Erwachen
Als Wolf am nächsten Morgen die Augen aufmachte, war er allein. Er stoppte den nervtötenden Wecker und nahm sich wieder einmal vor, einen anzuschaffen, der ihn sanfter aus dem Schlaf zurückholte. Auch ein Punkt auf seiner To-do-Liste. Er lauschte in die Stille. Einen Moment lang überlegte er, ob er nur geträumt hatte, dass Moni bei ihm gewesen war, aber ihr Duft hing noch ganz leicht in der Luft, und der Hund war nicht da. Zwei Indizien für ihre nächtliche Anwesenheit. Genüsslich räkelte er sich, dann fiel ihm das Telefonat des letzten Abends wieder ein. Er seufzte. Einerseits war er froh, dass sich das mit den merkwürdigen Mails aufgeklärt hatte, andererseits konnte er die Gedanken und Handlungen von Susanna nicht im Entferntesten nachvollziehen. Das war einfach kein normales Verhalten, wenigstens in seiner Vorstellung. Beruflich hatte er es mit dem einen oder anderen Menschen zu tun, der außerhalb begreifbarer Normen lebte. In seinem engsten Kreis war für so jemanden aber kein Platz, fand er. Hier stimmte er Susanna zu. Vielleicht war es tatsächlich das Beste gewesen, dass sie ihn allein gelassen und ihm damit ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht hatte, ohne sich mit ihr arrangieren zu müssen. Doch Niklas machte den Unterschied aus. Seine Existenz änderte alles. Wolf war die Möglichkeit genommen worden, sein Kind heranwachsen zu sehen. Das einzige, das er jemals haben würde, vermutete er. Sie hätte ihn wenigstens davon in Kenntnis setzen müssen. So hatte Susanna beiden, Vater und Sohn, über zwanzig Jahre keine Gelegenheit gegeben, sich kennenzulernen. Sie waren beide um diese Spanne des Zusammenwachsens betrogen worden. Viel zu spät hatte er davon erfahren. Und auch nur weil sie meinte, dass sie nun ihr Gewissen erleichtern wollte. Die Zeit war nicht nachzuholen. Man traf auf einen Erwachsenen, der einem völlig fremd war.
Wolf setzte sich im Bett auf und war froh, dass sie sich immerhin ganz gut verstanden. Mehr konnte man für den Anfang nicht erwarten, alles andere würde die Zukunft zeigen. Er sah, dass Moni einen Zettel auf den anderen Nachttisch gelegt hatte. Beim Strecken – er wollte an das Papier kommen, ohne aufzustehen – knackte es verdächtig in seinem Rücken. Bitte nicht, dachte er, nicht schon wieder. In seinem Alter und vor allem, weil er sportlich wenig aktiv war, sollte er solche Verrenkungen nicht machen. Der Schmerz in der Schulter mahnte ihn, doch etwas achtsamer mit seinem Körper umzugehen und ihm mehr Bewegung zu verschaffen. Wieder etwas für die Liste, dachte er und wusste, dass er jetzt erst mal eine Schmerztablette brauchen würde.
Während er Monis Zettel las, schmunzelte er dennoch, wenn er auch die Zähne zusammenbiss. Sie war einfach unvergleichlich.
Guten Morgen, Wolf, du hast noch so schön geschlafen, aber ich lag schon seit fünf Uhr wach. Da bin ich leise aus dem Zimmer geschlichen. Die Lady habe ich mitgenommen und gehe gleich mit ihr (allerdings nicht in den Wald). Alle Tiere sind gefüttert, das Katzenklo ist sauber, auch für den Wolf ist gesorgt;-) Sein Frühstück steht in der Küche. Liebe Grüße von Moni
Er war dankbar, dass es sie gab. Wie unterschiedlich Menschen sein konnten, hatte er im Vergleich mit Susanna krass vor Augen. Wie vorher die Bettdecke, schob er jetzt die Gedanken beiseite und nahm sein iPhone vom Nachtschrank. Es war noch auf lautlos gestellt und er sah, dass Nadja versucht hatte, ihn am gestrigen Abend zu erreichen. Als er den Anrufbeantworter abhörte und erfuhr, dass die Rechtsmedizinerin keine Anzeichen von Fremdeinwirkung bei dem Toten aus dem Wald gefunden hatte, meldete sich sein Bauchgefühl. Er war gespannt, ob Seppi von der Spurensicherung noch etwas Interessantes herausgefunden hatte. Er würde ihn nachher anrufen, wenn er im Büro war. Auch wenn der Körper des Erhängten nichts verriet, so hieß das noch lange nicht, dass seine Intuition falsch war.