Helmas Mutter


In der Nacht hatte sie wach gelegen. Der komische Geruch im Zimmer ihrer Tochter war ihr nicht aus dem Kopf gegangen. Er hatte sich so massiv aufgedrängt und hing jetzt immer noch in ihrer Erinnerung, aber sie konnte ihn nicht zuordnen. Trotzdem ließ er in ihrem Inneren die Alarmglocken schellen, und sie beschloss etwas zu tun, was sonst nicht ihr Stil war. Sie würde heute erst später zur Arbeit gehen. Irgendein Vorwand konnte sich erfinden lassen. Wenn Helma auf dem Weg zur Schule war, wollte sie ihr Zimmer durchsuchen.

Helma, die ihre Verletzung wie immer gut unter dem Langarmshirt verborgen trug und heute auch noch eine Jacke darüber gezogen hatte, damit der Verband nicht so auffiel, erschien in seltsamer Hochstimmung zum Frühstück. Ihr Entschluss stand fest. Sie wollte sich mit ihrem Chatpartner treffen. Derjenige, der sich selbst dort „Quelle des Glanzes“ nannte, wollte ihr einen Einblick ins Licht geben, hatte er geschrieben. Sie wusste, dass er das Jenseits meinte, aber er wollte sie nur an die Grenze zwischen Leben und Tod führen, damit sie die Pracht des Lichtes begreifen konnte. Das war aufregend und damit hatte sie sich noch für nichts entschieden. Es war nur blöd, dass sie erst am Abend wieder Kontakt mit ihm aufnehmen konnte, aber noch einen Tag Kopfschmerzen hätte sie ihrer Mutter nicht ohne weitere medizinische Konsequenzen verkaufen können. Und eins wollte sie im Moment auf keinen Fall: Zu viel Aufsehen erregen! Also setzte sie sich gut gelaunt an den Küchentisch, machte aber wie immer ein unbeteiligtes, desinteressiertes Gesicht und löffelte ihr Müsli schweigend. Ihre Eltern unterhielten sich wie gewohnt, ohne großartig Notiz von ihr zu nehmen. Mit einem kurzen „Tschüss“ verließ sie das Haus. Erst vor der Tür fiel ihr ein, dass sie eigentlich das blutige Handtuch mitgenommen haben wollte, um es auf dem Schulklo auszuwaschen. So konnte sie es auf keinen Fall in die Wäsche schmeißen und mit einer Regelblutung erklären. Wegwerfen ging auch nicht. Das würde ihre Mutter bemerken. Eswäre aufgefallen, wenn sie des Öfteren Handtücher in der Schule vergessen würde. Also war sie dazu übergegangen, das blutige Frottee noch vor Unterrichtsbeginn im Waschbecken bei der Turnhalle durchzuspülen und anschließend wieder in die Plastiktüte zu stopfen. Zu Hause trocknete sie die Handtücher heimlich nachts auf ihrer Heizung, um sie dann später einfach in die Wäsche zu werfen. Das hatte bislang gut geklappt und war nicht aufgefallen, weil sie immer darauf achtete, welche in rost, braun oder dunkelrot zu nehmen. Sie konnte jetzt schlecht zurückgehen, dachte sie. Außerdem war es fraglich, ob es sich diesmal so einfach auswaschen ließ, denn es war ziemlich viel Blut ins Handtuch gelaufen. Mit einem kurzen Achselzucken warf sie ihren Schulrucksack über und schwang sich aufs Rad. Der Schnitt im Arm zog etwas. Sie hoffte, dass er nicht wieder aufbrechen und sie verraten würde.

Helmas Vater hatte nicht weiter nachgefragt, als ihm seine Frau mitteilte, dass sie noch etwas im Haushalt erledigen wollte und später in die Apotheke nachkommen würde. Das kam gelegentlich vor. Als er weg war, ging sie in das Zimmer ihrer Tochter und schnupperte. Wenn überhaupt, lag nur noch ein Hauch des Duftes in der Luft und er schien sich auch etwas verändert zu haben. Plötzlich wusste sie, womit sie es zu tun hatte: Blut! Vorsichtig zog sie die Schubladen von Kommode und Schreibtisch auf und suchte. In der Hängegarderobe des Schrankes wurde sie fündig. Auf dem Boden lag hinter alten Socken und verschimmelten Brotdosen eine Plastiktüte. Sie zog sie heraus und öffnete sie. Nur mühsam konnte sie den Würgereiz unterdrücken, der nicht nur aus dem Geruch resultierte, sondern eher aus der Vorstellung, wo das Blut wohl hergekommen war. Sofort dachte sie an einen Abort oder eine heimliche Abtreibung, verwarf den Gedanken aber wieder, weil sie nicht glaubte, dass Helma schon so weit war. Wenn sie sich einfach nur verletzt hätte, dann würde es allerdings keinen Grund geben, das Blut zu verstecken, dachte sie und suchte weiter. Im anderen Teil des Schrankes fand sie das Verbandsmaterial und wurde stutzig. Wieso bewahrte Helma acht elastische Mullbinden und diverse sterile ES-Kompressen mit einer entzündungshemmenden Salbe auf? Sie fand auch noch weißes Pflastervlies und einen selbstklebenden Verband. Das machte doch nur jemand, der darauf vorbereitet war, dass sich ein anderer verletzen könnte, oder der selbst Vorsorge für eigene Wunden traf. Wie ein Blitz fuhr ihr der Schreck in die Glieder. Plötzlich glaubte sie zu wissen, was hier los war. Ihre Tochter brachte sich selbst Verletzungen bei und niemand hatte bisher etwas bemerkt. Unglaublich. Sie suchte weiter in der Hoffnung, noch mehr Beweise für ihre Vermutung zu finden. Helma wäre ausgerastet, wenn sie geahnt hätte, dass ihre Mutter jetzt auch noch den Laptop aufklappte. Er war durch ein Passwort gesichert. Nach zwei vergeblichen Versuchen, gab sie den Begriff „Merlin“ ein und atmete auf. Sie war drin und öffnete den Mailordner. Nach einer Viertelstunde wusste sie drei Dinge. Erstens, dass sie ihre Tochter überhaupt nicht kannte. Ein fremdes Wesen wohnte da im Haus, das nichts mit dem Menschen zu tun hatte, den sie jetzt aus den Mails kennenlernte. Als Zweites erfuhr sie, wie sehr ihre Tochter unter dem Verlust ihres Hundes und ihren familiären Umständen litt und drittens, dass sie sich schon über einen längeren Zeitraum ritzte. Das war ein schwerer Schock. Jutta Schrader musste sich setzen. Sie brauchte eine ganze Weile, bis sie sich wieder gesammelt hatte. Dann rief sie ihren Mann an, dass es ihr nicht gut ginge und dass er heute auf sie verzichten musste. Sie wollte nachdenken. Ihren Ludwig konntesie nicht mit in diese Überlegungen einbeziehen. Er hätte sofort und direkt reagiert. Ihre Tochter wäre von Medizinern zu Psychologen weitergereicht worden. Sie aber spürte, dass es jetzt ganz entscheidend war, Helma auf eine Art zu helfen, die sie annehmen konnte, ohne entlarvt zu werden oder die Folgen ihres selbstverletzenden Verhaltens ertragen zu müssen.

Tief in sich fühlte Jutta eine Schuld. Natürlich war das Geschäft wichtig. Eine Apotheke zu haben, bedeutete für die Inhaber vollen Einsatz, sonst stiegen die Personalkosten ins Unermessliche, aber vielleicht war Helma darüber zu kurz gekommen. Das häufige Alleinsein, der Druck in der Schule, den sie mit Ludwig noch dadurch verstärkt hatte, dass sie ihre Tochter fördern wollten, und letztlich der Verlust ihres vierbeinigen Freundes hatten wohl dazu geführt, dass Helma in ein immer tieferes Loch gerutscht war. Nun wusste sie keinen Ausweg mehr. In den Mails hatte Jutta gelesen, was die Tochter über ihre Eltern dachte. Sie fühlte sich nicht mehr geliebt, völlig unverstanden und kontrolliert. Aus einer Passage hatte sie sogar eine Andeutung herausgelesen, die sie kaum fassen konnte. Zumindest der Gedanke an einen Suizid hatte bei Helma im Raum gestanden. Jutta fühlte eine innere Panik, die sie umso ruhiger machte, je länger sie darüber nachdachte. Es war wichtig, jetzt besonnen zu reagieren, aber es war ebenso entscheidend, das Richtige zu tun. Doch was war das?

Als sie Outlook beendete, sah sie, dass Helma auf ihrem Desktop lauter Bilder von Merlin hatte. Auch an der Wand hingen welche. Mit Jungen hatte sie wohl wirklich noch nichts im Sinn, dachte Jutta und da kam ihr eine Idee. Wenn Helma Verantwortung für einen Welpen übernehmen würde, wäre die Gefahr eines Selbstmordes fürs Erste gebannt. Das wusste sie genau. Eigentlich hatten sie keinen Hund mehr gewollt, denn Helma würde irgendwann aus dem Haus sein und der Vierbeiner bliebe an ihnen selbst hängen, aber sie sah es als die einzige Chance an, sofort eine Veränderung der Situation herbeizuführen. Vorsichtig brachte sie alles in Helmas Zimmer wieder an den alten Platz, schloss die Tür und legte sich aufs Sofa. Sie war erschöpft von der schlaflosen Nacht und dem Vormittag, der ihr Erkenntnisse und Neuigkeiten gebracht hatte, auf die sie gerne verzichtet hätte. Aber sie war doch froh, dass sie nun wusste, was in ihrer Tochter vorging, denn jetzt konnte sie reagieren.

Noch bevor sie einschlief, rief sie im Bückeburger Tierheim an und fragte nach einem Welpen. Dort erfuhr sie, dass es einen etwa sieben Monate alten Jungrüden gäbe, wahrscheinlich ein Mix aus Pudel und Golden Retriever in schwarz und wuschelig, der von seinen Besitzern abgegeben worden sei. Sie bedankte sich für die Information, klärte alle wichtigen Details und beschloss, den kleinen Kerl am Nachmittag gemeinsam mit Helma zu besuchen.