Die Plane
Vielleicht hatte es nichts zu sagen, dieses winzige Detail, überlegte Thorsten Büthe und starrte in den Flockenwirbel vor seinem Fenster. Auf dem Parkplatz des LKA Hannover trugen die Dächer der Fahrzeuge bereits eine Mütze aus Schnee. Er kannte dieses Foto nicht. Wie konnte das sein?, überlegte er, als er auf das ausgedruckte JPEG in der Mappe sah. Wo war es plötzlich hergekommen? Thorsten war sicher, dass er es noch nie gesehen hatte. Es zeigte das Zelt, in dem sich die drei Mädchen mit der Holzkohlenpfanne umgebracht hatten, noch bevor es geöffnet worden war. Wer hatte ein Bild davon gemacht, ohne zu wissen, was sich darin befand und warum? Im Bericht stand, dass ein Spaziergänger abseits des Weges darauf aufmerksam geworden war und nachgesehen hatte, was sich darin verbarg. Es musste schrecklich gewesen sein, denn die Jugendlichen waren zu diesem Zeitpunkt schon über dreißig Stunden tot. Der schockierte Mann hatte sofort einen Notruf abgesetzt. Seine Sätze waren unzusammenhängend gewesen, die Worte teilweise gestottert. Büthe hatte sich den aufgezeichneten Anruf mehrfach angehört und keinen Zweifel an der Echtheit seiner Reaktion gehabt. Auch sonst hatten sie keine Verbindung zwischen einem der Mädchen und dem Spaziergänger feststellen können. Die Kripo hatte das Zelt bereits geöffnet vorgefunden. Da war aus ermittlungstechnischer Sicht keine Möglichkeit mehr gegeben gewesen, ein Bild zu schießen, wie er es hier vor sich liegen sah. Denn die Plane, die über dem Igluzelt befestigt worden war, schien noch niemand berührt zu haben. Olivgrün, in Tarnfarben bedeckte sie alles. Darum war es niemandem in der Eilenriede aufgefallen. Gut, in der kühleren Jahreszeit waren ohnehin weniger Menschen unterwegs. Man hätte auch jenseits der Wanderwege im Dickicht herumstreichen müssen.
Doch wer hatte das Foto gemacht? Der Spaziergänger? Das glaubte Thorsten nicht. Aber wieso war der Mann überhaupt dorthin gelangt? Was hatte er wirklich vorgehabt an dieser einsamen Stelle? Thorsten würde ihn noch einmal befragen. Warum sollte er das versteckte Zelt fotografiert haben? Er nahm eine Lupe aus seinem Schreibtisch und sah sich das fragwürdige Detail nochmals an, das seinen Blick vorhin gestört hatte. Die Plane schien über dem Frontreißverschluss glattgezogen und unter den Eingang gesteckt worden, fixiert mit zwei Sicherheitsnadeln rechts und links. Thorsten hatte lange auf das Bild gestarrt, bis ihm einfiel, was unstimmig war. Beide Nadeln waren von außen befestigt worden. War das überhaupt möglich, wenn man schon im Inneren war? Er würde das überprüfen lassen und auch mit dem Mann noch einmal sprechen, der die Mädchen gefunden hatte. Er konnte die Sicherheitsnadeln entfernt haben. Die Herkunft dieses Bildes musste dringend geklärt werden. Hatte es jemand aus dem Ermittlerteam schon zuvor gesehen? Falls nein, wer hatte Zugang zu den Akten?
Es begann langsam zu dämmern. Die Flocken fielen jetzt dichter. Hätte es damals schon geschneit, wären die Mädchen vielleicht noch viel später gefunden worden. Dann hätte es das Surren der Fliegen, die nicht hineingelangen konnten, kaum gegeben. Es war auch so schon schlimm genug gewesen. Die Totenstarre war längst gelöst. Thorsten hatte immer noch das Bild vor Augen, wie die drei im Zelt gelegen hatten. Gerade so, als würden sie schlafen. Friedvoll fast, denn das gnädige Dämmerlicht verbarg die bleichen Gesichter, die sie als das entlarvt hätten, was sie waren: Körper am Beginn der Verwesung. Erst als die Bestatter sie aus dem Inneren trugen, fielen die blauroten Flecken auf und die vollkommene Schlaffheit der Glieder, die sie zu bizarren Schlenkerpuppen werden ließ.
Büthe seufzte und rief seine Frau an, dass er auf dem Nachhauseweg noch eine Befragung vornehmen würde. Sie solle nicht mit dem Essen auf ihn warten, bat er und wusste, dass sie es trotzdem tun würde.