Gittas Angst


Norbert war auf dem Heimweg im „Minchen“ vorbeigegangen. Gut, es war nicht der direkte Weg, aber die Neugier trieb ihn hin. Er freute sich, dass es die Kneipe immer noch in nahezu unverändertem Zustand gab. Dort hatte er sogar einen Kumpel von früher getroffen. Das war ganz amüsant gewesen, aber er wollte nicht allzu lange über die Feierabendbierzeit hinaus bleiben, weil er noch mit Julias Mutter sprechen musste. Jedenfalls hatte er sich das vorgenommen.

Der Bauernhof, auf dem er vorübergehend eine Bleibe in einem Ein-Zimmer-Appartement gefunden hatte, lag in der Kornmasch. Wann immer er die Bahnunterführung hinter sich ließ, kam er sich fast vor, als ob er in eine andere Welt übertrat. Die Stadt endete hier. Plötzlich war es so wie rund um Esens auf dem Land. Hinter der Bahnbrücke gab es nur noch Höfe. Für ihn war es auch ein bisschen wie zu Hause zu sein, denn Birte und er wohnten auf dem Hof ihres Vaters. Gut, dass er den alten, senilen Bock derzeit nicht sehen musste, dachte er. Das Bauernhaus hingegen war schön und ihre Wohnung darin liebevoll von Birte eingerichtet worden. Im Moment aber fühlte er sich in Gittas Appartement ganz wohl. Ein bisschen Heimatgefühl ohne Verpflichtungen. Einfach befreiend!

Er fuhr auf den Hof, sprang aus dem Wagen und klingelte bei Gitta, damit er auch diese Verantwortung loswurde. Dummerweise hatte er von sich aus angeboten, bei der Kripo anzufragen, weil ihm sein alter Freund Hetzer wieder eingefallen war. Der einsame Wolf. Dem konnte er nun getrost die Kugel zuschieben. Er war schließlich vom Fach. Trotzdem würde er zu seinem Wort stehen, bei Julias Studentenbude vorbeizufahren. Ehrenhalber, er war ja kein Schwein. Das konnte er erledigen, wenn er in Hemmingen bei der Sterbehilfeorganisation vorbeifuhr. Wie hieß sie noch gleich? Es fiel ihm nicht ein.

Als er bei Gitta klingelte, hörte er, wie sie zur Tür humpelte. Sie hatte so einen komischen Schuh aus Kunststoff an und sollte den Knöchel noch nicht zu sehr belasten.

„Ach, du bist es, Norbert. Komm ruhig rein“, bat sie. „Das Laufen und Stehen fällt mir noch schwer. Lass uns in die Küche gehen. Willst du einen Kaffee?“

Berti, der sonst leidenschaftlich gerne Kaffee trank, aber sein Bier im Bauch nicht mit einem begießen wollte, schüttelte den Kopf. „Ich bin wegen Julia hier“, erklärte er. „Ich hatte dir doch versprochen, bei meinem Freund, dem Kommissar, nachzufragen.“

„Ja, und? Hat er eine Idee?“, fragte Gitta mit leuchtenden Augen.

„Nicht wirklich“, sagte Berti bedauernd. „Ich hatte auch den Eindruck, dass er das gar nicht so wichtig nahm. Es verschwinden wohl öfter mal Jugendliche, die später einfach so mir nichts, dir nichts wieder auftauchen. Er meinte, du solltest erst mal selbst alle Register ziehen. Freunde und Freundinnen anrufen, Kommilitonen fragen, Professoren vielleicht oder wissenschaftliche Mitarbeiter der Uni. Wenn das nichts ergibt, musst du eine Vermisstenanzeige aufgeben. Dann würden sie tätig, meinte er. Hier und in Hannover.“

Gitta seufzte. „Wenn ich nur derzeit mit diesem blöden Fuß nicht so gehandicapt wäre ...“

„Das lässt sich nun mal nicht ändern. Telefonieren kannst du aber doch. Ich fahre gerne für dich in Hannover vorbei und werfe mal einen Blick in ihre Studentenbutze. Hast du einen Zweitschlüssel?“

„Ja, habe ich“, bestätigte Gitta. „Das ist total lieb von dir, dass du das für mich tun willst.“

„Ich bin sowieso in der Nähe von Hannover. Kann ich mir in der Stadt gleich ’ne neue Jeans kaufen. Die zwei Jahre sind um.“ Er grinste.

„Wann fährst du denn?“, wollte Gitta wissen.

Berti stöhnte innerlich. Das Grinsen war ihm vergangen. Jetzt würde sie keine Ruhe geben, bis er endlich fuhr. „Wahrscheinlich übermorgen, mal sehen, so ganz genau kann ich es dir noch nicht sagen. Am besten, du gibst mir den Schlüssel gleich mit. Dann bin ich unabhängig. Ich rufe dich direkt aus ihrer Wohnung an. Du weißt genau, was da sein müsste und was nicht. Am besten wär’s, wenn sie gleich selber die Tür aufmacht.“ Er rechnete jedoch nicht damit.

„Danke“, sagte Gitta und reichte ihm die Keksdose.

Berti, dem eine Pizza aus dem Ofen vor seinem geistigen Auge schwebte, schüttelte wieder den Kopf. „Nee, lass mal, ich werde zu dick“, benutzte er als Ausrede und hatte den Duft von überbackenem Käse schon in der Nase. „So, ich will dann mal“, sagte er und fügte ein „Bleib du bloß sitzen!“ an.

Endlich Feierabend, dachte er und zog die Tür leise hinter sich zu. Hier draußen war es dunkel. Die Mondsichel, die ohnehin schon schmal war, wurde auch noch von Wolken verdeckt. Er war froh, als er sich in seinen Sessel fallen lassen konnte. Und während er auf seine Pizza wartete, die gerade im Ofen knusprig wurde, bediente sich anderenorts das Schwarzwild an Julias Fleisch.