugobjekt ungläubig hinterher. Zuerst fehlten ihm die Worte, dann wurde er bleich. Als Ines beim Schimpfen Luft holte und ihrem Mann ins Gesicht sah, bekam sie einen Schreck.

„So habe ich es doch gar nicht gemeint. Nun nimm es dir nicht so zu Herzen. Die Beule wird schon wieder weggehen. Du musst nur etwas vorsichtiger sein, oder wir müssen sie zwischendurch auf den Arm nehmen, wenn sie nicht laufen will.“

Lars hörte sie nicht. Er überlegte fieberhaft, ob er irgendwie aus dieser Situation herauskommen konnte. Vielleicht hatte er sich auch geirrt, versuchte er sich einzureden und das Bild aus seinem Kopf zu verdrängen.

„Lars?“, rief Ines und schüttelte ihn. „Du kannst dich beruhigen. Ihr ist nichts Schlimmes passiert.“

„Ihr nicht“, sagte er mit rauer Stimme, „aber irgendjemand anderem.“

Sie sah ihn verständnislos an.

„Ich bin über keinen Ast gefahren. Das war ein Arm. Geh du bitte mit Greta nach Hause. Ich muss die Polizei anrufen und hier auf die Beamten warten.“

„Wie meinst du das? Ein Arm? Das ist doch Quatsch. Bestimmt ein Stück Holz ohne Rinde. Schau doch noch mal genau nach“, bat sie.

Es schüttelte ihn innerlich. „Nein! Ines, geht jetzt sofort nach Hause. Ich werde mir das Ding nicht noch mal ansehen. Ein Ast hat keinen Daumen und ihm fehlt auch nicht der Zeigefinger. Glaub’ mir, es ist ein Arm. Denkst du, ich habe Bock, hier allein im Wald neben einem Leichenteil auf die Kripo zu warten?“

Jetzt wurde Ines blass. Wie ekelig. Ein Stück von einem Toten, und ihre Tochter wäre auch beinahe noch daraufgefallen. „Ich verstehe nicht, wieso hier auf dem Weg ein Arm liegt“, sagte sie. „Wo ist denn der Rest?“

Lars stöhnte, denn er wollte das überhaupt nicht wissen.

„Meinst du, hier ist noch mehr? Vielleicht war das ein Mord? Jemand hat heimlich einen Toten vergraben?“ Ihre Wangen glühten jetzt.

„Du siehst zu viele Krimis“, sagte er genervt. „Ich werde dir nachher alles haarklein erzählen, aber jetzt ab nach Hause. Die Lütte wird noch kalt.“ Greta, die das alles auch inzwischen langweilig fand, zog an Papas Hose. „Litten fahn!“, verlangte sie.

„Das macht Mama“, erklärte er und setzte sie in ihre Kissen. „Und nun ab mit euch!“

Ines hätte das Geschehen gerne weiter verfolgt, aber sie sah ein, dass sie mit Greta nicht im Wald bleiben konnte und verabschiedete sich mit einem Klaps auf Lars‘ Schulter. „Wo hast du das Ding denn hingepfeffert?“, wollte sie wissen. Es sollte beiläufig klingen, aber er wusste, dass es sie brennend interessierte.

„Da hinten“, sagte er und zeigte mit dem Finger nach links, „aber tu dir selbst einen Gefallen und schau nicht hin. Manche Bilder vergisst man nicht.“

„Ja, ja“, gab sie zurück und stierte beim Weitergehen ins Dickicht. Die Hand, die sich locker in einer Astgabel verkeilt hatte, winkte zum Abschied leicht im Wind. Ines packte das Grausen. Sie rannte so schnell sie konnte am Turm vorbei und davon. Der Schlitten mit der jauchzenden Greta flog hinterher. Er lag sicher auf dem Weg, der ab hier zwar etwas abschüssig, aber vollkommen eben war, falls keine weiteren Fragmente einer Leiche ihn aufhielten.