In der Ulmenallee


Wolf war unterdessen auf der Dienststelle angekommen. So langsam spürte er seine Füße wieder, und mit der Wärme kehrte auch seine gute Laune zurück. Er hatte die Tür besiegt. Jetzt war ein neues Schloss eingebaut. Das bedeutete, dass er dieses Problem von seiner To-do-Liste streichen konnte. Hätte er den Schlüsseldienst gebraucht, wäre es ihn teuer zu stehen gekommen. Insofern hatte er richtig Geld gespart, dachte er schmunzelnd. Obwohl er sich der Milchmädchenrechnung bewusst war, freute er sich trotzdem.

Unten beim diensthabenden Beamten hatte er das Geld abgegeben, zunächst einfach als Fundsache. Alles andere war Spekulation. Er würde seine Beobachtungen aber in einem Bericht festhalten. Dann ging er nach oben. Er öffnete die Tür zum Büro und noch bevor er Detlef richtig begrüßen konnte, klingelte sein Handy. Peter war am anderen Ende.

„Hat sich schon erledigt“, sagte Wolf, noch bevor er Peter hörte.

„Was wär’s denn gewesen?“, wollte er wissen undfügte ein „Übrigens: Guten Morgen!“ an.

„Äh ja, dir auch. Nix Wichtiges“, sagte Wolf. Er hatte keine Lust, die ganze Geschichte zu erzählen.

„Er hat sich ausgesperrt“, rief Detlef von hinten, der genau wusste, wie neugierig sein Kollege war.

Wolf ignorierte den Einwurf und fragte: „Wann kommst du denn rein?“

„Gar nicht, wenn du so einsilbig bleibst“, brummte Peter und lachte dann. „Aber na ja, wenn du dich ausgesperrt hast, ist die Laune natürlich futsch. War wohl ziemlich frisch draußen, wie?“

„Eben ging’s schon wieder“, gab Wolf zurück, „aber ...“

„Dann komm‘ ich jetzt sofort und wärme dich“, frotzelte Peter und legte auf.

„Untersteh‘ dich!“ Wolf hörte nur noch ein Tuten. Die Uhr zeigte tatsächlich schon kurz nach Mittag.

Detlef grinste sich eins, obwohl ihm der spannendere Teil der Unterhaltung entgangen war. Ihm war jede Ablenkung recht. Er saß über alten Akten mit Raub und Diebstahl. Der Herbst war recht eintönig gewesen auf der Dienststelle. Immerhin hatte er es endlich geschafft, nach Bückeburg zu ziehen. Das war ein Fortschritt. So konnte er sich die lästige Fahrerei nach Nienburg und zurück sparen. Der Zufall hatte es gewollt, dass der neue Kollege Niklas Müller ebenfalls auf der Suche nach einer Wohnung war, nachdem das Gästehaus Monika, in dem er vorübergehend genächtigt hatte, abgerissen worden war. Was lag näher, als sich zusammenzutun? Es war einfach kostengünstiger, wenn man sich Bad und Küche teilte. Eine Zweizimmerwohnung, die halbwegs passabel war, kostete fast so viel wie eine Vierzimmerwohnung. Bei einem kühlen Bier im „Minchen“ beschlossen die Kollegen, eine Wohngemeinschaft zu wagen. Im Tulpenweg fanden sie sogar eine bezahlbare mit fünf Zimmern und Balkon. Sie war schön hell, zentral und frisch renoviert. Dabei kostete sie kalt nur 450 Euro. Die Aufteilung war schnell klar. Jeder bekam zwei persönliche Räume, der an den Balkon angrenzende wurde zur gemeinsamen Zone erklärt. Detlef hatte sich zunächst gewundert, dass Niklas nicht zu seinem Vater ziehen wollte. Immerhin hatten Wolf und er einige Jahre nachzuholen, da er vor Kurzem überhaupt erst von seiner Vaterschaft erfahren hatte. Doch sie waren übereingekommen, dass sie sich zwar oft sehen, aber dennoch nicht miteinander leben wollten. Wolf hatte anfänglich sehr damit gehadert, ob er nun Emils Stall zu einer Wohnung umbauen sollte. Da wäre Niklas wenigstens für sich gewesen. Glücklicherweise hatte alles eine Wendung genommen, mit der jeder zufrieden war.

Detlef lächelte, als er sah, wie sich Wolf über die Schulter seines Sohnes beugte, der ihm irgendwelche neumodischen Ermittlungstechniken am Computer erklären wollte. Er konnte sich vorstellen, dass so plötzlich gar keine Vaterfreuden aufkommen konnten, wenn man auf einmal erfuhr, dass man schon seit über zwanzig Jahren einen Sohn hatte, von dem man niemals etwas ahnte. Niklas ging es wahrscheinlich ebenso. Er sprach nicht darüber.

Wolf fühlte dennoch eine gewisse Art von Stolz, als er auf Niklas’ Bildschirm starrte. Sie waren sich immer noch ein bisschen fremd. Jahrelanges Nichtwissen um die Existenz des anderen ließ sie auch heute noch eher wie Kollegen miteinander umgehen. Eine Annäherung war nur langsam spürbar und beide schätzten, dass sie so behutsam damit umgingen und nichts erzwingen wollten.

Auch wenn Niklas seine Mutter früher oft gelöchert hatte, so hatte er doch irgendwann aufgehört, nach seinem Erzeuger zu fragen. Erst jetzt, da ihr die Metastasen wenig Zeit ließen, wollte sie ihr Kind in der Obhut des anderen Elternteils wissen. Das war verständlich, fand Wolf, es bürdete den beiden aber eine ganz neue Lebenssituation und Verantwortung auf. Gerade als ihm wieder einfiel, dass er versprochen hatte, Niklas‘ Mutter am Abend anzurufen, riss ihn dieser aus seinen Gedanken.

„Sag’ mal, hörst du mir überhaupt zu?“, fragte er.

„Entschuldige bitte“, sagte Wolf, „ich ...“ Ihm wurden jedoch weitere Erklärungen erspart, da Peter in seiner unnachahmlich einnehmenden Art den Raum betrat und rief: „Guck mal Wolf, wen ich dir hier mitgebracht habe!“