19
In der Woche nach der Geburt der Zwillinge kämpfte Bazza mit sich, ob er Belinda in ihrem Apartment besuchen sollte. Allerdings wusste er nicht einmal, ob sie schon aus der Klinik entlassen und nach Hause gekommen war. Wieder einmal war alles in der Schwebe. Er hatte weder eine Ahnung, welche Gefühle sie ihm gegenüber hegte, noch war er sich im Klaren darüber, wie er sich verhalten sollte. Hatte er sich nur eingebildet, dass da etwas zwischen ihnen war?
Die Frage nach ihrer Heimkehr erledigte sich am darauffolgenden Tag. Als er im Parterre in den Lift stieg, stand sie dort, in der Hand einen Blumenstrauß und mehrere Luftballons mit der Aufschrift »Es ist ein Mädchen!«. Sie sah blass und müde aus und hatte das dunkle Haar zu einem kurzen Pferdeschwanz im Nacken zusammengebunden. Und doch war sie so schön wie eh und je.
»Hallo!«, grüßte er sie und verstummte sofort verlegen. Er kam sich ziemlich dämlich vor. Du benimmst dich wie ein Idiot. Reiß dich zusammen.
»Komme gerade aus der Klinik«, sagte sie und deutete mit dem Kinn auf die Ballons. »Die sind vom Klinikpersonal … sieht man, was?«
»Klar doch«, antwortete er. Jetzt sag doch was Intelligentes! »Und wo sind die Zwillinge?«, erkundigte er sich und war froh, einen Anknüpfungspunkt für eine Unterhaltung gefunden zu haben.
»Die sind schon oben. Mit Stacey. Offenbar ist es meiner Genesung zuträglich, zwischen Wohnung und Parkhaus hin und her zu gehen, um alles auszuladen, während sie sich um die Babys kümmert.« Belinda lächelte trocken.
»Brauchst du Hilfe?«, erkundigte er sich hoffnungsvoll.
»Nein danke. Das war die letzte Tour.«
Die Lifttür öffnete sich im zweiten Stock, und Bazza zögerte auszusteigen. »Hat mich gefreut, dich zu sehen«, brachte er schließlich heraus.
»Ja, mich auch«, erwiderte sie mit einem schwachen Lächeln.
Die Tür begann sich hinter ihm wieder zu schließen, als er sich herumdrehte und den Arm ausstreckte, um sie aufzuhalten. »Belinda, hör mal! Sag mir bitte Bescheid, wenn ich etwas für dich tun kann, ja? Jederzeit … auch mitten in der Nacht … wenn die Babys sich nicht beruhigen lassen oder so. Ich bin immer für dich da. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?« Er hoffte, dass sie merkte, wie ehrlich das gemeint war.
»Ja, ist angekommen«, erwiderte sie.
Die Lifttür ging zu, und Bazza hastete zu seiner Wohnung.
War das deutlich genug gewesen?, fragte er sich, als er die Wohnungstür aufschloss.
Belinda legte den Blumenstrauß auf den Couchtisch und ließ die Luftballons los und zur Decke steigen. Dann warf sie sich mit einem Seufzer auf die Couch. Großer Gott, was würde ich jetzt für zwölf Stunden ungestörten Schlaf geben!
»Was ist los? Was hast du?« Stacey stand vor ihr, die Hände in die Taille gestützt. »Hast du eine postnatale Depression? Ich wusste, dass du der Typ dafür bist. Warte, ich sehe gleich mal nach!« Damit eilte sie zum Computer, um den Begriff zu googeln.
»Bleib auf dem Teppich, Stacey. Ich bin nicht deprimiert. Ich habe nur geseufzt. Schließlich geht mir viel durch den Kopf, und ich bin todmüde.«
»Was denn? Was geht dir durch den Kopf? Ist es wegen James? Du hast mir noch nicht gesagt, was ihr in der Klinik besprochen habt. Oder sind es deine Eltern? Drängen sie dich wieder, auf die Farm zurückzukommen? Oder ist es Evelyn? Was ist los? Rede mit mir!«
»Hör auf! Mir schwirrt der Kopf. Du machst alles nur noch schlimmer. Nein, es ist nichts von alledem, okay? Mit James ist alles in Ordnung, Mum hat akzeptiert, dass ich nicht zurück auf die Farm komme, und Evelyn benimmt sich vorbildlich. Aber warte! Da kommt mir eine Idee. Warum ruhen wir beide uns nicht aus, während die Babys schlafen? Ich habe das Gefühl, eines könnte jede Sekunde wieder aufwachen.«
Stacey schien unzufrieden mit Belindas Antwort, sank jedoch neben ihr auf die Couch und war im nächsten Moment tief und fest eingeschlafen.
»Du meine Güte, wenn ich nur so einfach einschlafen könnte«, murmelte Belinda.
Sie schloss die Augen und dachte über die vergangenen Tage nach. Sie dachte an Stacey, die hartnäckig die Theorie vertrat, Andy habe ihr Bazza geschickt. Sie hielt die SMS für einen unumstößlichen Beweis. Sie hatte sich bei Google über übernatürliche Phänomene informiert und entdeckt, dass die Verbindung zwischen Übernatürlichem und Technik nicht abwegig ist.
Dann dachte Belinda an das Gespräch unter vier Augen mit James. Zuerst hatte sie Peinlichkeiten befürchtet, aber dann war das Gespräch sehr positiv und vertrauensvoll verlaufen. Sie hatten sich in die Augen gesehen und beide gewusst – da war nichts zwischen ihnen. Vielleicht hatten sie für einen Augenblick gedacht, es könnte etwas werden. In jener Nacht, als sie sich beinahe geküsst hätten, hatte es definitiv diesen Moment gegeben – aber mehr war nicht daraus geworden.
Sie waren übereingekommen, dass sie nur gute Freunde werden wollten. Und Belinda war sicher, dass es so kommen würde. Schließlich hatte sie ihm für all die liebenswerten Dinge gedankt, die er für sie nach Andys Tod getan hatte: die Lilien, die Autobatterie, die Reparatur des Briefkastens. James hatte sie daraufhin nur entgeistert angesehen.
»Sorry, Belle. Ich würde mich ja gern mit all diesen Federn schmücken, aber das war ich nicht. Ich habe lediglich einen Strauß Rosen vor deine Tür gelegt, um dich aufzuheitern. Ich hätte ja gern mehr getan, aber ich wusste einfach nicht, wie.«
Was also sollte sie davon halten? Die Theorie vom »guten Geist« Andy wieder aufleben lassen (was Stacey sicher begrüßen würde)? Zu schwierig, jetzt darüber nachzudenken. Ihr brummte der Kopf.
Und schließlich war da Bazza gewesen. In jener Nacht in der Klinik! Was hatte sie sich nur dabei gedacht, ihn zu bitten, bei der Geburt dabei zu sein! Sie kannte den Mann kaum. Und doch war er geblieben. Und nicht nur das. Er hatte sich großartig verhalten. Danach, so hatte sie angenommen, wollte er sie bestimmt nie wiedersehen – aber gerade eben im Lift hatte er ihr seine Hilfe angeboten – ehrlich und aufrichtig, wie sie fand.
Belinda merkte gar nicht, dass sie über ihren Gedanken eingeschlafen war, bis Babygeschrei sie abrupt weckte.
Evelyn verließ Albys Büro und war sicher, sich seit ihrem letzten Fallschirmsprung nicht mehr so frei gefühlt zu haben. Es überraschte sie selbst, dass sie trotz ihres Alters – immerhin war sie Mitte fünfzig – das Gefühl hatte, einen guten Teil ihres Leben noch vor sich zu haben. Die Zukunft sah durchaus rosig aus. Sie konnte reisen, wenn auch nicht allzu lange, um nicht zu viel von ihren zauberhaften Enkeltöchtern zu versäumen. Die Entscheidung allerdings lag allein bei ihr. Sie konnte einen neuen Job annehmen oder sogar studieren, etwas völlig Neues lernen. Evelyn stellte sich als reife Studentin unter all den jungen Leuten vor und schnaubte verächtlich. Nun ja, die Möglichkeit jedenfalls war gegeben.
Ob sie sich einen neuen Job suchen sollte, war ebenfalls noch nicht entschieden. Sie hatte mittlerweile seit acht Monaten nicht mehr gearbeitet. Warum also nicht ein Jahr aussetzen? Sie konnte neue Hobbys entdecken. Vermutlich war es an der Zeit, das Fallschirmspringen für eine Weile ruhen zu lassen. Sie hatte das Gefühl, dort oben in luftiger Höhe fürs Erste gefunden zu haben, wonach sie gesucht hatte. Es war, als sei die alte Evelyn immer da gewesen, hatte nur darauf gewartet, wiederentdeckt zu werden. Als habe sie nur darauf gewartet, ihren Sohn zu umarmen. Darauf gewartet, ihren Job zu kündigen.
Trotzdem musste sie in den nächsten Tagen hinaus zum Hangar von SkyChallenge fahren. Bazza hatte gesagt, er habe ihr etwas Wichtiges zu sagen.
»Ist es wichtiger als die Tatsache, dass Sie im selben Apartmentblock wohnen wie die Exverlobte meines Sohnes oder dass Belinda mit meinen Enkeln schwanger gewesen ist?«, hatte sie amüsiert gekontert.
»Sehr lustig, McGavin«, hatte er entgegnet. Und es machte sie auch weiterhin glücklich, dass er sie so nannte.
Während sie ihren alten Bürokomplex hinter sich ließ und die frische, kühle Nachmittagsluft ihre Haut streichelte, stellte sie sich vor, Carl würde an ihrer Seite gehen. »Das hast du gut gemacht, Ev«, würde er sagen. »Die Welt liegt dir zu Füßen, Babe. Mach draus, was du willst!« Sie lächelte bei dem Gedanken an diesen dummen Spruch, den sie so oft von ihm gehört hatte.
»Ich nehme das Leben, wie es kommt, danke, mein Lieber«, antwortete sie laut.
Sie hätte schwören können, sein Lachen zu hören – aber sicher sein konnte sie sich im dröhnenden Verkehrslärm nicht.
Belinda erstarrte, als das Baby zu weinen begann. Sie hatte sich gerade wieder ins Bett gelegt, nachdem sie den einen Zwilling die letzte Stunde gestillt hatte. Welches Mädchen weinte jetzt? Sie war verwirrt.
»Wollen die mich auf den Arm nehmen?«, rief Stacey aus dem Wohnzimmer. »Die hören ja nie auf.«
»Ich weiß!«, antwortete Belinda. Und in diesem Moment hob eine zweite Stimme zum Geschrei an. Nein, nein, nein! Nicht beide gleichzeitig! Jede nahm ein Kind aus dem Bettchen und wiegte es beruhigend hin und her.
»Welche von beiden muss jetzt gefüttert werden?«, erkundigte sich Stacey, sah von einem Baby zum anderen und versuchte sich blinzelnd zu erinnern, wer als Letztes an der Reihe gewesen war.
»Du meine Güte, ich hab den Überblick verloren.« Belinda war den Tränen nahe. Sie war erschöpft und ratlos. Stacey war ebenfalls der Verzweiflung nahe. »Wir brauchen Hilfe«, erklärte sie und fühlte, wie der Stresspegel mit jedem lauter werdenden Schrei der Babys weiter nach oben ausschlug.
»Verdammter Mist!«, fluchte Stacey, was bei ihr selten vorkam. Meine Güte, wenn Stacey schon die Nerven verliert, dachte Belinda. Was soll ich dann erst sagen?
»Okay, bin gleich wieder da.« Belinda rannte mit einem (aber welchem?) Zwilling im Arm zur Tür. Die beiden mochten sich zwar nicht besonders ähnlich sehen, aber um zwei Uhr morgens und bei akutem Schlafmangel war sie zu keinem vernünftigen Gedanken mehr fähig.
»Belinda! Wo willst du hin? Es ist mitten in der Nacht!«
»Ich hole Hilfe!«
Bazza schreckte durch ein pochendes Geräusch auf. Er saß aufrecht im Bett und sah sich einen Moment verwirrt im Zimmer um, bevor er registrierte, dass jemand an seine Wohnungstür hämmerte.
Er zog Jeans über seine Boxershorts und stolperte ins Wohnzimmer. Als er sich der Tür näherte, hörte er ein Baby weinen. Dieses Geräusch wurde nur ab und zu durch Klopfen unterbrochen.
Versuchte jemand die Tür einzutreten?
Er riss die Tür auf. Vor ihm stand Belinda im Schlafanzug, ein schreiendes Baby in den Armen. Sie machte den Mund auf, um etwas zu sagen, brachte jedoch nur ein Schluchzen heraus. Brauche. Hilfe, war alles, was er zwischen Tränen verstand.
»Kein Problem«, sagte er ohne Zögern. »Darf ich?« Damit streckte er die Arme nach dem Baby aus.
»Machst du Witze?«, jammerte Belinda und gab ihm das Baby. »Natürlich darfst du. Du kannst sie behalten, wenn du willst.«
Bazza wollte schon laut lachen, verstummte jedoch, als er ihren Gesichtsausdruck sah. Humor war jetzt vermutlich nicht angebracht. »Komm! Gehen wir rauf zu deiner Wohnung.« Er griff sich seine Wohnungsschlüssel. In diesem Moment ging eine andere Tür auf, und er sah, wie Mrs Crease ihren Kopf herausstreckte.
»Bist du das, Bazza?«, rief sie und blinzelte in seine Richtung, während sie die Brille aufsetzte.
»Ja, Creasy. Ich bin’s«, antwortete er.
»Was soll denn der Lärm?«
»Sorry, ich hätte euch vorstellen müssen. Das ist Belinda aus dem dritten Stock. Sie hat gerade Zwillinge bekommen.«
»Zwillinge!« Mrs Crease zog den Kopf zurück und rief aufgeregt in die Wohnung: »Frank, komm mal! Sieh dir das an!«
Als Mr und Mrs Crease ihnen in den Aufzug folgten, entschlossen, mit ihnen in den nächsten Stock hinaufzufahren, um sich beide Babys anzusehen, öffnete sich eine weitere Wohnungstür, und Mrs Pritchard erschien.
»Wie ich sehe, sind die Zwillinge schon gut unterwegs«, sagte sie flapsig. »Schätze, ich komme mit und helfe euch.« Damit zog sie einen Morgenmantel über und folgte ihnen, ohne eine Einladung abzuwarten, in den Lift.
Als sie in Belindas Wohnung ankamen, hatten sie auf ihrem Weg noch mindestens vier weitere Bewohner des Apartmenthauses in Hausschuhen aufgesammelt. Als diese ihre Köpfe aus den Türen gestreckt hatten, um nachzusehen, was der Lärm zu bedeuten hatte, hatte Mrs Crease sie kurzerhand eingeladen mitzukommen. Bazza kam sich beinahe wie der Rattenfänger von Hameln vor, der immer mehr Leute statt Ratten hinter sich herzog.
»Kennst du denn sämtliche Hausbewohner?«, flüsterte Belinda, als sich all die Menschen in ihr Apartment drängten.
Stacey warf einen Blick auf die seltsame Versammlung und drückte der erstbesten Mitbewohnerin einen Zwilling in den Arm, ohne sich nach deren Namen zu erkundigen. »Tut mir leid, Belinda, aber ich verlasse dich jetzt«, verkündete sie und griff nach ihrer Jacke auf der Couch. »Ich gehe nach Hause, ins Bett.«
»Stacey!«, jammerte Belinda panisch. »Du willst mich hier mit all den fremden Menschen allein lassen? Du kennst doch niemanden hier. Das ist nicht deine Art.«
Stacey blieb stehen und sah Bazza an. »Ich kenne ihn«, erwiderte sie. »Und ihm würde ich mein Leben anvertrauen. Immerhin hat er deines gerettet – schon vergessen? Also, ich gehe. Wenn ich noch mehr Kindergeschrei höre, drehe ich durch. Und das willst du nicht erleben, das kann ich dir sagen. Ich rufe dich morgen an.« Damit verschwand sie im Flur.
»Er hat mir nicht das Leben gerettet – das war Shanks und kein Einbrecher! Schon vergessen?«, rief Belinda hinter ihr her.
Die kleine Versammlung stand in Belindas Wohnzimmer und unterhielt sich angeregt wie auf einer Cocktailparty.
Bazza drehte sich um und sah Belinda an. »Vertraust du mir?«
Es entstand eine Pause, bevor sie antwortete. Ihr Blick schweifte über die fremden Gäste in ihrem Wohnzimmer. Dann sah sie ihm in die Augen und sagte müde: »Ja, ich vertraue dir.«
»Gut. Dann leg dich jetzt ins Bett. Wir kümmern uns um die beiden. Das verspreche ich.«
Belinda stellte sich auf Zehenspitzen und küsste ihn sanft auf die Wange. Dann drehte sie sich um und verschwand im Schlafzimmer. Während er ihr nachsah, trat Mrs Crease an seine Seite.
»Weiß sie eigentlich, dass du die gute Fee gespielt hast? Was du alles für sie getan hast?«, flüsterte sie.
»Nein. Und von mir wird sie das auch nicht erfahren. Soll das Mädchen doch glauben, dass es einen Schutzengel hat.«
Belinda sah er erst am nächsten Morgen wieder.