Wege ins Lichtmeer


Toni war am Boden zerstört. Jetzt hatten ihr die Alten – wie sie ihre Eltern insgeheim respektlos nannte – auch noch das Voltigieren verboten. Sie hatte es kommen sehen und doch nicht verhindern können. Der Mathestoff lag ihr einfach nicht. Sie fand keinen Zugang und begriff überhaupt nichts. Selbst die Nachhilfestunden, zu denen sie gezwungen wurde, brachten sie nicht weiter. Naturwissenschaften erschlossen sich ihr nicht von allein, und da sie niemals lernte, war alles von vornherein vergebens. Mit den Sprachen war das anders. Hier hatte sie ein natürliches Talent und begriff das meiste schon während der Schulstunde, falls sie zuhörte. Auch die Vokabeln gingen ihr leicht ins Ohr und setzten sich fest. Manche brauchte sie auch gar nicht, denn sie verstand die Zusammenhänge in englischen oder französischen Texten spielend. Dasssie auch in diesen Fächern kein Überflieger war, lag daran, dass sie nur gelegentlich zuhörte und an der Tafel mitlas, aber niemals in Büchern. So schlichen sich manche Fehler ein und begleiteten sie hartnäckig. Toni selbst war das egal. Wenn ihre Eltern wüssten, wie sie ohne zu arbeiten durchkam, hätten sie direkt stolz auf sie sein können, fand Toni. Also konnte sie nicht ganz blöd sein. Aber dafür hielten sie sie wohl. Blöd und faul. Blöd war eine Beleidigung und faul mit Sicherheit zutreffend, doch sie konnten nichts an der Situation ändern, weder mit Lob noch mit Strafe. Schule interessierte Toni einfach nicht. Sie hielt sie für reine Zeitverschwendung und darüber hinaus für eine Zumutung. Ein paar Lehrer waren ganz okay, die meisten aber waren echte Stinkstiefel. Man konnte sie mit den Alten in einen Sack stecken. Nein, sie wollte nicht an ihre Zukunft denken. Sie lebte heute. Was später war, war ihr doch egal. Und heute wollte sie voltigieren, nicht erst dann, wenn ihre Noten wieder besser waren. Herrgott, begriff das denn keiner?

Enttäuscht und wütend rief sie die Seite des Forums Wege ins Lichtmeer auf und meldete sich mit ihrem Usernamen „Fabella“ an. Dann startete sie den Chat und legte zur Tarnung das Physikbuch auf den Schreibtisch. Sie sollte schließlich lernen, lachte sie in sich hinein. Morgen schrieben sie irgendetwas über Schaltkreise oder so. Sie wusste es nicht genau. Vielleicht kam auch etwas anderes dran. Auf jeden Fall hatte sie keinen Bock gehabt, mit ihren Eltern im Wohnzimmer zu sitzen. Da war „Lernen“ eine gute Ausrede, die immer zog.

Während sie noch ihren Gedanken nachhing, sah sie aus dem Fenster. Erst glaubte sie, ihren Augen nicht zu trauen, aber es schneite tatsächlich. Cool. Sie wünschte sich viel Schnee, denn dann könnte die Schule ausfallen und sie selbst ausschlafen. In einem weiteren Tab öffnete sie eine Seite über angewandte Physik, die sie mit einem Klick aufrufen konnte, wenn sie Schritte auf der Treppe hörte. Als sie wieder zum Forum zurückgelangte, sah sie, dass ihr jemand im Chat eine Privatnachricht geschrieben hatte, der sich „Lichtbringer“ nannte. Das klang geheimnisvoll. Fast schämte sie sich, dass sie hier mit dem Namen eines Pferdes unterwegs war, aber ihr war einfach nichts Besseres eingefallen.

„Suchst du das Licht?“, stand da.

„Kommt drauf an, was du damit meinst“, tippte sie.

„Die, die hier sind, leben im Dunklen. Sie suchen neue Wege.“

„Ich suche vor allem neue Eltern!“

„Leidest du unter ihnen?“

„Ja, total. Sie sind zum Kotzen. Sobald ich kann, haue ich hier ab.“

„Weißt du schon, wo du hin willst?“

„Möglichst weit weg.“

„Vielleicht suchst du einen Ort, wo du deine Ruhe vor ihnen hast?“

„Ja, ganz bestimmt.“

„Ich kenne so einen Ort.“

„Wo soll denn der sein? Wenn ich abhaue, lassen sie mich suchen.“

„Dort kann dich niemand finden ...“

„Wieso?“

„Das ist ein Geheimnis.“

„Na, toll, und wieso quatschst du mich dann voll, wenn du nichts verraten willst?“

„Noch nicht ...“

„Und wann dann?“

„Bald, wenn du das Licht wirklich suchst!“

Toni wurde etwas mulmig. Irgendwie schräg dieser Typ. So kam er ihr wenigstens vor. Sie loggte sich lieber aus. Lichtbringer ... Was sollte das sein? Brachte er das Licht der Erkenntnis? Das hatte sie schon mal im Religionsunterricht gehört. Bestimmt ein Pfaffe, der die Leute bekehren wollte. Darauf hatte sie erst recht keine Lust.

Auf Physik allerdings auch nicht. Wenn wenigstens Helma „on“ gewesen wäre.

Draußen schneite es stärker. Am liebsten würde sie jetzt so im Schlafanzug in den Schnee springen und darin barfuß herumhüpfen. Das konnte sie allerdings gleich vergessen, denn ihre Mutter würde ausrasten. So war das mit den Alten. Alles, was Spaß machte, verboten sie einem. Erlaubt waren nur diese beschissenen Pflichten. Sie hörte Schritte.

„Antonia, mach‘ jetzt bitte das Licht aus und geh‘ ins Bett. Das Lernen nützt um diese Uhrzeit auch nichts mehr, man muss schon kontinuierlich dabeibleiben. Es ist halb elf. Mach’ jetzt Schluss!“ Toni, die längst die Physikseite aufgerufen hatte und so tat, als sei sie mit Formeln beschäftigt, fühlte die Blicke ihrer Mutter im Rücken. Sie schnitt heimlich eine Grimasse und sagte gelangweilt: „Ich geh‘ ja gleich.“

Der „Lichtbringer“ hatte sofort erkannt, das „Fabella“ nicht wirklich litt, sondern nur eine verwöhnte Rotznase war. Wachsam las er den öffentlichen Chat mit und notierte sich, wer für ihn als lohnender Gesprächspartner infrage kam.