Dienstbesprechung


Nicht ein einziges Wort sagte Peter bei der Besprechung, die Wolf für fünfzehn Uhr anberaumt hatte. Er saß etwas abseits in der Ecke und grummelte vor sich hin. Wolf beobachtete ihn aus den Augenwinkeln und ignorierte sein Verhalten. Er war sicher, dass Peter trotzdem alles mitbekam und berichtete zunächst von Nadjas Untersuchungen.

Das entsprach den Erwartungen, doch das Team war überrascht, was Seppi von der Spurensicherung herausgefunden hatte. Eine Diskussion über den Sinn und Unsinn der Umstände des Suizids von Günther Rinne entbrannte unter den Kommissaren.

„Das ist doch alles völlig unlogisch“, ereiferte sich Detlef. „Wenn er aus versicherungstechnischen Gründen einen Suizid verschleiern wollte, hätte er anders vorgehen müssen. Gegen einen Baum fahren oder in den Bergen abstürzen. Irgendwas in der Art. So, dass niemand vermuten könnte, dass es kein Unfall war.“

„An so etwas glaube ich nicht“, wandte Niklas ein. „So blöd kann doch keiner sein und seinen Selbstmord beim Erhängen als Mord tarnen wollen, indem er dafür sorgt, dass einer seine Utensilien wegschafft. Mal davon abgesehen, dass, wenn keine genauere Untersuchung erfolgt wäre, jeder geglaubt hätte, er sei den Baum hochgeklettert. Dann wäre auch der Abschiedsbrief außerordentlich kontraproduktiv.“

„Was denkst du denn, wie es war?“, wollte Wolf wissen.

„Für mich ist glasklar, dass der Typ keinen Mumm hatte, es selbst zu tun und jemanden gebeten hat, ihm dabei zu assistieren oder wenigstens anwesend zu sein und die Hilfsmittel zu stellen. Die sechstausend, die du gefunden hast, waren mit Sicherheit sein Entgelt für irgendwelche Dienste“, behauptete Niklas.

„Das wäre dann beides aber nicht strafbar und wir können die Akte zuklappen“, schlug Wolf vor.

„Und wenn es doch Mord war?“, kam es dunkel aus der Ecke. „Ihr habt doch bestimmt schon die Frau befragt, ob ihr Mann den Abschiedsbrief wirklich selbst geschrieben hat.“

„Ja“, antwortete Niklas, „sie meinte, dass die Zeilen wahrscheinlich von ihm seien, war sich aber nicht ganz sicher, weil die Schrift etwas krakelig war. Wir haben den Brief und zum Vergleich andere handschriftliche Dokumente von Günther Rinne an den Experten für forensische Schriftuntersuchung in Peine übergeben und warten noch auf Antwort.“

Wolf freute sich. „Gute Arbeit, mein Junge“, entfuhr es ihm und Peter brummte wohlwollend aus seiner Ecke.

Auch Detlef schlug Niklas anerkennend auf die Schulter. „Dann können wir die Sache wenigstens beruhigt ad acta legen.”

Niemand glaubte mehr an Mord.

Die Stunde bis zum Dienstschluss schleppte sich dahin. Man war wieder mit uninteressanteren Aufgaben beschäftigt und froh, als der Feierabend endlich eingeläutet werden konnte. Wolf wartete, bis Detlef und Niklas den Raum verlassen hatten und ging zu Peter ins Büro, der es nicht eilig zu haben schien. Er starrte in seine Akten und tat so, als ob er Wolf nicht hatte kommen hören. Wolf hatte Zeit. Er wartete und spielte Kruses Spiel mit, setzte sich auf den Schreibtisch gegenüber und fixierte Peter mit seinen Augen.

„Was?“, fragte Peter irgendwann genervt.

„Das sagst du mir jetzt“, forderte Wolf. „Ich kenne dich. Wenn du so unausstehlich bist, hast du entweder Hunger oder dir ist eine Lausarmee über die Leber gelaufen.“

„Kannst du mich nicht in Ruhe lassen?“, grollte Peter.

„Nein! Schon vergessen, ich bin dein Freund?“

„Davon hab‘ ich vorhin aber nix gemerkt“, schmollte er weiter.

„Da hast du dich auch ehrlich gesagt wie ein hirnloser Vollidiot benommen.“

Wider Willen musste Peter lachen, ja, er prustete direkt und kriegte sich nicht mehr ein. Wolf starrte ihn weiter an und verstand überhaupt nicht, was seinen Freund so erheitert hatte. „Gibt es denn überhaupt welche mit Hirn?“, fragte er, als er sich halbwegs beruhigt hatte.

Ein Fragezeichen stand in Wolfs Gesicht.

„Mensch, du hast hirnloser Idiot zu mir gesagt“, schniefte Peter, dem vor Lachen noch eine Träne übers Gesicht lief.

„Ach so, ich hab‘ hirnrissiger Idiot gemeint“, sagte Wolf, der nun auch schmunzeln musste, denn so witzig war das gar nicht gewesen, aber Peter hatte wohl ein Ventil gebraucht. Seine Anspannung hatte sich wenigstens gelöst. „Komm, wir gehen ein Feierabendbier trinken und dann erzählst du mir, was los ist.“

Peter brummte, aber es klang schon viel weniger missmutig. „Ins Minchen?“, fragte er und Wolf, der ihm die Aussicht auf einen Chicken-Teller nicht verderben wollte, nickte.

Sie fuhren getrennt, da jeder seinen Wagen am nächsten Morgen brauchen würde und parkten auf dem Lidl-Parkplatz. Im „Minchen“ war es voll, aber sie erwischten zufällig einen Tisch am Fenster, weil gerade jemand gegangen war. Genüsslich lehnte sich Peter zurück. Seine Fettzellen würden nicht mehr lange unter Entzug leiden. Er hatte mit Extra-Mayo bestellt. Die Wedges und Hähnchenteile brutzelten bereits in der Fritteuse. Ihr Duft bahnte sich einen Weg in seine Nase. Als sie endlich ein frisches Bier vor sich stehen hatten, begann Wolf zu bohren.

„Nun sag‘ schon, warum du so schlecht drauf bist.“

„Ist wahrscheinlich unbegründet“, gab Peter zu und schlürfte den Schaum ab, „aber da ist dieser Lackaffe in Nadjas Team ... Sie kommt immer so spät nach Hause, und ich habe neulich gesehen, wie der sie anstiert.“

„Glaubst du ernsthaft, dass da was läuft?“, wollte Wolf wissen.

„Eigentlich nicht.“

„Ist sie denn anders zu dir als sonst?“

„Mittlerweile ist sie genervt, aber da bin ich wahrscheinlich nicht ganz unschuldig, weil ich immer wieder davon anfange. Andreas Berner, äh Verzeihung, Dr. Andreas Berner, ist ein elitärer Schmachthaken. Dürr wie nach einer Hungersnot, aber vielleicht gefällt ihr das besser.“

„Und warum hat sie dann dich geheiratet?“

„Möglicherweise hat sie gedacht, es kommt nix Besseres mehr ...“

„Du, wenn dein Selbstwertgefühl angekratzt ist, solltest du bei dir gucken und für dich selbst eine Lösung finden.“

Peter runzelte die Stirn. In seinen Augen stand ein Fragezeichen.

„Ich meine, wenn du dich zu dick oder unattraktiv findest, dann iss weniger, treib’ Sport und lass dir eine neue Frisur verpassen, andere Klamotten, irgendetwas“, schlug Wolf vor, während die Bedienung seinen Salat und Peters Chicken-Teller mit Extra-Mayo brachte.

„Du glaubst also auch, dass ich was ändern muss?“, fragte er und starrte unglücklich auf seine Wedges.

„Nein, denke ich nicht“, sagte Wolf, „aber du bist unzufrieden. Du vermutest, dass an dir etwas nicht in Ordnung ist, weswegen Nadja einen anderen Mann vorziehen könnte. Also überleg’ mal, was du anders an dir haben willst.“

„Ein bisschen weniger Gewicht wäre schon schön“, gab Peter kauend zu. „Aber wenn ich abnehme, werde ich unausstehlich.“

„Das bist du doch so auch“, sagte Wolf und schmunzelte dabei. „Es gäbe eine Alternative zum Hungern ...“

Peter verschluckte sich und musste husten. „Du meinst doch nicht etwa Sport?“

Wolf nickte.

„Hab‘ ich schon versucht, weißt du noch? Aber das Joggen gefällt mir nicht. Im Sommer geht es ja, wenn man ganz früh los kommt, aber in der kalten Jahreszeit renne ich meist keuchend durch nassen Dreck. Darauf hab‘ ich keine Lust.“

Wolf konnte sich ein Grinsen kaum verkneifen. „Auch hier habe ich eine Alternative für dich, mein Sportsfreund! Moni hat mich drauf gebracht.“

„Nein, bitte kein Yoga“, stöhnte Peter und schob sich ein paniertes Stückchen Huhn mit scharfer Soße in den Mund.

„Versprochen“, sagte Wolf, „oder ganz wie du willst. Dort ist fast alles möglich. Es gibt viele verschiedene Kurse. Wir zwei melden uns im Sportstudio an. Keine Widerrede! Zusammen ist es leichter, den inneren Schweinehund zu besiegen. Und wenn wir schön fleißig waren, können wir anschließend in die Sauna gehen.“

Peter fühlte sich, als ob eine Falle über ihm zugeschnappt war und versuchte, sich mit einem „Mal sehen ...“ zu retten, aber Wolf ließ ihn nicht entwischen.

„Hand drauf“, sagte er und streckte seine aus, „dann kommst du auch nicht mehr auf so dämliche Gedanken, weil du abends beschäftigt bist.“

Zögernd schlug Peter ein. „Aber nix zu Nadja sagen. Ich will sie überraschen. Wo wollen wir uns denn anmelden?“

„Im Relax, denn da haben wir mehrere Saunen und auch noch ein Schwimmbad dabei. Die Geräte sind auf dem neuesten Stand und wenn du willst, kannst du sogar Yoga machen. Es gibt wie gesagt diverse Kurse.“ Wolf zwinkerte ihm zu.

„Diesem Berner werde ich es schon zeigen“, flüsterte Peter über seinen leeren Teller hinweg.

„Zeig’ Nadja einfach, wie wichtig sie dir ist“, gab Wolf leise zurück, „immer und in jeder Sekunde.“

„Mach‘ ich doch“, maulte er und leerte sein Bierglas, „manchmal esse ich ihretwegen sogar Salat.“

Wolf verdrehte die Augen. Er hatte da wirklich Defizite. „Das tust du für dich, du Hornochse! Der landet doch in deinem fettverwöhnten Magen und nicht in ihrem. Wenn du was für sie tun willst, dann überrasch‘ sie doch mit einem Menü, wie sie es würde essen wollen.“

Peter verzog das Gesicht und sagte: „Ach, ich lade sie lieber zum Essen ein. Da kann sie sich aussuchen, was sie möchte.“

„Du kapierst es nicht“, stöhnte Wolf. „Essen gehen ist sicher auch eine gute Idee. Mir ging es aber jetzt darum, dass du Himmel und Hölle in Bewegung setzt, um für sie – ganz speziell für sie – eigenhändig etwas Schönes zuzubereiten. Sie wird es zu schätzen wissen, dass du dir Gedanken darüber gemacht hast, womit du sie verwöhnen könntest und wenn du das auch noch selbst zubereitest, wird sie begeistert sein.“

„Wolf, der Frauenversteher“, unkte Peter. „Hast ja mächtig viel Ahnung, aber kriegst selbst nix hin. Glaubst du, wir wissen nicht, dass da zwischen dir und Moni was läuft? Aber immer nur heimlich, ne? Im stillen Kämmerlein, weil du nicht den Arsch in der Hose hast. Bestimmt, weil sie älter ist als du. Dabei sieht sie jünger aus als du!“ Er grinste. „Brauchst nichts dazu zu sagen. Geht mich ja auch nix an. Hauptsache, ihr seid glücklich damit. Wir können schweigen.“

Wolf gedachte das jetzt nicht zu kommentieren und kam einfach zum ursprünglichen Thema zurück. „Also, soll ich uns jetzt einen Termin im Sportstudio machen? Dann lassen wir uns von einem Trainer alles zeigen, vor allem in die Geräte einweisen und schon kann’s losgehen.“

„Meinetwegen, wenn wir den Fall abgeschlossen haben“, sagte Peter und schmunzelte, dass Wolf so über das hinweggegangen war, was er gesagt hatte. Also war etwas Wahres daran. „Wollen wir dann? Ich muss noch einen Salat machen.“

Wolf grinste, legte Geld auf den Tisch und schlug seinem Freund auf die Schulter. „Du bist eingeladen, Kumpel.“

Auf der Fahrt nach Hause hing jeder seinen Gedanken nach. Peter, der manchmal aus Jux und Tollerei etwas begriffsstutzig tat, wusste auch ohne Wolfs Zuspruch im Grunde Bescheid. Er war nur momentan etwas unsicher, weil er nicht ahnen konnte, welche Rolle dieser Berner spielte und ob er es darauf anlegte, Nadja für sich gewinnen zu wollen. Aber dazu gehörten ja immer zwei. Und er hatte auch keinen Anlass, an ihrer Liebe zu zweifeln. Wenn sie heute nach Hause kommen würde, konnte sie sich auf einen ganz neuen Peter freuen. Er war voller Tatendrang. Es war gut, etwas anzupacken und nach vorn zu schauen. Dieser Berner sollte einfach keine Rolle mehr in ihrer beider Leben spielen.

Während Peter den Kühlschrank öffnete, um den Feldsalat herauszunehmen, saß Wolf noch im Auto und grübelte über die Worte seines Freundes nach. Sie hatten mitten ins Schwarze getroffen. Er schämte sich dafür. Diese Gedanken hatte er nie zulassen wollen, wenn sie ihn überkamen. Auch jetzt war er versucht, sie einfach wegzuschieben, wie Wolken, die der Wind leichthin fortblies. Und wer war er denn, dass er die verlebten Jahre beider aneinander messen und in Waagschalen legen durfte? Was war Zeit? Was spielte sie vor allem in der Liebe für eine Rolle? Fehlte sie einem da nicht ohnehin? Schöne Stunden vergingen schneller, andere krochen dahin. Konnten Menschen gleich alt sein, auch wenn sie unterschiedliche Jahre zählten, weil sie ihr Dasein mit verschiedenen Spannen schnell oder langsam verlebter Zeit verbracht hatten? Oder glich sich in der Summe immer wieder alles aus? Das Grübeln führte zu nichts, dachte er und war froh, als er auf seinen Hof fuhr, denn bei ihm brannte Licht. Moni war da. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihm aus. Er fühlte sich wohl. Es war ein anderes Nachhausekommen, wenn jemand auf einen wartete.