Keine Hoffnung


Berti, der nach seinem Interview bei der Sterbehilfeorganisation immer noch in schweren Grübeleien steckte, musste seiner Vermieterin Gitta trotzdem Auskunft über seine Recherchen geben. Er hätte sich lieber zurückgezogen, aber er wusste, wie sehr sie sich um ihre Tochter sorgte. Gitta öffnete ihm freudestrahlend in der Hoffnung, dass er Entwarnung geben könnte und fiel in sich zusammen, als sie erkannte, dass das nicht der Fall war. Er berichtete, dass man ihm im Studierendensekretariat keine richtige Auskunft hatte geben können oder wollen, wohl, weil er kein Angehöriger war und erzählte von Julias Zimmer in der Dorotheenstaße. Dann gab er ihr die Telefonnummer der Studienkollegin und wollte sich zurückziehen. Doch Gitta klammerte sich an ihm fest. Sie hatte zu weinen begonnen.

„Nun, nun“, sagte er und tätschelte sie wie ein krankes Pferd, „sie wird schon wieder auftauchen.“

„Wird sie nicht. Ich weiß es“, beteuerte Gitta.

„Ich schlage vor, du rufst jetzt mal diese Freundin an und dann sehen wir weiter“, schlug Berti vor.

Sie schniefte, nahm sich ein Taschentuch aus der Küchenschublade und setzte sich wieder auf die Eckbank. Mit zitternden Fingern holte sie ihr Handy aus der Hosentasche und tippte die Nummer ein, die Berti ihr gegeben hatte.

„Pronto“, sagte Emilia Niedermeier und verbesserte sich sofort, „äh Niedermeier.“

„Schneider, guten Tag“, antwortete Gitta, „bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie störe. Ich bin die Mutter von Julia und kann sie schon seit über zwei Wochen nicht erreichen. Haben Sie sie gesehen? Können Sie mir weiterhelfen? Ich mache mir Gedanken, ob es ihr gut geht.“

„Oh“, entfuhr es Emilia. „Sie war doch nach Hause gefahren. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen. Ich habe mich schon gewundert, warum niemand kommt, um ihr Zimmer zu räumen.“

„Zu räumen?“ Gitta war fassungslos. „Wieso sollte ihr Zimmer geräumt werden?“

„Sie war doch exmatrikuliert und wollte jetzt etwas anderes machen. Das Studium lag ihr nicht, hatte sie gesagt, aber ich glaube eher, sie war mit sich selbst überfordert. Seit einiger Zeit ging sie in eine Therapie. Ich dachte, Sie wüssten Bescheid“, wunderte sich Emilia. „Sie hat die wichtigsten Sachen mitgenommen und gesagt, der Rest würde bald abgeholt.“

„Davon wusste ich nichts.“ Gitta schluckte und versuchte sich zu beruhigen. „Ich danke Ihnen“, sagte sie. „Bis wann ist das Zimmer noch gemietet?“

„Bis Ende Dezember, glaube ich, aber so ganz genau weiß ich das nicht. Da müssten Sie sich mit der Hausleitung oder direkt mit dem Studentenwerk in Verbindung setzen“, erklärte Emilia mit ihrem warmen südtiroler Dialekt.

„Ja, nochmals danke. Darf ich Sie wieder anrufen, wenn ich noch eine Frage habe?“ Gitta unterdrückte ein Schluchzen.

„Gerne“, gab Emilia zurück, dann legten beide nach einer Pause ohne Worte auf. Es gab nicht mehr zu sagen.

Unter Tränen berichtete Gitta, was Emilia ihr gesagt hatte, und Berti bekam ein mulmiges Gefühl.

„War sie denn früher schon mal in Therapie?“, wollte er wissen.

„Ja, sie hat den Tod ihres Vaters damals nicht verkraftet“, erklärte Gitta, „aber ich dachte, sie sei jetzt darüber hinweg und auf einem guten Weg in ihr eigenes Leben.“

„Vielleicht ist sie das ja auch, nur eben anders als du denkst ...“, sagte Berti aufmunternd, obwohl er selbst nicht daran glaubte. „Nichtsdestotrotz solltest du die Polizei einschalten und sie suchen lassen.“

Gitta nickte. „Morgen nehme ich mir ein Taxi. Du, Berti, kannst du nicht hierbleiben und auf dem Sofa schlafen? Ich möchte jetzt nicht so gerne allein bleiben.“

„Warum willst du bis morgen warten?“, wollte Berti wissen und umging damit ihre Frage. „Du, ich habe eine Idee. Ich bringe dich eben in die Ulmenallee und fahre dann weiter. Dann kannst du dir das Taxi sparen. Ich wollte sowieso noch jemanden besuchen. Du rufst mich an, wenn du bei der Polizei fertig bist. Dann hole ich dich wieder ab.“

„Vielleicht hast du recht“, überlegte Gitta, „aber können wir nicht lieber deinen Freund von der Kripo benachrichtigen?“

„Der wird schon Feierabend haben, und außerdem weiß ich nicht, ob er der richtige Ansprechpartner ist. Ich glaube, der ist mehr für Kapitalverbrechen zuständig. Die Dienststelle ist immer besetzt.“ Berti vermied es, ihr zu sagen, dass er sowieso vorgehabt hatte, bei Wolf vorbeizufahren. Es gab mehrere Gründe dafür. Einerseits wollte er Gitta entwischen. Er hatte nämlich ein ungutes Gefühl. Die Vertraulichkeit hielt er für gefährlich. Es sollte nicht der Eindruck entstehen, dass er ihr eine Stütze war oder so etwas. Er wollte keine starke Schulter sein, an die sie sich anlehnen konnte. So eine Frau hatte er selbst schon zu Hause. Das brauchte er nicht. Er war kein Held und wollte sich auch einmal fallen lassen dürfen. Doch bei wem? Niemals kümmerte sich jemand um ihn. Es interessierte einfach keinen, wie es ihm ging. Dabei beschäftigte ihn das Thema Sterbehilfe seit dem Gespräch mit Frau Wilkening auch auf eine persönliche Weise. Es hatte ihn betroffen gemacht. Darum wollte er mit jemandem darüber sprechen. Seit er wieder in Bückeburg war, hatte er jedoch kaum Zeit gehabt, irgendwelche alten Verbindungen oder Freundschaften wieder aufleben zu lassen. Wolf war der Einzige, der ihm jetzt einfiel. Ihn hatte er wenigstens schon mal kurz getroffen. Außerdem musste er dringend bei Birte anrufen und sich einen guten Grund ausdenken, warum er sich bisher noch nicht gemeldet hatte. Er stand auf. „Wollen wir?“, fragte er Gitta, die ebenfalls in ihren Gedanken versunken zu sein schien.

Sie nickte erneut und stand etwas umständlich auf. Es wurde Zeit, dass sie endlich wieder normal gehen konnte. Ab morgen wollte sie den Plastikschuh in den Schrank verbannen, das schwor sie sich, und langsam anfangen, den Knöchel wieder zu bewegen. Nachdem sie sich ihren Wintermantel angezogen hatte und Berti kurz in seiner Wohnung gewesen war, stiegen sie in seinen Wagen. Sie schwieg bis zur Ulmenallee, und das war gut so, fand er. Bevor er weiterfuhr, winkte er ihr noch einmal zu. Sie tat ihm leid, und er wollte auch gerne helfen, aber er hatte einfach kein Interesse an ihr. Missmutig wählte er Birtes Nummer. Ja, er war wahrscheinlich eines jener Schweine, die Grönemeyer schon besungen hatte. Es tutete. Hoffentlich war sie nicht da. Es war nicht so, dass er nichts für sie empfand. Sie war eine schöne Frau. Er liebte das Nordische an ihr, das sie von ihren Vorfahren vererbt bekommen hatte. Die helle Haut, die blonden Haare und natürlich die Sommersprossen, die selbst im Winter nicht verschwanden. Anfangs war sie so fröhlich gewesen. Doch das war zunehmend in einen Zustand übergegangen, der ihn befremdete. Sie hatte Erwartungen an ihn, die er nicht erfüllen konnte. Er war frustriert, dass ihr seine Zuwendung nicht genügte und sie wiederum enttäuscht, dass er ihr nicht die Aufmerksamkeit schenkte, die sie sich ersehnte. Beide waren sie in dieser Endlosschleife gefangen gewesen, bis er die Reißleine gezogen und sich ins Weserbergland verabschiedet hatte. Vorübergehend zunächst, quasi als „Erste Hilfe“ in einer ausweglosen Situation, von der er nicht wusste, ob sie überhaupt auf einen Nenner kommen konnten. Vielleicht war es auch seine Schuld. In der ersten Verliebtheit war er völlig fixiert auf sie gewesen. Sie hatte wohl gedacht, dass das so bliebe. Jungmädchenträume, fernab der Realität waren das, fand er, und lauschte weiter dem Tuten an seinem Ohr. Birte ging nicht ran oder sie war nicht da. Er atmete auf, wartete noch einen Moment, um auf ihren Anrufbeantworter zu sprechen, doch der schaltete sich nicht ein. Er gab auf. Sie würde sehen, dass er sich gemeldet hatte.