In Therapie


Isabella hatte sich gut in Aerzen eingelebt, wenn sie auch den Kontakt mit anderen Patienten außerhalb der Gruppenzeiten vermied. Äußerlich wirkte sie zufrieden und aufgeräumt, aber in ihr tobten Taifune. Vor der Dunkelheit hatte sie Angst. In den Nächten sah sie das Bild ihres Peinigers wie eine höhnische Fratze vor sich. Er schlug, fesselte und missbrauchte sie auf jede erdenkliche Art, die sich ihr Gehirn ausmalen konnte. Tagsüber erklärte man ihr, wie sie mit dem Trauma würde leben können, aber das war eine wohlgemeinte Theorie. Was wussten die Therapeuten schon von der Hölle gequälter Menschen? Wer konnte garantieren, dass man nie wieder Opfer wurde? Sie traute dem Leben außerhalb dieser Mauern nicht mehr. Hier war sie leidlich sicher, aber was war da draußen? Welche Schrecken lauerten auf sie? Am liebsten wollte sie sich einschließen, aber sie wusste, dass das keine Lösung war, mit der man leben konnte. Wollte sie denn überhaupt leben? Sie wusste gar nicht mehr, wie das ging. Jemand hatte das Band ihrer Lebensfähigkeit zerschnitten. Die losen Enden flatterten im Wind und hatten keinen Halt mehr. Zu Moni hatte sie gesagt, es ginge ihr gut. Von ihren vermeintlichen Plänen hatte sie ihr erzählt. Sie mochte ihre Tante und wusste, dass sie sich sonst Sorgen machte. Wie sollte sie ihr auch erklären, was in ihr vorging und dass sich manche Dinge einfach niemals reparieren ließen. Die Seele war vielleicht wie der Körper, überlegte sie. Wenn die Wunden zu groß waren, konnte sie nicht überleben, auch wenn alles andere wieder funktionstüchtig war. Sie war ein Zombie, eine lebendige Untote, in sich zerrissen und voller Angst, weil sie nicht wusste, wie sie noch ein Teil der Gesellschaft sein konnte. Darum täuschte sie alle und spielte die Rolle der genesenden Isabella. Niemand konnte hineinblicken in das Wrack, das sie war, und das war gut so. Sie wollte es so, aber sie hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte, wenn sie entlassen wurde.

Seit Kurzem war jemand in der Einrichtung, dem es vielleicht so ging wie ihr. Ein düsteres, zerstörtes Individuum, das sich nicht einmal mehr Mühe gab, mittels einer Maske die Normalität aufrechtzuerhalten. Sie fühlte sich ihm auf seltsame Art verbunden. Das Destruktive, das diese Person ausstrahlte, hatte sich wie ein Virus bei ihr eingenistet und verrichtete dort sein vernichtendes Werk. Gleichzeitig war dieser Mensch von einer faszinierenden Anziehungskraft für Isabella. Sie konnte es selbst nicht erklären. Wie ein Magnet, dem sie nicht entkommen konnte, der sie in ebenso großer Intensität abstieß wie anzog, aber nie dicht an sich heranließ und sie trotzdem manipulierte. Wie sehr, ahnte sie nicht im Entferntesten. Er pflanzte in sie den dringenden Wunsch, ihm helfen zu wollen.