Seppis Neuigkeiten
Peter war schrecklicher Laune gewesen, als er die Dienststelle betrat. Das hieß für Detlef erst einmal, ihn in Ruhe zu lassen. Als er ihm später einen Kaffee kochte, brummte Peter nur beifällig und Detlef zog sich erneut zurück. Niklas lachte und sagte mit gesenkter Stimme, dass der geschätzte Kollege wohl doch eher vom Bären als vom Neandertaler abstammte, im Gegensatz zu dem, was er immer behauptete. „Halt‘ die Klappe, Kleiner“, wollte Peter ihm am liebsten zuzischen, winkte dann aber missmutig ab.
„Was ist dem denn für ‘ne Laus über die Leber gelaufen?“, fragte Niklas leise, sodass es Peter nicht hören konnte, doch Detlef zuckte nur mit den Schultern. Die beiden konnten ja nicht ahnen, dass der Segen im Hause Kruse/Serafin an diesem Morgen schief hing. Nadja war wieder einmal lange in der Rechtsmedizin geblieben, wie so oft. Sie hatte Wolf möglichst schnell ihre Untersuchungsergebnisse bezüglich der Waldleiche mitteilen wollen. Das war im Grunde nichts Außergewöhnliches, wenn da nicht ein kleiner Störfaktor gewesen wäre. Seit Kurzem hospitierte Dr. Andreas Berner auf der Station der Rechtsmedizin. Ein groß gewachsener, graublonder Hüne mit dem stolzen Maß von 201 cm, darüber hinaus war er schlank (Peter vermutete, dass er meistens Salat aß) und außerordentlich attraktiv. So eine Art George Clooney in groß. Peter fand, dass er ein arrogantes Arschloch war. Wann immer sie aufeinander getroffen waren, hatte er ihn wie Luft behandelt.
Anfangs war das lustig gewesen, fand Nadja. Direkt reizend mit anzusehen, wie eifersüchtig Peter war, aber er beruhigte sich nicht und vermutete hinter allem, was sie in Stadthagen tat, ein trautes Stelldichein unter Medizinern. „Gelegenheit macht Liebe“, hatte er am Morgen nach einer durchwachten Nacht gewettert und bei sich „Wo ein Wille ist, ist auch ein Gebüsch“ gedacht. Die Vorstellung, Nadja in den Armen eines anderen zu sehen, marterte ihn. Mittlerweile schüttelte sie nur noch den Kopf und fand es lästig, aber dies hier am Frühstückstisch war eine Spur zu viel gewesen. Sie hatte mit der Faust auf das Holz gehauen und ihm vorgeworfen, dass er zu wenig Vertrauen in sie setzen würde. Wenn er es jetzt noch nicht kapiert hätte, dass sie ihn liebte, dann könnte sie auch ihre Taschen packen und wieder ins Höppenfeld ziehen. Die beiden Zimmer stünden jederzeit für sie bereit. Dann war sie aufgestanden, hatte ihren Rucksack an sich gerissen und war Hals über Kopf aus dem Haus geflohen.
Noch bevor sie fort war, kam sich Peter wie ein Riesenidiot vor, aber er konnte sich nicht überwinden, etwas zu sagen oder ihr gar hinterherzurufen. Hirnrissiger Dickschädel, fluchte er in sich hinein, du machst noch alles kaputt. Er durfte sich seine Gefühle nicht mehr so anmerken lassen und sollte lieber die Zähne zusammenbeißen, wenn es um diesen „Schamanen“ ging.
„Mit Peter ist heute nicht gut Kirschen essen“, raunte Detlef Wolf zu, als er ihn im Flur traf. „Dem solltest du lieber aus dem Weg gehen.“
„Was hat er denn?“, wollte Wolf wissen, aber Detlef zuckte mit den Schultern und ging weiter in Richtung Toilette. Er hatte auch keine Zeit, in diesem Moment weiter darüber nachzudenken, denn sein Smartphone klingelte und zeigte an, dass es Seppi war.
„Hallo Seppi, grüß‘ dich. Und, hast du etwas Interessantes für uns?“ Wolf schob seine Bürotür mit dem Fuß zu, hangelte sich irgendwie aus seinem Mantel und ließ sich anschließend auf seinen Schreibtischstuhl fallen.
„Morgen, Wolf“, sagte Seppi von der Spurensicherung, „ja, ein paar spannende Details habe ich für dich. Aber ich fange erst mal mit den Dingen an, die uns nicht weitergebracht haben. Das Seil zum Beispiel. Es ist nichts Besonderes, eine eher einfache Ausführung, Zubehör für Bergsteiger und nahezu überall erhältlich, wo es Outdoor- und Trekkingartikel gibt. Der Henkerknoten ist auch nichts Außergewöhnliches. Du kannst im Internet überall nachlesen, wie der richtig geknüpft wird, damit sich die Schlinge auch unweigerlich und vor allem unwiderruflich zuzieht. Jetzt zu den aufschlussreicheren Dingen. Wir haben weder am Stamm noch am baumnahen Teil des Astes irgendwelche Spuren oder DNA des Toten gefunden. Fakt ist also, dass er da nicht hochgeklettert sein kann, um sich abzuseilen.“
„Ah ja, das ist tatsächlich interessant. Schon eine Ahnung, wie er da raufgekommen ist?“, fragte Wolf.
„Fantasievolle Varianten, wie sie Peter mit den Flügeln eingefallen sind, können wir ausschließen“, schmunzelte Seppi am anderen Ende, „denn ich habe da noch was im Köcher. Du erinnerst dich an die undefinierbare Vertiefung im Boden, kaum zu erkennen?“
„Ja, das sagtest du.“
„Wir haben sie vermessen. Es sind insgesamt zwei rechteckige Flächen, die in den Boden eingedrückt sind. Eher länglich, wie von einem Brett. Das hatte ja Mimi schon vermutet. Aber jetzt kommt das Spannende. In jedem der beiden Abdrücke sind noch mal zwei eher punktförmige Vertiefungen, und damit kommen wir der Sache schon näher, zumal die Vermessung ergeben hat, dass die Verbindung dieser insgesamt vier Punkte ein Quadrat ergibt.“
„Heißt, da stand also etwas. Ein Stuhl oder eine Leiter ...“
„Ziemlich genau erfasst, Wolf! Niklas hatte vor Ort schon die Idee, doch jetzt können wir es beweisen.“
„Aber durch ein Brett hätte sich doch nichts durchgedrückt“, wandte Wolf ein.
„Es wird wohl auch keins gewesen sein. Ich tippe eher auf Automatten aus Gummi oder PVC oder Linoleum“, stimmte Seppi zu.
„Ist das nicht ein bisschen dämlich? Ich meine, wenn doch jemand etwas vertuschen will, stellt er sich dann nicht geschickter an? Ein Holzbrett hätte uns beispielsweise nichts weiter verraten.“
„Darum ging es wahrscheinlich gar nicht. Sonst hätte derjenige seine Fußspuren auch verwischt und unkenntlich gemacht. Er hat sich aber über seine Profilschuhe lediglich etwas übergezogen. Eine Plastiktüte zum Beispiel oder OP-Schutzfolien. Wir haben vage Abdrücke, manchmal halbe, weil er wohl auf dem Laminat gestanden hat. Die Größe schätzen wir so auf zweiundvierzig, plus/minus ein bis zwei Nummern.“
„Okay, du meinst also, es sollte gar kein Selbstmord vorgetäuscht werden, denn so sah es für mich jetzt zunächst aus?“, fragte Wolf. „Erinnere dich an den Abschiedsbrief.“
„Ja, den verstehe ich in diesem Zusammenhang auch nicht. Es sei denn, man ging davon aus, dass sich niemand weiter mit diesem Fall beschäftigen würde.“
„Wie wahrscheinlich ist das?“ Wolf lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
„Keine Ahnung, aber wie wäre es denn gewesen? Ohne deinen Geldfund – dazu komme ich übrigens gleich noch – hätte man sich vielleicht keine weiteren Gedanken gemacht. Ein normaler Mediziner wäre gerufen worden. Der würde vor Ort schon sagen können, dass eher kein Fremdverschulden vorliegt und gar keine Sektion anordnen. Du siehst, dass selbst die rechtsmedizinische Untersuchung niemanden weitergebracht hat. Aber wir haben den Abschiedsbrief. Wenn du uns nicht gerufen hättest, wäre der Fall womöglich als ganz normaler Suizid ad acta gelegt worden. Und wenn das Geld nicht gewesen wäre, auf dem wir Fingerabdrücke des Toten und zweier anderer Personen sichergestellt haben, hätten wir diese Querverbindung gar nicht knüpfen können.“
Wolf nickte, ohne dass Seppi es sehen konnte. „Wahrscheinlich hast du recht. Ich hatte einfach ein komisches Bauchgefühl. Und ich hatte recht, allen Unkenrufen zum Trotz. Aber jetzt lass uns mal weiterspinnen. Denkst du, dass einer Hilfe braucht, wenn er sich erhängen will?“
„Na ja, eigentlich nicht. Man würde auch meinen, dass derjenige dabei lieber allein sein wollte, oder?“, grübelte Seppi.
„Und wieso hat der Helfer die Utensilien wieder mitgenommen? Es wäre doch viel unverdächtiger gewesen, alles so zu lassen, wie es ist“, wandte Wolf ein.
„Oder er wollte auf diese Weise suggerieren, dass wir es gar nicht mit einem Selbstmord zu tun haben, sondern mit Mord ...“, dachte Seppi laut ins Unreine.
„Was ist denn das für eine abgefahrene Idee?“, lachte Wolf in den Hörer. „Wozu soll das gut sein?“
„Bei Selbstmord zahlt die Lebensversicherung manchmal nicht, je nach Vertrag!“, gab Seppi zu bedenken.
„Du meinst, er hat die sechstausend dafür bezahlt, dass jemand alles mitnahm, damit der Suizid angezweifelt wird?“ Wolf rang mit seiner Fassung.
„Das tun wir doch vor allem deswegen, oder?“
„Ich halte das trotzdem für etwas sehr weit hergeholt“, sagte Wolf, „aber ich werde das hier mal diskutieren. Hat die Untersuchung der fremden Fingerabdrücke irgendwas ergeben?“
„Leider nein, die sind erkennungsdienstlich unbekannt“, bedauerte Seppi.
„Wäre auch zu schön gewesen“, fand Wolf.
„Ach, eins noch“, sagte Seppi, „es mag nichts zu bedeuten haben, aber wir konnten aus dem Bodenmaterial unter dem Toten auch kleinste Weidenzweige isolieren.“
„Im Wald sollte das vorkommen können“, lachte Wolf.
„Schon“, antwortete Seppi etwas beleidigt, „aber im weiten Umkreis rund um die Fundstelle gibt es keine Weiden und darum wollte ich es erwähnt haben.“
„Hm ... vielleicht mit den Schuhen oder an der Kleidung mitgeschleppt“, überlegte Wolf. „Auf jeden Fall danke, dass du so gründlich bist“, sagte er, weil er das Gefühl hatte, seinen Fauxpas von eben wieder ausbügeln zu müssen. Nach Seppis Abschiedsgruß legte er auf. In dem Moment kam Peter nach einem kurzen Klopfen ins Zimmer gestürmt.
„Hast du es nicht mehr nötig, guten Morgen zu sagen, Herr Hauptkommissar?“, herrschte er ihn an.
Wolf holte kaum hörbar Luft und zählte bis zehn. Dann flüsterte er: „Du verlässt jetzt bitte augenblicklich mein Büro und kommst erst dann wieder, wenn du weißt, wie man sich seinen Mitmenschen gegenüber zu benehmen hat.“
Peter lief feuerrot an. Ob aus lauter Peinlichkeit oder vor Wut, oder aus beiden Gründen, wusste Wolf nicht. Dann stürmte er aus dem Büro, wie er hineingekommen war und schlug mit lautem Krachen die Tür zu. Das war starker Tobak. Wolf seufzte. Vielleicht hatte er etwas zu heftig reagiert, aber das konnte er sich auf der anderen Seite auch nicht bieten lassen. So ging man weder mit seinen Kollegen und schon gar nicht mit seinem Freund um. Und als solcher verstand er sich. Instinktiv fühlte er, dass bei Peter etwas gehörig aus dem Lot gekommen sein musste, aber sein Freund konnte sich nicht benehmen wie die Axt im Walde. Auch wenn es ihm schwerfiel, sich mitzuteilen oder gar um Hilfe zu bitten: Entweder lernte er es oder er begriff, dass er anderen nicht mit seinen Launen auf den Geist gehen konnte. Er beschloss, jetzt erst einmal so zu tun, als sei nichts geschehen. Nach Feierabend würde er sich Peter zur Brust nehmen und herauskitzeln, wo das eigentliche Problem lag. Vorher musste er den anderen Seppis Neuigkeiten mitteilen. Dazu wählte er Detlefs Apparat, an dem Niklas abhob, und beraumte eine Dienstbesprechung für fünfzehn Uhr an.