Ins Licht
Warm floss es auch von Helmas Arm herab. Aber sie hatte vorgesorgt und ein bordeauxfarbenes Handtuch auf ihren Schoß gelegt. Der Schnitt war tiefer als sonst, pulsierte an einer kleinen Stelle leicht und tat richtig weh. Sie war froh, als der Schmerz langsam nachließ. Im Moment des Schneidens hatte sie wirklich ein grelles Licht gesehen. Es war ihr so vorgekommen, als ob ihr Gehirn auseinanderplatzte. Sie hatte plötzlich eine Ahnung, wie es sein musste, wenn man sich selbst tötete. Das Licht, die Explosion, alles müsste noch größer und heller sein, aber dieser irre Schmerz würde nicht mehr einsetzen, weil der Körper, der ihn empfinden konnte, nicht mehr existierte. Sie glaubte jetzt zu wissen, was ihr Chatpartner meinte.
Plötzlich hörte sie die Haustür. Mist, da kam jemand eher als erwartet. Jetzt musste sie schnell reagieren, um nicht aufzufallen. Sie schmiss das Messer unters Bett, wickelte das Handtuch um die Wunde, kroch unter die Decke und legte sich mit dem Bauch auf ihre Verletzung, um die Blutung zu stillen, aber das tat verdammt weh. Sie zuckte zusammen und biss die Zähne aufeinander. Dann schloss sie die Augen und tat so, als ob sie schlief, um Zeit zu gewinnen. Bisher hatte noch niemand mitbekommen, dass sie sich selbst verletzte. Als ihre Mutter die Tür leise öffnete, atmete Helma tief und langsam. Bevor sie sich zurückzog, schnupperte sie verwundert in die Luft. Ein ungewohnt intensiver Geruch lag im Raum, der ihr bekannt vorkam, den sie aber in diesem Moment nicht einordnen konnte. Sie beließ es dabei, denn sie wollte ihre Tochter nicht stören und schloss die Tür wieder hinter sich. Helma holte tief Luft. Das war knapp gewesen. Viel länger hätte sie es auch nicht ausgehalten, auf der frischen Wunde zu liegen. Immerhin schien die Blutung jetzt fast aufgehört zu haben, dachte sie erleichtert, denn sie durfte nur so tief schneiden, dass sie keine fremde Hilfe benötigte. Sonst flog sie auf. In ihrem Kleiderschrank hatte sie sich in einem Kosmetikkoffer Verbandsmaterial zurechtgelegt. Sie hatte es neulich in der Apotheke mitgehen lassen und in ihrem Rucksack nach Hause geschmuggelt. Zum Teil waren die sterilen Sachen abgelaufen gewesen, aber sie hatte auch ein paar neue, elastische Mullbinden und zwei Kompressionsverbände geklaut. Einen davon würde sie jetzt gut gebrauchen können. Als sie ihre Wunde versorgt hatte, stopfte sie das feuchte Handtuch in eine Plastiktüte und ließ es ebenfalls in ihrem Schrank verschwinden. Dann riss sie das Fenster auf. Kalte Abendluft drang herein. Sie atmete tief durch. Der körperliche Schmerz überdeckte jetzt den inneren und ließ die Gedanken an Merlins Tod oder ihre häusliche Situation nicht an die Oberfläche gelangen. Pulsierend bohrte er sich immer wieder in ihr Bewusstsein. Er schob sich und seine Existenz in den Vordergrund und ließ nichts anderem Raum. Nur eines dachte Helma in diesem Moment, weil es direkt damit zusammenhing. Sie blickte in die klare Nacht. Der Himmel war von Sternen übersät. Ja, sie wünschte sich ein Licht, das sie umhüllte und war auch bereit, ein einziges Mal noch viel größeres Leid zu ertragen, wenn das bedeutete, dass sie in der Geborgenheit und Wärme bleiben konnte, ohne jemals wieder den Schmerz des Denkens ertragen zu müssen.