Computerrecherche
Während Wolf beschloss, seinen Kollegen Andreas Mahler in Hameln wegen Isabellas Internetaktivitäten anzurufen, brütete Niklas längst über den Chatprotokollen von Julia Schneider. Sie war tatsächlich in unterschiedlichen Foren unterwegs gewesen, besonders oft jedoch in einem das Wege ins Lichtmeer hieß. Das war kein reines Suizidforum oder es war zumindest als eine Plattform getarnt, wo sich neben Betroffenenauch Ärzte, Seelsorger und Psychotherapeuten um die seelischen Belange der User kümmerten. Er rief die Seite auf und stellte fest, dass er nicht mitlesen konnte, solange er nicht angemeldet war. Eigentlich hätte er seinen Vater zuvor darüber informieren müssen, was er jetzt vorhatte, aber er hörte, wie Wolf in seinem Büro telefonierte und entschied sich, nachher zu Hause ein gefaktes Profil zu erstellen. Er konnte es ihm irgendwann noch sagen. Als Detlef nach Feierabend seine Sachen zusammenpackte, entschloss er sich mitzufahren. Peter war noch mit dem Rechner von Günther Rinne beschäftigt und fluchte bisweilen vor sich hin. Sie winkten ihm zu, worauf er unwillig knurrte und dabei grinste: „Ja, geht ihr mal, ihr faulen Säcke. Lasst mich ruhig an diesem Freitagabend allein weiterackern.“
„Wieso, Wolf ist doch auch noch da“, sagte Detlef, „außerdem bin ich verabredet. Da sollte ich vorher wenigstens noch duschen.“
„Stimmt“, antwortete Peter und schnüffelte in die Luft, woraufhin er sich eine Kopfnuss von Detlef einfing, bevor die beiden das Büro verließen. Er würde auch bald Schluss machen, nahm er sich vor und hatte plötzlich Sehnsucht nach Nadja. Irgendwie kam er hier ohnehin nicht weiter. Günther Rinne war in so vielen Foren unterwegs gewesen, dass er sich eine Liste machen musste. Auch Partnerschaftsvermittlungen waren dabei. Dachte ein Selbstmörder überhaupt daran, sich neu zu binden? Das fragte Peter sich im Stillen. Es kam ihm höchst unwahrscheinlich vor.
In diesem Moment kam Wolf um die Ecke und schlug ihm vor, gemeinsam ein Feierabendbierchen zu trinken. Das war eine Idee, die bei Peter auf fruchtbaren Boden fiel, zumal dadurch ebenfalls erneut ein Chicken-Teller im „Minchen” in Aussicht stand. Sie fanden diesmal sofort einen Platz am Fenster und setzten sich.
„Sag mal, wollten wir uns nicht im Sportstudio anmelden?“, fragte Wolf diabolisch, nachdem Peter bestellt hatte.
„Der Fall hat uns bisher keine Zeit gelassen“, gab Peter zurück und saugte genüsslich seinen Schaum vom Bier.
Wolf nickte. „Da hast du leider recht, aber immerhin sind wir nun doch schon ein ganzes Stück weitergekommen. Ich habe eben mit Andreas gesprochen, meinem Freund und Kollegen aus Hameln, du weißt schon. Er hat sich Isabellas Laptop vorgenommen. Er hat unter anderem schockierende Anleitungen zur Selbsttötung gefunden. Sie selbst war mit mindestens drei Profilen auf mehreren Plattformen aktiv, die sich mit dem Thema Sterben befassen.“
„Arme Moni“, sagte Peter, „wie soll sie denn damit klarkommen?“
„Das weiß ich auch nicht, und ich bin mir sicher, sie wird sich schuldig fühlen, weil sie so lange keinen Kontakt zu ihrer Nichte gehabt hat.“
„Sie wusste doch gar nicht, wo die war“, wandte Peter ein.
„Schon, aber du kennst Moni ja. Sie wird sich vorwerfen, dass sie es nicht intensiv genug versucht hat, es herauszufinden“, erklärte Wolf. „Hat Niklas eigentlich den Laptop von Julia Schneider mitgenommen? Er wollte ihre Aktivitäten noch genauer unter die Lupe nehmen.“
Peter brummte zustimmend. „Der hat heute Abend viel Zeit zum Arbeiten, denn Detlef hat ein Rendezvous.“
„Schön für ihn“, sagte Wolf knapp und beendete damit das Thema. „Du, das mit den Weidenstückchen geht mir irgendwie nicht aus dem Kopf. Glaubst du an einen Besen? So als Mordwaffe meine ich ...“
„Schwer zu sagen, aber entfernt möglich“, sinnierte Peter. „In Julias Fall schon eher, falls sie auf der Brüstung des Turms gesessen hat. Dann ist es eine weiche Waffe, die auf dem Körper des Opfers keine Spuren außer ein paar abgebrochenen Zweigen verursacht. Und die sind im Wald ja nicht ungewöhnlich. Es war vielleicht nur ungeschickt, dass sich derjenige nicht darüber im Klaren war, mit welcher Baumart er es zu tun hat. Wenn der Besen aus Birkenreisern bestanden hätte, hätten wir uns überhaupt keine Gedanken über diese Fragmente gemacht. Birken stehen überall und soweit ich mich erinnere, wächst eine direkt neben dem Turm, ganz in der Nähe der Aufschlagstelle. Bei Günther wird es ähnlich sein. Nur – und da wirst du mir recht geben – Weiden sind definitiv keine Waldbäume. Daher verraten sie, dass etwas nicht stimmen kann, ohne dass der mögliche Täter überhaupt damit rechnet.“
„Wow, klasse“, entfuhr es Wolf, „ich wusste gar nicht, dass du so ein Botanikfreak bist. Wenn überhaupt, hätte ich gedacht, dass du dich im Nutztierbereich auskennst.“
Er lachte verschmitzt.
Peter zog ein gespielt beleidigtes Gesicht. „Nur weil ich Pflanzen nicht so gerne esse, kann ich doch was über sie wissen“, meckerte er leise. „Mein Opa hat mir viel beigebracht. Wir sind oft gewandert. Mit Vögeln kenne ich mich auch gut aus!“
„Schon klar“, sagte Wolf und trank von seinem Bier. „Das will ich jetzt aber nicht genauer wissen. Ich frage mich nur, was der Besen bei Günther zu bedeuten hat. Hat er ihn nur zum Spurenentfernen gebraucht?“
„Vielleicht unter anderem auch ein Tick“, schlug Peter vor und wischte sich den letzten Rest Mayonnaise vom Mund. „Wieso überhaupt ER? Könnte doch auch eine SIE gewesen sein.“
„Interessante Idee! Diese Variante haben wir überhaupt noch nicht näher beleuchtet“, gab Wolf zu, lachte dann aber.
„Könnte aber gut möglich sein, du Spaßvogel“, beharrte Peter.
„Aber wie sollte sie Günther denn da hochgekriegt haben?“, wollte Wolf wissen.
„Na, überhaupt nicht.“ Peter überlegte, ob er noch ein Bier trinken sollte.
„Geht das etwas genauer?“
„Stell dir mal vor, Günther wäre mit ihr in den Wald gegangen. Sie hatten allerlei Hilfsmittel dabei. Eine Platte, eine Leiter, ein Seil ...“
„... und einen Besen ...“, warf Wolf ein.
„Ja, und einen Besen.“ Peter nickte. „Möglicherweise hat Günther selbst nicht den Mumm gehabt und sie bezahlt. Sie schleppen also alles zum Fundort. Siehat so Überzieher über den Füßen ...“
„Größe zweiundvierzig?“, insistierte Wolf, dem wieder einfiel, dass sie dementsprechende große Fußabdrücke gefunden hatten.
„Plusminus zwei Größen, hatte Seppi gesagt“, wandte Peter ein, „und da sind wir dann schon im Bereich des Möglichen, was Damenschuhe angeht.“
„Ich war mir eigentlich ziemlich sicher, dass ich an jenem Morgen einen Mann habe vom Parkplatz wegfahren sehen. Die Gestalt bewegte sich wie ein Mann“, grübelte Wolf, „aber es könnte natürlich durchaus sein, dass der oder die vorher etwas in seinen/ihren Wagen geladen hat.“
„Wie gesagt“, fügte Peter an, „sicher machbar für beide Geschlechter.”
„Stimmt, aber spinnen wir mal weiter“, schlug Wolf vor. „Günther steht auf der Leiter oder dem Stuhl und legt sich das Seil um den Hals. Er springt aber nicht. Er zögert. Jemand stößt die Leiter weg. Er stirbt. Aber wieso hat er dann diesen Brief in der Hemdtasche?“
„Der Besen stößt die Leiter weg“, sagte Peter triumphierend. „So musste man nicht mehr in die Nähe desjenigen, den man umbringen wollte. Fazit: Günther konnte an demjenigen selbst keine Spuren hinterlassen, die ein Festhalten oder Kratzen verursacht hätten.“
„Genial“, lobte Wolf. „Wenn du mir jetzt noch sagst, was es mit dem Brief auf sich hat, schlage ich dich zur Beförderung vor.“ Er grinste. „Sonst natürlich auch.“
„Das ist schwierig. Falls uns Günther damit etwas sagen wollte, kann es nur bedeuten: Hey, hier ist was faul! Das würde aber heißen, er hat sich nicht freiwillig dort in den Wald, beziehungsweise unter den Ast begeben. Das halte ich für unwahrscheinlich.“
„Nicht freiwillig“, murmelte Wolf, den Peters Ausführungen auf eine Idee gebracht hatten. „Was, wenn diese armen Menschen nur den Ernstfall des Suizids proben wollten? So eine Art Generalprobe ohne Risiko?“
„Um sie von ihrem Vorhaben abzubringen, sie also quasi zu kurieren?“, fragte Peter. „Das wäre aber eine fiese, perfide Idee, sie genau dann umzubringen. Wie will man das je beweisen?“
„Lass uns zahlen“, schlug Wolf vor. „Ich will Thorsten Büthe nachher noch mal anrufen und ihm von unserem Brainstorming erzählen.“
Peter ließ sich den Rest seines Chicken-Tellers einpacken und kippte die Bierpfütze auf ex hinunter. Gemeinsam verließen sie das „Minchen“, doch jeder von ihnen hing seinen Gedanken nach.