Birtes Einsamkeit
Birte vermisste ihn trotz allem. Sie fragte sich, wie es nur so weit hatte kommen können mit ihnen beiden. Jetzt saß sie allein in dieser viel zu großen Wohnung voller Erinnerungen in der Gewissheit, dass sie damit klarkommen musste. Sie hätten beide darin alt werden sollen, nicht nur sie allein. Die hier bei Vater auf dem Hof war ein echter Glücksfall. Und doch kroch plötzlich aus allen Ecken die Einsamkeit. Alles war mit Berti verwoben. Das Sofa, auf dem sie sich gerne geküsst und so manches Schäferstündchen bei Kerzenschein verbracht hatten, die Fotos an der Wand, ja selbst die Eckbank in der Wohnküche, die er so scheußlich fand, oder der Badezimmerspiegel, der neuerdings viel zu wenig Zahnpastaspritzer aufwies. Sie hatte sogar seine Schrulligkeiten lieb gewonnen, aber er störte sich wohl an den ihren, vermutete sie. Daran war wenig zu ändern. Er hatte erst einmal kaum etwas mitgenommen in sein neues Leben dort in Bückeburg. Als Wohnung könne man es kaum bezeichnen, hatte Berti gesagt, eher als eine Abstellkammer mit Kochnische und Bad in der umgebauten Scheune eines Bauernhauses. Sie war üblicherweise an Blindow-Schüler vermietet und früher von der Tochter des Hauses bewohnt worden. Besser als nichts, fand er. Sie aber dachte, dass das alles nicht nötig geworden wäre, wenn sie etwas achtsamer mit ihrer Partnerschaft umgegangen wären. Ja, es war zuletzt nicht einfach mit ihr gewesen, aber sie hatte sich doch bemüht, etwas an dieser Situation zu ändern. Sie hatte sich Hilfe geholt, weil sie verstanden hatte, dass sie ihre Ängste und quälenden Gedanken sonst nicht in den Griff bekommen konnte. Doch er hatte sie im Stich gelassen. So fühlte sie sich jedenfalls. Allein mit diesen Spiralen des Denkens, aus denen sie selbst nicht herauskam. Sie wusste, was sie ihm zwischenzeitlich zugemutet hatte, aber ihr Verständnis von einer Partnerschaft war, dass man auch dann zum anderen hielt, wenn es schwierig wurde. Ihrer Meinung nach hatte er viel zu schnell das Handtuch geworfen und in ihrem Innersten wusste sie, dass er nicht zurückkehren würde, falls nicht etwas geschah, das ihn läuterte. War es denn so wenig wert, wenn man zusammenhielt? Er machte es sich leicht und war geflohen. Sie war dazu verdammt hierzubleiben, schon ihres Vaters wegen. Der alte, knorrige Kauz ließ niemanden außer ihr an sich heran und wurde zunehmend hinfälliger.
Berti hatte von einer Auszeit gesprochen, aber sie fürchtete, dass er sich seinen Abgang von ihrer gemeinsamen Bühne nur leichter machen wollte. Hatte sie überhaupt ernsthaft Hoffnung gehabt? Sie wusste es nicht. An dunklen Tagen sah sie ihren Weg klar vor sich. Er würde nicht zurückkehren, Vaters Tage waren gezählt ... Dann hatte sie nur noch diese eine Sehnsucht: Sich mit dem Meer zu vereinen. Eine Wattwanderung bei Sonnenuntergang, von der sie niemals zurückkehren würde. An guten Tagen vertraute sie fast darauf, ihn wieder für sich gewinnen zu können und fragte sich gleichzeitig, ob sie sich selbst damit betrog. Doch der kleine Funken Hoffnung auf seine Rückkehr zu ihr war stärker. Dann träumte sie von einer kleinen Insel im Meer, auf der nur sie beide lebten oder zumindest von einem gemeinsamen Leben auf dem Hof, der einmal ihrem Bruder Holger und ihr gehören würde. Der Kontakt zu ihm war lange abgebrochen. Nicht aus bösem Willen. Es fiel ihr schwer, Beziehungen zu Menschen aufrecht zu erhalten, zu telefonieren, sich zu treffen. Im Grunde ihres Herzens war sie ein Eremit und litt gleichzeitig darunter, einer zu sein. Nur Berti mit seiner sonnigen Art war eine Ausnahme gewesen. Darüber hinaus war und blieb sie menschenscheu. So war auch die Geschwisterbeziehung im Sande verlaufen, und da Holger sich mit Vater nicht verstand, hatte sie ihn seit Jahren nicht gesehen. Wenn sie einmal weg wäre, würde er sie auf keinen Fall vermissen. Was für ein komisches Leben, wenn der einzige Mensch auf der Welt der eigene, debile Vater war, dem man fehlen würde und das auch nur, weil er einen brauchte. Sie warf ihm das nicht vor. Wie sollte sie auch? Er war ihr viel zu ähnlich. Das, was sie für ihn sorgen ließ, war das reine Verantwortungsgefühl, sonst nichts.
Objektiv hätte sie sich selbst eine Bindungsangst attestiert, bis Berti gekommen war. Mit ihm hatte es funktioniert. Eine Zeitlang wenigstens.