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Evelyn lächelte, als das junge Mädchen auf die Theke zukam, ihre Miene ein Spiegel ihrer Nerven, ihrer Angst und Vorfreude. »Haben Sie die Formulare ausgefüllt?«, fragte sie.

Das Mädchen nickte und reichte die Blätter mit zitternder Hand über die Empfangstheke.

»Prima. Dann warten Sie hier und bereiten Sie sich darauf vor, das unglaublichste, wahnsinnigste und gewaltigste Abenteuer Ihres Lebens zu erleben.«

Während Evelyn auf James wartete, der das Mädchen zu ihrer ersten Theoriestunde mit Trockentraining abholen sollte, betrachtete sie die neue Schülerin genauer. Das Gesicht kam ihr irgendwie bekannt vor. Sie warf einen Blick auf den Namen auf dem Formular.

Tania Stevens.

Das Mädchen musterte sie besorgt. »Stimmt was nicht? Habe ich das falsch ausgefüllt?«, erkundigte sie sich.

»Keineswegs. Aber ich habe Sie jetzt erst erkannt. Sie sind mit meinen beiden Söhnen zur Schule gegangen. Andrew und James McGavin.«

Die Augen des Mädchens wurden groß. Evelyn hatte nicht geglaubt, dass ihre ausdrucksvolle Mimik noch steigerungsfähig war.

»Mrs McGavin! Ich wusste nicht … Dieser Anruf nach dem … ehm, dem Tod von Andy tut mir leid. Ich habe mich idiotisch benommen. Wusste nicht, was ich sagen sollte. Aber Andy und James waren so tolle Jungs. Ich meine, sind es bestimmt noch! Ich meine … James ist es bestimmt noch. Andy ist ja tot. Ich meine, das heißt nicht, dass er nicht auch großartig war … und ist. Aber er lebt eben nicht mehr und das …«

»Tania!«, unterbrach Evelyn sie.

»Ja.«

»Sie tun es schon wieder.«

»Ich weiß. Keine Ahnung, warum ich mich immer so verhasple. Aber da ich Sie schon mal treffe, möchte ich etwas fragen. Und wenn ich das jetzt nicht tue, dann tue ich es nie. Ich hatte noch einen Grund, weshalb ich Sie damals angerufen habe. Ich hatte gehofft … James wiederzusehen. Ich meine, zu diesem Zeitpunkt wollte ich einfach wissen, was er so macht. Aber ich möchte ihn wirklich gern wiedersehen … also … einfach nur so. Meinen Sie, Sie könnten das arrangieren?«

Evelyn zuckte mit den Schultern. »Natürlich. Warum nicht?« Sie hielt inne und fügte dann hinzu: »Ihr Wunsch wird sich in ungefähr … drei Sekunden erfüllen.«

Tania sah sie verwirrt an. Dann wurde sie starr vor Schreck, als James aus dem Belegschaftsraum trat und auf sie zukam.

»Er hilft an den Wochenenden hier aus«, erklärte Evelyn.

»Tania!«, rief James, als er die junge Frau erkannte. »He, schön, dich wiederzusehen!«

»Ich gehe jetzt, James. Bitte vergiss die Geburtstagsparty der Zwillinge am Wochenende nicht, okay? Also keine Sprünge an diesem Tag. Verstanden?«

»Klar doch, Mum. Wir sehen uns später«, rief er ihr hinterher und führte Tania zur Rückseite des Gebäudes, um mit ihrem ersten Trockentraining zu beginnen.

Evelyn nahm ihre Handtasche und ging zu ihrem Wagen. Sie blieb kurz stehen und sah zum Hangar von SkyChallenge zurück. Noch vor einem Jahr hätte sie sich nicht vorstellen können, hier die Geschäfte zu führen. Ein weiteres Wunder war, dass James es genoss, an den Wochenenden als Fallschirmspringerlehrer aushelfen zu dürfen.

Evelyn hatte damals im vergangenen Jahr Bazza zuerst missverstanden, als er ihr antrug, eine Partnerschaft mit seinem Chef Jack in Erwägung zu ziehen. Sie hatte gedacht, er wolle sie mit Jack verkuppeln. Aber dann hatte er ihr klargemacht, dass Jack einen Partner suchte, der die Firma mit ihm zusammen führen sollte.

»Ach, diese Art Partnerschaft meinen Sie«, hatte sie damals geantwortet.

»McGavin! Sie haben doch wohl nicht angenommen, dass ich Sie mit meinem geschiedenen Boss verkuppeln wollte, der sechzig ist, in seiner Freizeit gern Karten spielt und ein Strandhaus in Thailand besitzt!« Bazzas Entrüstung hatte seltsam überzeugend geklungen.

Evelyn und Belinda saßen im Schneidersitz auf dem Teppichboden zu beiden Seiten von Evelyns Couchtisch. Die Ältere markierte einzelne Zeilen auf einer Liste, während die Jüngere die Arme über den Kopf reckte.

»Das hätten wir. Aber so viel benötigen wir für den Zwillingsgeburtstag von Einjährigen wirklich nicht, oder?«

»Wir sollten für alles gewappnet sein, Belinda. Samstag muss die Sache wie am Schnürchen klappen.«

Belinda lächelte. »Ist dir klar, dass sich die Mädchen später nicht mal mehr daran erinnern werden?«

Evelyn machte den Mund auf, um etwas zu entgegnen, wurde jedoch durch das Schrillen der Türglocke unterbrochen. »Merk dir diesen Gedanken«, sagte sie, bevor sie aufstand und hinausging, um die Tür zu öffnen.

Evelyn kam zurück, gefolgt von einer sehr jungen blonden Frau, die ein Kleinkind fest an der Hand hielt. Der Junge trug einen hellroten Overall, drückte sich eng an die Mutter und lutschte intensiv an seinem Daumen.

»Belinda – das ist Lara. Offenbar ist sie an jenem Tag im Supermarkt gewesen und war dabei, als Andrew ums Leben gekommen ist. Sie möchte uns etwas Wichtiges mitteilen. Lara, darf ich Ihnen Belinda vorstellen? Sie ist mit meinem Sohn verlobt gewesen.« Evelyns Stimme klang etwas angestrengt.

Belinda runzelte verwirrt die Stirn, stand jedoch auf und schüttelte Lara die Hand. Lara setzte sich auf die Couch und zog ihren kleinen Sohn auf den Schoß. Es verstrichen einige Momente, ohne dass jemand etwas sagte. Laras Kinn berührte leicht den Kopf des Kindes. Evelyn und Belinda sahen sie abwartend an. Schließlich ergriff sie das Wort.

»Ich habe lange gebraucht, um zu verarbeiten, was an jenem Tag geschehen ist. Und es fällt mir noch immer schwer, darüber zu sprechen. Allerdings habe ich nie erfahren, inwieweit Sie von der Polizei über die Vorgänge informiert worden sind. Ich finde es wichtig, dass Sie die Wahrheit erfahren.« Ihre Stimme klang unsicher, und sie vermied den direkten Augenkontakt mit Evelyn und Belinda. Die beiden hatten den Eindruck, dass sie sich lange und genau überlegt hatte, was sie sagen und dass sie die Angelegenheit so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte. Lara holte tief Luft und fuhr dann fort.

»Der Junge, der Ihren Sohn erschossen hat … Ihren Verlobten … also, er wollte mir mein Kind wegnehmen.« Sie zog den kleinen Jungen enger an sich. »Er war damals gerade drei Monate alt. Ein hilfloses Baby. Und dieses Monster wollte ihm etwas antun … ihn vielleicht umbringen … nur weil er immerzu geweint hat, nur weil …« Sie verstummte. Die Erinnerung drohte sie zu überwältigen.

Belinda schluckte, nickte ihr aufmunternd zu. Sie brachte kein Wort heraus. Evelyn stand nur bewegungslos mit starrer Miene da und wartete. Lara atmete erneut tief ein und aus. Dann fuhr sie fort.

»Ihr Sohn Andrew musste sterben, weil er sich eingemischt hat. Dieser Kerl … der Junkie – er hat mir mit seiner Pistole ins Gesicht geschlagen. Zachs Schreien und Wimmern hat ihn offenbar um den Verstand gebracht. Er wollte ihn mir gerade entreißen, als Andrew sich auf ihn stürzte, versuchte, ihn von mir wegzustoßen, ihn zu Boden zu reißen. Er hat nicht an sich gedacht – nur an mein Baby – wollte es in Sicherheit bringen.«

Lara hob schließlich den Blick und sah Evelyn und Belinda an. »Er war ein Held. Er ist für mein Baby gestorben. Er hat es gerettet. Und ich weiß, dass es kein Trost für Sie beide sein kann. Ich weiß, dass ihn das nicht zurückbringt. Aber ich dachte, dass Sie das wenigstens erfahren sollten.« Nachdem sie das gesagt hatte, stand sie auf, hob den kleinen Jungen auf den Arm und ging.

Belinda und Evelyn sprachen gute fünf Minuten lang kein Wort. Schließlich brach Belinda das Schweigen.

»Hast du das gewusst?«, fragte sie kleinlaut.

»Nein«, erwiderte Evelyn heiser.

»Er war wirklich ein erstaunlicher Mensch, was meinst du?«

»Ja, das war er. Das war er.«

Belinda hastete von einem Picknicktisch zum anderen und versuchte verzweifelt, die Tischdecken festzuhalten.

»Zu windig!«, stöhnte sie. Die Aufgabe war für eine Person allein nicht zu bewältigen. Und dann noch die Kuchen? Wie sollten die Geburtstagskerzen dem Wind standhalten?

»Brauchst du Hilfe?«, fragte eine Stimme hinter ihr.

Sie versuchte gerade eine Tischdecke an den Ecken mit Klebestreifen zu befestigen, sah auf und lächelte. »Baz, Gott sei Dank, dass du endlich da bist. Haben die Mädchen ihren Mittagsschlaf gemacht? Sie sollen bei ihrer Feier schließlich gut gelaunt sein. Und hast du an die Kamera gedacht? Und die Brötchen? Ich habe ganz vergessen, dir zu sagen, dass sie auf der Küchentheke liegen!«

»Immer mit der Ruhe. Die Mädchen haben über zwei Stunden geschlafen. Ich dachte schon, ich muss sie aufwecken. Stacey und Shanks holen sie gerade aus dem Auto. Ich habe die Kamera, ich habe die Brötchen, und Ev holt auf dem Weg die Hühnchen ab. Wir haben alles unter Kontrolle.«

Belinda atmete kurz auf, dann erfasste sie erneut Panik. »Was mache ich nur, wenn meine Eltern nicht rechtzeitig kommen? Ist eine lange Fahrt von Wahdoonga. Und sie sind nie in diesem Park gewesen. Was, wenn sie sich verfahren?«

»Deine Mutter hat mich vor zehn Minuten angerufen. Sie müssten jeden Augenblick hier sein. Glaub mir, es wird alles perfekt werden.«

Die Party war ein Desaster.

Die Kinder aus Belindas Krabbelgruppe versuchten immer wieder, die Kieselsteine aus dem Steingarten in den Mund zu stecken. Violets Tochter und Bazzas Nichte Sophie gerieten aneinander, weil sie dasselbe Kleid trugen. Und die Plastikbecher und Papierteller wirbelten durch die Luft, sobald der Wind auffrischte.

Aber es passierten eben die Dinge, die auf einer Zwillingsgeburtstagsparty von Einjährigen passieren mussten. Sie nahmen alles, wie es kam. Später würden die Missgeschicke vergessen sein. Belinda blieb in Erinnerung, wie sie Evelyns Geschäftspartner Jack vorgestellt wurde und Evelyn leicht errötete, als sie von der »Geschäftsreise« erzählten, die sie zusammen nach Thailand unternehmen wollten.

In Erinnerung blieb, wie ihr Vater sie umarmt und ihr gesagt hatte, wie stolz er auf sie sei und wie sehr er sie dafür bewundere, dass sie bereits im nächsten Semester ihr Studium wiederaufnehmen und ihr Examen machen wollte. Sie erinnerte sich an James, der ihr zuflüsterte, dass er seit vergangener Woche für ein Mädchen namens Tania schwärme, sich mit ihr verabredet habe, sie das heißeste Mädchen von Hunters Hill High gewesen sei, und auch wenn Andrew sie zuerst geküsst habe, könne er das vergessen, denn sie habe eigentlich immer nur ihn verehrt.

Belinda erinnerte sich, wie Bazza Stacey stolz von seinem neuen Job als Schulpsychologe an der Belmore High erzählte und Stacey ihm prompt offenbarte, dass sie dank des Internets wohl etwas mehr von Psychologie verstünde als er und sie ihm gern einige Tipps geben würde. In Erinnerung blieb, wie ihre Mutter zu ihr sagte: »Ich mag Bazza. Und er hat einen so schönen Namen, findest du nicht?« Sie erinnerte sich, wie Evelyn und Violet nebeneinandergesessen und wie Schulmädchen gekichert hatten, als sie über die Süßigkeitentüten stritten, und wie sie dabei gedacht hatte: Hoffentlich bleiben sich meine Mädchen einmal so nahe wie die beiden.

Aber am deutlichsten in Erinnerung blieben ihr die verzückten, glücklichen Gesichter ihrer Mädchen, als sie auf ihrem Schoß saßen, während alle anderen »Happy Birthday« für sie sangen.

Und dann beugte sich Andi vor und patschte mit ihrer Hand in die Mitte einer kleinen Torte, und Isabelle nieste auf die andere, und alle lachten. Und Belinda hob den Blick und sah Bazza und dachte: Das Leben ist schön. Auch wenn ein Teil von ihr Andy immer vermissen würde, wusste sie doch, dass er ihr das Glück gegönnt hätte. Wie sollte es auch anders sein? Wenn man Stacey glaubte, hatte er doch alles arrangiert.