Isabella
Moni war schon ganz früh, noch vor der Dämmerung wieder in die Medizinische Hochschule gegangen und hatte sich an Isabellas Bett gesetzt. So richtig viel Schlaf war ihr nicht vergönnt gewesen. Sie sorgte sich um Isabellas Zukunft, weil sie weder wusste, wie labil ihre Nichte war noch wie sich in Zukunft deren Identitätsstörung bemerkbar machen würde. Mit großer Wahrscheinlichkeit käme sie zunächst in eine geschlossene Abteilung, solange eine Selbstgefährdung bestünde, und anschließend wären mit Sicherheit langwierige Therapien notwendig. Sie fragte sich, ob man auf Dauer einen Menschen vor sich selbst beschützen konnte und musste sich eingestehen, dass sie dies für unwahrscheinlich hielt. Es gab immer Gelegenheiten, wenn einer wirklich aus dem Leben scheiden wollte. Sie sah in Isabellas blasses Gesicht und fühlte, wie die Bürde dieses Wissens auf ihr lastete. Ihre Tante zu sein, war zu einer fast unerträglichen Verantwortung geworden. Die ständige Angst würde Monis Begleiter sein. Sie wusste nicht, ob sie das durchstehen konnte.
Als Isabella später aus dem Koma geholt wurde, deutete nichts darauf hin, dass ihre Nichte eine schwer traumatisierte Frau war, die mit großer Wahrscheinlichkeit versucht hatte, sich mit einem Messer auf grausame Art das Leben zu nehmen. Klein und bleich lag sie in den Kissen und versuchte ein Lächeln.
„Tante Moni“, krächzte sie mit großer Anstrengung, weil ihr Hals so weh tat, „wieso sind wir hier im Krankenhaus? Was ist passiert?“
„Du bist verletzt. Kannst du dich nicht erinnern?“, fragte Moni.
Sie schüttelte den Kopf und Moni sandte ein Stoßgebet zum Himmel.
„Alles wird gut“, versprach Moni und hielt ihre Hand, bis sie wieder eingeschlafen war.
Als Dr. Nahimi später mit ihr sprach, erfuhr sie, dass Isabella gegen Abend nach Rinteln in die Burghofklinik verlegt werden würde, zunächst auf die geschlossene Abteilung. Dann müsste man weitersehen. Er bot Moni an, im Krankentransport mitzufahren, was sie dankend annahm.
Wolf erreichte sie endlich gegen Mittag und erzählte ihm, dass sie beide gegen Abend in Rinteln eintreffen würden. Er versprach, Moni dort abzuholen, erzählte aber nichts von den vergangenen Stunden. Das hatte Zeit, bis sie in Ruhe beieinandersaßen. Er war einfach froh, sie wiederzuhaben. Er sehnte sich nach ihr und der Geborgenheit, die er bei ihr fand. Und auch Moni spürte es ganz deutlich, als sie seine Stimme hörte. Ihr war auf einmal schmerzlich bewusst, wie sehr er ihr gefehlt hatte.