8

Evelyn

»Evelyn McGavin am Telefon.«

»Oh, hallo. Also, hier ist … Sind Sie James und Andys Mutter?«

Evelyn war angesichts der unbeholfen und gehetzt klingenden Mädchenstimme am anderen Ende leicht irritiert. »Von James und Andrew, meinen Sie? Ja, die bin ich.« Sie zerrte genervt an der Telefonschnur und wartete darauf, dass diese unbekannte und daher sicher unwichtige Anruferin endlich zur Sache kam.

»Richtig, natürlich. ›Andrew‹ wollte ich sagen. Sie kennen mich nicht, Mrs McGavin. Ich bin mit den beiden – Ihren Söhnen – zur Schule gegangen. Tatsächlich war ich ein paar Klassen über ihnen, und, na ja, Andy hat mich einmal zu einem Date eingeladen, und er war so süß und … ’tschuldigung, ich meinte natürlich ›Andrew‹. Aber das tut jetzt nichts zur Sache. Also … jedenfalls habe ich von Freunden von Freunden und so weiter gehört, dass … Andrew …« Es folgte ein verlegenes Hüsteln.

»Kommen Sie auf den Punkt, Herzchen.« Evelyn betrachtete ihre Fingernägel und wartete, dass das Mädchen sich endlich erklärte. Sie hatte keine Lust, die geduldige und feinfühlige Mutter zu spielen.

»Ist Andy wirklich tot?« Die Anruferin sprudelte die Worte hastig heraus und zog dann hörbar und scharf die Luft ein, so als sei sie über ihre eigene Dreistigkeit entsetzt.

Evelyn seufzte. Diese junge Dame machte einen noch schlechteren Eindruck auf sie als die leidige Belinda. Trotzdem wollte sie nachsichtig sein. »Ja, unser Andrew ist leider von uns gegangen. Schade, Sie haben seine Beerdigung verpasst. Ist schon ein paar Wochen … oder vielmehr Monate her, seit …« Jetzt war es Evelyn, die krampfhaft nach den richtigen Worten suchte.

»Oh nein, das ist okay. Ich wollte nur … einfach … also, mein Beileid aussprechen. Das heißt, es tut mir aufrichtig leid. Er war so ein netter Junge. Aber natürlich kein Kind mehr. Was nicht heißen soll, dass er nicht mehr jung war. Jung war er natürlich. Ich will damit nicht sagen, dass er sein Leben schon gelebt hätte oder so. Immerhin weiß ich … also, weil er so jung war … muss es verdammt hart gewesen sein. Ich meine, für Sie. Und natürlich für James.« Je umständlicher sich die Anruferin zu erklären versuchte, desto hastiger und wirrer klang sie. Es folgte eine peinliche Pause. Als sich Evelyn weigerte, die Stille auszufüllen, sagte das Mädchen eilig: »Gut, das war’s. Ich verabschiede mich.«

Die Anruferin war deutlich gekränkt, womit sie wiederum Evelyns Mitgefühl erregte. »Wie heißen Sie?«, fragte sie milder gestimmt, bevor das Mädchen auflegen konnte.

»Tania Stevens«, antwortete die Stimme am anderen Ende brav.

»Gut, Tania … Vielen Dank für den Anruf. Nett, dass Sie sich die Mühe gemacht haben.«

Erleichterung wog schwer in der Stimme der Unbekannten, als sie herausplatzte: »Keine Ursache, ich bitte Sie. Wie gesagt, ich wollt Ihnen nur sagen, wie traurig ich bin … und entsetzt, verstehen Sie? Aber da verrate ich Ihnen vermutlich nichts Neues. Für Sie muss das natürlich ein noch größerer Schock gewesen sein. Ich habe ihn ja kaum gekannt. Also warum sollten Sie sich von fremden Leuten sagen lassen, dass es ein Schock gewesen sein muss, wo Sie doch …«

»Tania?«, fiel Evelyn ihr harsch ins Wort.

»Ja?«

»Lassen Sie’s lieber, bevor Sie sich den Mund verbrennen.«

»Stimmt. Also … dann tschüss?«, schloss sie unsicher.

»Auf Wiederhören«, sagte Evelyn freundlich, aber bestimmt, um das seltsame Telefonat zu beenden.

Sie legte den Hörer auf, blieb gegen die Wand gelehnt stehen, trommelte mit den Fingern auf die gläserne Platte des Dielentischs. Tania. Warum kam ihr der Name bekannt vor? Der Name löste gemischte Gefühle bei ihr aus, die sie sich nicht gleich erklären konnte. Bis allmählich eine längst vergessen geglaubte Episode aus der Vergangenheit Konturen annahm.

Evelyn sah den dreizehnjährigen Andrew vor sich, wie er eines Nachmittags in seiner Schuluniform mit schiefsitzender Krawatte und schmutzig verschmiertem Gesicht ins Haus stapfte, die Schultasche quer durch das Wohnzimmer schleuderte, in seinem Zimmer verschwand und die Tür hinter sich zuknallte. Nur Sekunden später kam James durch den Vordereingang, deutlich um eine nichtssagende, unbewegliche Miene bemüht.

»Was hast du mit deinem Bruder angestellt?«

Evelyn traf ein wütender Blick. »Wie kommst du darauf, dass ich schuld bin?«

»Weil nur du Andrew so wütend machen kannst.«

»Ich hab ihn überhaupt nichts getan. Wollte nur helfen.«

»Du hast ihm nichts getan«, verbesserte Evelyn.

»Richtig. Das ist die Wahrheit!« James nickte zufrieden.

Evelyn verdrehte die Augen. »Nein, so war das nicht gemeint … Egal. Erzähl mir einfach, was heute in der Schule los war.«

»Kein Problem, Mum.« James fläzte sich auf die Couch und begann, die Schuhe von den Füßen zu kicken. »Zuerst hatten wir Förderstunde. Samantha Forresdale kam fünf Minuten zu spät. Und die alte Big W ist übergeschnappt, weil Samantha diese Woche jeden Tag zu spät gekommen ist. Und dann hat Samantha zu heulen angefangen – vor der ganzen Klasse. Mann, es war der Hammer. Aber dann ist ihre beste Freundin Linda aufgestanden, hat Big W eine fette Kuh genannt und gefragt, wie sie so gemein zu Samantha sein kann, wo doch Nanna gerade an diesem Morgen gestorben ist. Big W war total geschockt, weil Linda ›fette Kuh‹ zu ihr gesagt hat, und wollte wissen, wer in der hintersten Reihe ›Muhhh‹ gerufen hat – was im Übrigen mein Beitrag war –, und gleichzeitig war sie ganz schuldbewusst wegen der traurigen Samantha, hat ihr die Schulter getätschelt und gesagt: ›Schon gut‹, und war zum ersten Mal in ihrem Leben nett, und wir dachten alle, sie hätte den Verstand verloren oder so, bis Samantha aufgeschaut und gesagt hat: ›Danke, Mrs Warren, ist nur, dass ich den Fisch verdammt gernhatte.‹ Danach hat Big W nach Luft geschnappt und Linda mit einem Blick gemustert, der töten konnte, und Linda hat gesagt: ›Na und? Ihr Fisch hieß eben Nanna!‹ Und beide mussten nachsitzen und …«

»James.«

»Ja, Mum?«

»Hör sofort auf damit.«

»Wie du meinst. Schließlich wolltest du wissen, was heute in der Schule los war, und das war erst die erste Stunde. Du verpasst also noch ’ne Menge erstklassiger Infos.«

»Was ich erstens wissen will, ist, was du dir dabei gedacht hast, dich als Tierimitator aufzuspielen und damit auch noch deine Lehrerin zu beleidigen? Zweitens weißt du genau, dass du Mrs Warren nicht ›Big W‹ nennen sollst. Das ist nicht nur frech, sondern nicht mal originell. Und drittens möchte ich endlich hören, weshalb Andrew so wütend ist. Die Einzelheiten deines Schultags – so fesselnd sie auch sein mögen – interessieren mich im Augenblick weniger. Und das weißt du wiederum sehr genau.«

James reckte die Arme über den Kopf und strich sich dann nachdenklich übers Kinn. Schließlich sah er seine Mutter an. »Ich schlage dir einen Deal vor, Mum. Ich erzähle dir genau, was passiert ist, wenn ich heute Abend so viel fernsehen kann, wie ich möchte.«

»Ich mache keine ›Deals‹ mit meinen Kindern. Raus mit der Sprache, oder du kannst von Glück sagen, wenn du deinen Nintendo je wiedersiehst.«

James setzte sich auf. »Okay, okay. Kein Grund durchzudrehen.« Er blinzelte nachdenklich, als müsse er erst einmal Ordnung in seine Gedanken bringen. Dann erzählte er die Geschichte.

»Andy ist seit einer Ewigkeit ganz heiß auf eine Tusse, die ein paar Klassen über uns ist. Sein ewiges Geschmachte ist mir auf den Senkel gegangen. Deshalb habe ich heute beschlossen, was dagegen zu unternehmen. Ich habe ihm einen Gefallen getan, Mum. Jedenfalls bin ich in der Mittagspause zu ihr gegangen und habe sie in seinem Namen um ein Date gebeten.« James wölbte stolz die Brust.

Evelyns Augen wurden schmal. Sie musterte James misstrauisch. »Sag mir genau, was du zu ihr gesagt hast.«

»So genau weiß ich das nicht mehr …«

»James!«

»Schon gut. Also ich glaube, es war so ähnlich wie: ›Mein Bruder möchte dir verdammt gern an die Muschi, und er heult jeden Abend in sein Kissen, weil du so verdammt sexy bist. Also was ist jetzt? Willst du mit ihm gehen oder nicht?‹«

Evelyn schnappte nach Luft. »James, bitte sag, dass du dich nicht so ausgedrückt hast.«

James fing den entsetzten Blick seiner Mutter auf und ahnte, dass sie jeden Augenblick ausrasten würde. »Sorry, muss jetzt los!« Damit sprang er vom Sofa, duckte sich blitzschnell an ihr vorbei und rannte in den Hinterhof hinaus. Evelyn war klar, dass jeder Versuch, ihn einzuholen, zum Scheitern verurteilt war. Vom Hinterhof aus gelangte man direkt in den Wald. Sie würde ihn bis zum Abendessen nicht mehr zu Gesicht bekommen. Evelyn gestattete sich einen Augenblick die Frage, wie Carl in dieser Situation reagiert hätte, wäre er noch am Leben gewesen, setzte eine beherrschte Miene auf und betrat vorsichtig Andys Zimmer.

»Andrew, Sweetheart. Können wir bitte reden?«

Andrew lag auf dem Bauch auf dem Bett, das Gesicht in das Kissen gedrückt. »Geh weg!«, drang seine zittrige Stimme dumpf aus den Polstern.

»Andrew, du weißt, dass das in diesem Haus so nicht funktioniert. Hier herrschen keine basisdemokratischen Verhältnisse. Was ich sage, wird gemacht. Und wenn ich finde, dass wir reden müssen – wird geredet.« Sie setzte sich auf die Bettkante und versuchte behutsam, ihm übers Haar zu streichen. »Dein Bruder hat mir erzählt, was er heute in der Schule getan hat. Komm schon! Setz dich auf und rede mit mir.«

Andy drehte sich zu seiner Mutter herum. Sein wütendes Gesicht war tränenverschmiert.

»Ausgerechnet Tania Stevens, Mum. Alle ihre Freundinnen haben gehört, was er zu ihr gesagt hat. Sie hat zu mir rübergeschaut und mich ausgelacht. Als wäre ich ein Nichts. ’ne Witzfigur. Die Mädchen halten mich jetzt für einen Blödmann, eine Heulsuse. Er hat behauptet, ich würde jeden Abend heulen. Ihretwegen. Das ist so was von gelogen! Warum sollte ich wegen Tania Stevens heulen?« Er drückte sein Gesicht erneut in die Kissen. »Bitte, lass mich einfach in Ruhe, Mum. Reden hat keinen Sinn. Du kannst sowieso nichts tun.«

»Woher willst du das wissen? Gib mir einfach eine Chance.«

Andy setzte sich auf und starrte seine Mutter verächtlich an. »Kannst du die Zeit zurückdrehen?«

»Nein, kann ich sicher nicht«, entgegnete sie scharf.

»Wie willst du das dann ungeschehen machen? Keine Chance!« Er machte Anstalten, sich in theatralischer Pose wieder in die Kissen zu werfen, doch Evelyn hielt ihn am Ellbogen fest.

»Es reicht! Genug Trübsal geblasen. Wir können das ausbügeln. Deine Mutter hat immer ein paar Trümpfe im Ärmel. Wart’s nur ab!«

Evelyn wurde unsanft in die Gegenwart zurückgeholt, als James mit lauten Schritten die Treppe heruntergepoltert kam.

»Bin dann mal weg!« Er griff sich seine Schlüssel vom Dielentisch und drängte sich an ihr vorbei zur Haustür.

»Wohin willst du?«, fragte sie scharf.

»Raus.« Als sei das Erklärung genug!

»Was macht die Jobsuche?«

»Nicht jetzt, Mum!« Dann war er aus der Tür, bevor sie noch ein Wort sagen konnte.

Seit James zur Beerdigung seines Bruders nach Hause gekommen war, schien er in die Gewohnheit verfallen zu sein, täglich bis ein oder zwei Uhr mittags zu schlafen, anschließend auszugehen und erst in den frühen Morgenstunden zurückzukehren. Sein Sparkonto musste inzwischen ziemlich gelitten haben. Trotzdem schien er keinerlei Zukunftspläne zu schmieden. Evelyn wusste nicht einmal, ob er nicht eines Tages unvermittelt nach Übersee zurückkehren würde. Seine schlechte Stimmungslage wurde nur sporadisch von Wutausbrüchen unterbrochen. In der einen Minute sah er stumm im Wohnzimmer fern, in der anderen lief er Amok in seinem früheren Kinderzimmer und trat den alten Plunder von einer Seite zur anderen. Sie wusste nicht, wie sie auf diese Ausbrüche reagieren sollte. Sie einfach ignorieren? Ihn anbrüllen? Ihn in die Arme nehmen, damit er sich ausweinen konnte? Allerdings gehörten letztere Intimitäten nicht zu den Gepflogenheiten der Familie. Keine Umarmungen. Keine Gespräche über Gefühle. Gefühle wurden unterdrückt. Wurden ignoriert. Die Kommunikation funktionierte knapp und flapsig. Sie fraßen alles in sich hinein.

Evelyn hatte James nicht erzählt, dass sie einen Fallschirmspringerkurs belegt hatte. Sie war nicht sicher gewesen, wie er darauf reagieren würde, dass seine Mutter den Sport auszuüben gedachte, den sie ihm verboten hatte. Bei ihrem ersten Sprung hatten sich Panik und Euphorie abgewechselt. Sie war durch die Luft gewirbelt, wie im freien Fall der Erde entgegengestürzt, atemlos und benommen gelandet. Danach war es sofort zur Sucht geworden. Zwei Tage später war sie erneut gesprungen. Beide Male Tandemsprünge mit Bazza, der, rücklings an sie gegurtet, alle wichtigen Dinge erledigt hatte. Er hatte nach jeweils 300 Metern die Flughöhe durchgegeben und, was am wichtigsten war, den Fallschirm geöffnet. Seitdem war sie hin- und hergerissen zwischen dem dringenden Verlangen, allein zu springen, und ihrer ureigenen, bestürzenden Angst, die schon der Gedanke daran bei ihr auslöste.

Es war ihr gelungen, diese Gedanken eine ganze Weile zu verdrängen, doch schließlich hatte sie ihre Nerven in den Griff bekommen und sich für die Fallschirmspringerlizenz angemeldet. Sie war nicht sicher, weshalb, aber sie brauchte es. Innerhalb weniger Tage hatte sie den ersten Teil der Prüfungsvoraussetzungen erledigt. Dieser bestand aus einem intensiven Bodentraining und einem weiteren Tandemsprung. Jetzt stand ihr erster Solosprung an – und zwar an diesem Nachmittag. Evelyn griff nach ihrem Schlüsselbund und wollte schon zur Tür hinaus, als erneut das Telefon klingelte.

»Evelyn McGavin.«

»Hallo, Evelyn. Wie geht es dir? Gabbie hier … aus dem Büro.« Die Anruferin sprach langsam und deutlich, wie mit einem Kleinkind.

»Gut. Danke der Nachfrage, Gabbie. Was kann ich für dich tun? Ich wollte gerade zur Tür raus.« Evelyn blieb kurz angebunden.

»Ohhh! Du hast was vor? Wie schön für dich! Ich halte dich auch nicht lange auf. Alby hat mich gebeten, dich anzurufen, um zu fragen, wann du wieder zu arbeiten gedenkst. Wir wollen dich natürlich nicht drängen. Aber du scheinst wieder etwas zu unternehmen, und das ist doch ein gutes Zeichen, oder?« Gabbies betuliches Geplauder ging Evelyn auf die Nerven.

»Du kannst Alby ausrichten, dass ich Resturlaub von schätzungsweise sechs Monaten auf meinem Konto habe. Ist im Lauf der Jahre ganz schön was zusammengekommen. Durch Bonustage aufgrund meiner langjährigen Firmenzugehörigkeit und all die vielen Urlaubswochen, die ich nie in Anspruch genommen habe. Das bedeutet, dass ich erst dann ins Büro zurückkomme, wenn ich mich verdammt gut und bereit fühle.« Das hatte gesessen.

»Okey-dokey, Evelyn. Freut mich riesig, dass es dir besser geht. Ich sage Alby, dass wir bald wieder mit dir rechnen können. Bye-bye!«

Großer Gott, das sonnige Gemüt dieser Frau ließ sich wirklich durch nichts erschüttern!

Evelyn legte auf. Der Anruf hatte sie aufgewühlt. Gabbie hatte beinahe so getan, als läge sie mit Grippe im Bett. Andrews Tod schien kaum eine Rolle zu spielen. Sie stellte sich Alby vor, wie er bequem in seinem pompösen Büro saß, gute zehn Jahre jünger als sie und mit einem Gehalt, das zehnmal so hoch war wie das ihre – okay, vielleicht nicht zehnmal so hoch, aber doch erheblich höher. Ihr war klar, dass er ohne sie eher schlecht als recht zurechtkam. Ohne ihr Organisationstalent war er aufgeschmissen. Sie grinste ein wenig hämisch bei dem Gedanken, wie viele Meetings er inzwischen schon verpasst und wie viele Anrufe er erhalten hatte, die keinerlei Sinn für ihn ergaben. Sie war von jeher eine verdammt gute persönliche Assistentin gewesen, auch wenn sie rein zufällig in diesem Job gelandet war. Allein die Vorstellung, dass ihr selbstverliebter Boss ohne sie nicht auskam, hob ihre Laune ungemein. Sie eilte beschwingt aus dem Haus.

Einige Stunden später, in 4000 Metern Höhe, saß Evelyn auf der Kante der Türöffnung des Flugzeugs. Sie war zum Ausstieg und zum Freifall in die Tiefe bereit.

Heiliger Strohsack, ich muss verrückt geworden sein.

»Ich weiß, was Sie jetzt denken!« Bazza hielt die Hände gewölbt vor den Mund, um sich über das Dröhnen der Flugzeugmotoren und die Windgeräusche hinweg verständlich zu machen. »Aber Sie sind reif!« Er drückte ihre Hand und nahm seine Position neben ihr ein. Ein zweiter professioneller Fallschirmspringer namens John saß links von ihr. Beide sollten ihren Sprung begleiten und bis zur Öffnung ihres Fallschirms dicht an ihrer Seite fliegen. Bazza machte ein aufmunterndes Zeichen mit nach oben gerecktem Daumen, dann kam das Kommando: Drei, zwei, springen!

Es ging alles ganz schnell. Sie sprang mit ihren beiden Begleitern aus dem Flugzeug. Das also war es. Zum ersten Mal »solo«. Im wahrsten Sinne des Wortes. Natürlich hatte sie zwei Profis dicht an ihrer Seite, die sie nicht aus den Augen ließen – dennoch war es ein himmelweiter Unterschied zu einem Tandemsprung.

Du meine Güte, was zum Teufel mache ich da? Bitte, lieber Gott, lass mich nicht sterben! Shit, ich muss ja zählen! Das erste Tausend, das zweite Tausend, das dritte Tausend. Augenblick mal – wie viele Sekunden habe ich ausgelassen, während ich zum lieben Gott gebetet habe? Wie weit bin ich? Vier, fünf, sechs? Wie viele Sekunden mehr habe ich damit vertan zu überlegen, wie viele ungezählte Sekunden schon vergangen sind?

Ihr Blick schoss hektisch zu Bazza an ihrer Seite, doch sie sah nur voller Bewunderung, wie er gelassen den Kopf von einer Seite zur anderen bewegte und mit einem breiten Grinsen im Gesicht die herrliche Aussicht genoss. Als er schließlich ihren panischen Blick auffing, nickte er und warf den Kopf in den Nacken – zum Zeichen, dass es Zeit war, den Fallschirm zu öffnen. Sie griff an ihre Seite und zog an der Öffnungsleine. Augenblicklich wurde sie aus der Mitte ihrer beiden Begleiter gerissen, und ihre Fallgeschwindigkeit verlangsamte sich. Dabei merkte sie, dass sie die ganze Zeit über die Luft angehalten hatte. Sie hatte Nachholbedarf, atmete tief ein und aus, sog gierig die Luft in sich ein. Endlich gestattete sie sich einen Blick auf die endlose Weite der Landschaft, die sich unter ihr ausbreitete. Ein Gefühl vollkommenen Friedens erfasste sie.

»Das war fantastisch!« Evelyn schob die Packung Schokoladenkekse über den Tisch, um sie Bazza anzubieten. Dann lehnte sie sich auf ihrem Stuhl zurück, trank einen Schluck Pfefferminztee und gab sich der Erinnerung an das großartige Erlebnis dieses Tages hin. Sie saßen entspannt im Mitarbeiterraum von SkyChallenge. Die Belegschaft akzeptierte sie mittlerweile als Stammkundin. In der kleinen, engen Küche herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Viele gratulierten ihr mit einem Klaps auf die Schulter zu ihrem ersten Solosprung, so als sei es das Normalste der Welt, dass sie sich dort in ihrem Raum aufhielt.

»Ich wusste, dass Sie begeistert sein würden, McGavin!« Bazza tunkte seinen Keks in den Kaffee, sog die Flüssigkeit in den Keks wie durch ein Röhrchen ein und aß ihn, kurz bevor er sich aufzulösen drohte. »Ist reine Geschicklichkeit«, nuschelte er mit vollem Mund.

»Das Skydiving? Natürlich. Deshalb habe ich ja das ganze Training absolviert.«

»Nee, nicht beim Springen. Du springst, du zählst, du ziehst die Leine, fertig. Ich meine, Kaffee durch einen Schokokeks zu trinken. Dabei kommt es auf das genaue Timing an, sollen die Krümel nicht in deiner Tasse landen. Isst du den Keks zu früh, hat er sich noch nicht vollgesaugt, und dir entgeht das köstliche Aroma. Versuchen Sie’s mal.«

»Bazza, ich habe nicht die geringste Lust, meinen Pfefferminztee durch einen Schokokeks zu trinken.«

»Donnerwetter! Haben Sie gerade Bazza zu mir gesagt? Der Sprung scheint einige Verkrustungen bei Ihnen gelöst zu haben, McGavin. Hätte nicht gedacht, dass Sie meinen Spitznamen mal über die Lippen bringen. Trotzdem sollten Sie die Nummer mit dem Schokokeks probieren. Ist ein Muss. Steht in Ihrem Vertrag.« Er verschränkte die Arme in dem vergeblichen Versuch, drohend zu wirken. Trotz der kurz geschorenen Haare und des Augenbrauenpiercings waren sein warmer Blick und sein Lachen in dieser Beziehung kontraproduktiv.

»In meinem Vertrag?« Sie sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Richtig. Mit Ihrer Unterschrift unter den Formularen für Ihre Ausbildung haben Sie sich verpflichtet, am offiziellen Post-Skydiving-Schokokeks-Zeremoniell teilzunehmen. Tja, mitgesprungen, mitgehangen! Also nehmen Sie sich bitte einen Keks und gehen Sie in Position.« Bazza demonstrierte ihr, wie es ging. Er griff sich einen Schokokeks aus der Packung und hielt ihn über seine Kaffeetasse.

Evelyn lachte und gab nach. Sie nahm ebenfalls einen Keks und hielt ihn wie Bazza über ihre Tasse. Einige Mitarbeiter, die auf ein Getränk in die Küche gekommen waren, blieben stehen und sahen zu.

»Okay. Zuerst beißen Sie die untere linke Ecke ab. So!« Er biss die Keksecke ab und fügte eilig hinzu: »Aber nicht zu viel – man braucht nur einen guten Anschnitt, durch den das Getränk eindringen kann. Als Nächstes dreht man den Keks um und beißt die diagonal gegenüberliegende Ecke ab.«

Evelyn tat wie geheißen und musste über seinen ernsten Ton lachen. Du meine Güte, dieser Junge macht aus mir wieder ein albernes Schulmädchen.

»Und jetzt die obere abgebissene Ecke in den Mund nehmen, den Keks in das Getränk Ihrer Wahl knapp bis unter die Oberfläche tauchen und saugen!« Damit sog er einen Schluck Kaffee ein und verschlang anschließend den Keks. »Okay! Sie sind an der Reihe!«, sagte er undeutlich mit vollem Mund.

Evelyn nahm verlegen den Keks zwischen die Lippen, beugte sich über ihren Becher mit Tee. Sie begann zu saugen, zuckte jedoch zurück, als ein viel zu großer Schluck heißen Tees in ihren Mund schoss und ihr die Zunge verbrannte. Dabei löste sich der Keks vollständig auf, und es regnete feuchte Keksbrösel über den Tisch, während sie wild mit den Armen ruderte und schließlich die Hand vor den Mund schlug. »Das war zu heiß. Viel zu heiß!«, kreischte sie, hielt sich die Zunge, sprang auf und tanzte von einem Bein auf das andere. Bazza und die anderen lachten. Und Evelyn musste trotz der Schmerzen einstimmen. Die ganze Sache war eine Lachnummer. Während sie sah, wie die jungen Leute vor Lachen prusteten und schnaubten, erinnerte sie sich unwillkürlich an eine Szene, die sie längst vergessen zu haben glaubte.

Sie sah sich, Carl und die beiden Söhne in der Küche ihres ersten Hauses – das Haus, das sie verkauft hatten und aus dem sie nur wenige Monate nach Carls Krebsdiagnose ausgezogen waren (zu viele schlechte Erinnerungen waren mit diesem Haus verbunden gewesen, um zu bleiben). Die beiden Jungen waren fünf oder sechs gewesen. Sie hatten ein Wetttrinken mit Milchshakes und Strohhalmen veranstaltet. Wer zuerst ausgetrunken hatte, hatte gewonnen. Plötzlich war Carl dabei Milch in die Nase gestiegen, und er hatte die ganze Flüssigkeit unter lautem Prusten auf den Küchenboden gespuckt. Die Jungen bogen sich vor Lachen und hatten im nächsten Moment ebenfalls Milch in ihren Nasen. Schoko-Erdbeer-Milch klebte überall. Normalerweise wäre jetzt eine Standpauke von Evelyn fällig gewesen – aber sie hatten zu dritt so viel Spaß, dass sie einfach nicht böse werden konnte.

Als Nächstes war Evelyn auf den Milchresten auf dem Boden ausgerutscht und flach auf dem Rücken gelandet. Die Slapstickszene war komplett, als sich die Jungen auf sie warfen, außer Rand und Band kicherten. Carl, der noch immer lauthals lachend von seinem Stuhl aufstand, wollte ihr auf die Beine helfen. Als er sich zu ihr herabbeugte und nach ihrer Hand griff, nahm sie die seine und zog. Im nächsten Moment wälzten sich alle vier auf dem Küchenboden in Milchshake-Pfützen und wollten gar nicht aufhören zu lachen.

Jetzt stand Evelyn im Belegschaftsraum von SkyChallenge und lachte hysterisch wie damals. Überall waren Schokokeksbrösel, sie schlug um sich, hielt sich die verbrannte Zunge und kam sich furchtbar albern vor. Es sah ihr überhaupt nicht ähnlich, sich so zu benehmen. Für solche Albernheiten war sie mit ihren inzwischen achtundfünfzig Jahren zu alt.

Sie war eine Mutter, die um ihren Sohn trauerte.

Eine vom Leben gezeichnete alte Frau.

Evelyns Lachen erstarb abrupt. Sie wischte mit der Hand die Keksbrösel vom Tisch und warf sie in den Mülleimer. Dann goss sie ihren Pfefferminztee in den Ausguss, bedankte und verabschiedete sich höflich, ohne Bazza eines Blickes zu würdigen, machte auf dem Absatz kehrt, verließ den Belegschaftsraum und den Hangar und ging zu ihrem Wagen.

Was zum Teufel hatte sie sich dabei gedacht? Skydiving? Es war ein fataler Fehler gewesen. So schnell wollte sie an diesen Ort nicht zurückkehren. Sie hatte die Hand am Türgriff ihres Wagens, als hinter ihr eine Stimme ihren Namen rief. Eilige Schritte knirschten auf dem Kies.

»He, McGavin! Was fällt Ihnen ein? Einfach abzuhauen!«

Der Junge hatte keine Manieren. Wieso war ihr das noch nicht aufgefallen?

Sie drehte sich wieder um, bereit, ihm den Kopf zu waschen. »Ihr Jargon gefällt mir nicht. Sie sollten sich ein paar Manieren zulegen oder zumindest lernen, wie man Kunden behandelt. Aber wenn ich’s mir recht überlege … Machen Sie sich keine Umstände. Ich komme nicht wieder. Ich steige aus. Sie können mich von der Kundenliste streichen.«

»Was soll das heißen, Sie steigen aus? Das heute war großartig. Ihr Sprung war perfekt. Was zum Teufel ist passiert?«

»Ehrlich gesagt ist mir klar geworden, dass das alles reine Zeitverschwendung ist. Keine Ahnung, was mich geritten hat, überhaupt damit anzufangen. Wenn Sie mir jetzt bitte aus dem Weg gehen würden, damit ich in meinen Wagen steigen kann! Ich wäre Ihnen wirklich sehr verbunden.«

Bazza hatte sich zwischen Evelyn und die Fahrertür geschoben. Er starrte sie völlig entgeistert an. Ihr plötzlicher Stimmungswandel überstieg offenbar seinen Verstand. Evelyn vermied es, ihn anzusehen.

»McGavin«, begann Bazza mit leiser, ernster Stimme. »Was zum Henker soll das? Haben Sie Anwandlungen von Alzheimer? Das passt gar nicht zu Ihnen, wie Sie sich verhalten!«

Evelyn schnaubte verächtlich. »Sie lassen nicht locker, wie? Aber woher wollen Sie schon wissen, was zu mir passt?«

»Immerhin habe ich Sie in den vergangenen vier Wochen recht gut kennengelernt. Und wie Sie sich jetzt benehmen … Das sind doch gar nicht Sie.« Er hielt inne und musterte Evelyn eingehend, während sie seinem Blick auswich. »Sehen Sie mich endlich an«, fügte er hinzu. Sie warf ihm einen flüchtigen Blick zu, und er fuhr mit Nachdruck fort: »Nein, sehen Sie mir in die Augen! Und dann sagen Sie mir, dass die zickige Kundin, die ich gerade erlebt habe, die echte Evelyn McGavin ist.«

Evelyn fühlte, wie all die unterdrückten Gefühle gefährlich weit an die Oberfläche drängten. Ich werde, verdammt noch mal, in Gegenwart dieses dämlichen Jungen nicht in Tränen ausbrechen!

»Ich kann nicht«, brachte sie mühsam heraus.

»Warum? Warum nicht? Bin doch nur ich. Warum wollen Sie mir nicht in die Augen sehen?«

Oh Mann, der Bursche ist eine harte Nuss!

Und plötzlich verlor sie die Kontrolle über sich. All die Emotionen, die verdrängten Gefühle, die in ihren Fingerspitzen und Zehen kribbelten, brachen sich mit einem Mal Bahn! Sie stampfte mit dem Fuß auf und brüllte ihn an: »Weil Sie mich an meinen toten Mann und meinen toten Sohn erinnern! Und das ist nicht auszuhalten!« Die Tränen begannen zu fließen, und wie durch eine Nebelwand sagte sie: »Sie sind der Inbegriff all dessen, was gut war in meinem Leben. Aber das ist jetzt Schnee von gestern. Ich muss erwachsen werden und aufhören, mich an eine Vergangenheit zu klammern, die es verdammt noch mal nicht mehr gibt. Deshalb kann ich nicht mehr hierherkommen und so tun, als sei die Welt in Ordnung. Sie ist es nicht.«

Bazza machte einen Schritt auf sie zu, schlang die Arme um sie, zog sie fest an sich, während sich ihre Brust heftig hob und senkte, ihre Schultern zuckten und sie wie ein Kind schniefte und schluchzte. Für einen flüchtigen Augenblick wurde Bazza zu Carl, der sie früher so oft und fest im Arm gehalten hatte.

Carl war ein Mann der Umarmungen und Zärtlichkeiten gewesen. Wie ein großer Bär hatte er sie stets in die Arme genommen. Wann immer man es brauchte oder nicht brauchte. Evelyn dagegen hatte nie freigiebig Zärtlichkeiten verteilt. Viele Jahre lang war Carl von der Arbeit gekommen und hatte sie und die beiden Jungen regelmäßig zur Begrüßung in seinen überschwänglichen Umarmungen fast erstickt. Und Nacht für Nacht hatte Evelyn zögernd und verlegen seine Zärtlichkeiten erwidert und sich beinahe wie eine Schwindlerin gefühlt. Dann, an dem Tag, an dem ihr Vater mit neunundsechzig Jahren an einem Herzinfarkt gestorben war, war Carl früher von der Arbeit nach Hause gekommen und hatte sie mit einer seiner warmen, erstickenden Umarmungen getröstet. Sie wollte die Geste auf ihre übliche verlegene Weise erwidern. Doch ohne es zu merken, hatte sie sich vorbehaltlos in seine Arme geschmiegt und die Geste so heftig erwidert, dass sie beinahe glaubte, das Knacken seiner Rippen zu hören.

Von da an war auch aus Evelyn eine Frau geworden, die freizügig Umarmungen verteilte. Sie war von da an die Erste, die Carl an der Tür liebevoll empfing. Sie nahm die Jungen jeden Abend vor dem Schlafengehen in die Arme, kuschelte lange und zärtlich mit ihnen, atmete den Geruch ihrer Haut – eine Mischung aus Schmutz und Sirup – ein (gleichgültig, wie gründlich sie gebadet oder die Zähne geputzt hatten). Sie umarmte die Schwester, wenn sie sich zu einer Tasse Kaffee trafen, und ignorierte dabei Violets skeptische Blicke. Über fünf Jahre lang war Evelyn eine Frau, die bereitwillig Herzlichkeit verbreitete – bis einige Wochen nach Carls Tod. In der Anfangszeit nach seinem Tod tat sie ihr Bestes, die Familientradition weiterzuführen. Sie versuchte Carls Persönlichkeit, seine nonchalante, lockere Art im Umgang mit den Jungen anzunehmen, reagierte mit Nachsicht, als sich die beiden bei seiner Beerdigung prügelten. Sie redete vernünftig mit ihnen, behandelte sie wie Erwachsene, verfuhr nach dem Motto »Im Zweifel für den Angeklagten«, umarmte Andrew wie immer, unterließ es jedoch in der Öffentlichkeit bei James, der in dieser Beziehung schüchterner war.

Aber Evelyn hielt es nicht durch. Nach einigen Wochen, die sie selbst ohne Umarmungen hatte auskommen müssen, fiel sie in ihr altes Verhaltensmuster zurück, disziplinierte die Kinder mit strengen Worten und Klapsen auf den Hintern – wenn nötig, auch mit dem Kochlöffel. Das abendliche Kuscheln vor dem Zudecken wurde durch einen flüchtigen, halbherzigen Kuss auf die Stirn ersetzt. Bei Evelyns erstem Zusammentreffen mit Violet nach Carls Tod ging diese in Erwartung der üblichen Umarmung mit ausgestreckten Armen auf die Schwester zu. Evelyn jedoch tat nichts dergleichen, gab Violet lediglich einen Klaps auf die Schulter. Violet wirkte enttäuscht, aber keineswegs überrascht. Selbst die Schwester hatte erkannt, dass es mit den Umarmungen vorbei war.

Draußen vor dem Lagerhaus von SkyChallenge konnte Evelyn, zumindest für den Augenblick, Ruhe und Trost in den Armen eines anderen Menschen finden.

Bis Bazza alles zunichtemachte, indem er ihr ins Ohr flüsterte: »McGavin, Ihr Glück, dass Sie nicht ein paar Jahre jünger sind. Sonst hätten Sie mir jetzt eine geklebt, und ich müsste den Jungs erklären, dass der Boss mich gerade wegen sexueller Belästigung einer Kundin gefeuert hat!«

Evelyns Schluchzen ging in Lachen über. Sie schubste ihn von sich und kramte in ihrer Handtasche nach einem Papiertaschentuch.

»Okay. Aber jetzt gehen wir alle gemeinsam einen trinken«, verkündete Bazza, packte sie beim Ellbogen und schob sie zurück zum Hangar. »Ich trommle nur schnell die restliche Crew zusammen, dann kann’s losgehen.«

Auf dem Weg zu einem nahe gelegenen Irish Pub dachte Evelyn darüber nach, was Bazza zu ihr gesagt hatte. Er behauptete, sie gut zu kennen, und hatte doch ein völlig anderes Bild von ihr als das, das sie jeden Morgen im Spiegel sah. Sie hatte das Gefühl, als erkenne er hinter der Maske ihr altes Ich. Die Person, die sie vor Carls Tod gewesen war, bevor sie sich in ihr Schneckenhaus zurückgezogen und von der Welt ausgeschlossen hatte. Begann sie sich jetzt zu ändern? War es das Glücksgefühl beim Sprung mit dem Fallschirm, das die harte Schale knackte? Oder sah nur Bazza etwas in ihr, das den anderen verborgen blieb? Psychologie jedenfalls schien die wahre Berufung des jungen Mannes zu sein.

Evelyn, Bazza und ungefähr acht oder neun Mitglieder der Belegschaft von SkyChallenge verbrachten den restlichen Abend an einem runden Tisch im Irish Pub. Evelyn bemühte sich, mit den jungen Leuten mitzuhalten und dieselbe Trinkfestigkeit an den Tag zu legen. Dabei erzählte sie Bazza, was sie veranlasst hatte, ihr Glück beim Fallschirmspringen zu versuchen. Sie erzählte (ohne Einzelheiten zu erwähnen, denn dazu war sie noch nicht bereit), dass sie vor kurzem einen ihrer Zwillingssöhne verloren hatte und James sie mit seinen Extratouren in den Wahnsinn trieb – sie nicht wusste, wie sie mit ihm umgehen oder ihm helfen sollte, den Verlust des Bruders zu überwinden. Dafür war sie selbst noch zu sehr damit beschäftigt, diesen Schock zu verkraften.

Bazza und seine Kumpel am runden Tisch hielten trotz schwerer Zunge mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg. »Klingt, als hätte ihn das doch ziemlich umgehauen«, bemerkte eines der Mädchen ernst über James. »Hat er eine Freundin?«, fügte sie hoffnungsvoll hinzu und wickelte eine ihrer dicken blonden Lockensträhnen um ihren Finger.

»Glaub mir, als Schwiegermutter willst du mich ganz sicher nicht«, sagte Evelyn und dachte flüchtig an Belinda mit ihren rot geweinten Augen bei Andrews Beerdigung.

»Ich habe nicht gesagt, dass ich ihn heiraten möchte«, entgegnete das Mädchen patzig.

Es war in den frühen Morgenstunden, als Evelyn das Klingeln ihres Handys vor dem lautstarken Gegröle von Monty Pythons »Always Look on the Bright Side of Life« rettete. Dass es für einen harmlosen Anruf eigentlich viel zu spät war, registrierte sie erst, als sie abhob und Violets aufgeregte Stimme hörte.

»Ev, wo bist du? Du musst kommen! Es ist wegen James.«

Oh nein, nein, nein, nicht schon wieder!

Für einen Augenblick saß sie wieder in ihrem Büro in der City an ihrem Schreibtisch, als Andrews Anruf sie erreicht hatte.

»Hallo, Mum?«

»Was gibt’s, mein Lieber?«, hatte sie knapp und ungeduldig geantwortet, hatte zuerst nicht gemerkt, wie schwach und brüchig seine Stimme klang.

»Kannst du bitte herkommen? Ich brauche dich. Ja, ich glaube, ich brauche dich. Jetzt sofort.« Erst allmählich dämmerte ihr, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Ihr erster Gedanke war, dass er getrunken hatte. So mühsam und schleppend kamen seine Worte übers Telefon.

»Wo bist du?«, fragte sie und richtete sich abrupt auf ihrem Stuhl auf.

»Hm … bin hier. Und muss dir was sagen. Mum, ist so wichtig. Komm einfach her. Ja, ich brauche dich. Brauche dich jetzt.«

Und dann hörte sie Stimmen im Hintergrund. Weinen und panische Schreie. »Sollen wir ihn aufrichten?« »Nein, rührt ihn nicht an!« »Hat jemand einen Krankenwagen gerufen?«

»Andrew, sag mir jetzt, wo du bist. Konzentrier dich. Sag mir ganz genau, wo ich dich finden kann!«

»Ich bin hier, Mum! Du musst kommen, musst kommen …« Die Verbindung brach mittendrin ab.

Evelyn versuchte zurückzurufen, doch das Handy schaltete sich nach dem ersten Freizeichen aus. Sie wählte hastig Andrews Büronummer, trommelte ungeduldig mit der Schuhspitze auf den Boden, während sie ängstlich darauf wartete, dass jemand abnahm. Schließlich schaltete sich Andrews Anrufbeantworter ein. »Hallo, hier ist der Anrufbeantworter von Andrew McGavin. Ich bin im Augenblick nicht erreichbar, freue mich jedoch über eine Nachricht nach dem Piep. Alternativ können Sie die Sterntaste drücken und sich mit der Zentrale verbinden lassen.« Sie hämmerte auf die Sterntaste.

Eine Telefonistin meldete sich umständlich: »Guten Tag und willkommen bei GameTech. Sie sprechen mit Sarah!«

»Verbinden Sie mich mit Michael Coombes! Und zwar ein bisschen plötzlich!«

»Stelle durch«, kam die knappe, beleidigte Antwort. Evelyns harscher Befehlston zeigte Wirkung.

Das Rufzeichen ertönte einmal, zweimal, dreimal. Heb ab! Heb endlich ab!

»Mike Coombes.«

Gott sei Dank.

»Michael? Evelyn McGavin hier. Wo ist Andrew? Schnell! Hat er für heute schon Schluss gemacht?« Ihre Stimme überschlug sich fast.

»Ja, tut mir leid, Mrs Mc… er ist schon fort.«

»Ja, aber wohin? Wohin wollte er heute nach Büroschluss? Da stimmt was nicht. Scheint was passiert zu sein. Ich muss wissen, wo er ist.«

»Soviel ich weiß, wollte er zu dem Lebensmittelmarkt in der Pitt Street. Einkaufen. Belle wollte ihn abholen. Da könnte er sein.«

Evelyn legte ohne ein Abschiedswort auf und stürmte aus dem Büro. Andrews Büro lag nur einen Block weit von ihrem Arbeitsplatz entfernt. Sie kannte den Lebensmittelmarkt, von dem Michael gesprochen hatte. Sie legte den ganzen Weg im Dauerlauf zurück. Als sie den Laden erreichte, hatte sich dort bereits eine Menschenmenge versammelt. Streifenwagen der Polizei und eine Ambulanz parkten vor dem Eingang. Dann entdeckte sie Michael und Belinda in der Menge. Michael war nach ihrem Telefonat offensichtlich ebenfalls zum Lebensmittelgeschäft gesprintet. Evelyn sah Belindas sorgenvolle Miene und fühlte eine Welle der Sympathie. Sie muss ihn ebenso sehr lieben wie ich. Sie klopfte Belinda auf die Schulter und redete kurz beruhigend auf sie ein. Dann drängte sie sich an den Schaulustigen vorbei in den Laden. Eine Polizistin verstellte ihr den Weg.

»Sie können hier jetzt nicht rein, Madam.« Die Beamtin war kaum zwanzig. Für Evelyn ein leichtes Spiel. Ihr Sohn hatte gesagt, er brauche sie, und deshalb gab es für sie kein Pardon. Sie ignorierte die Polizistin, zwängte sich seitlich an ihr vorbei und steuerte auf die Menschenansammlung am anderen Ende des Verkaufsraums zu. Sanitäter knieten neben einer reglosen Gestalt in einer Blutlache auf dem Fußboden.

Sie kam zu spät.

Evelyn erlebte gerade noch, wie ihr Sohn den letzten Atemzug tat, sein Leben aushauchte. Sie sah, wie das Handy aus seinen kraftlosen Fingern glitt. Sie sah, wie ein Zucken durch seinen Körper lief. Im nächsten Moment war es vorbei. Andys leichenblasses Gesicht, der Ausdruck panischer Angst in seinen Augen drohten ihr den Verstand zu rauben. Sie musste sich unwillkürlich abwenden.

Die Sanitäter versuchten, ihn wiederzubeleben. Vergeblich. Die junge Polizistin nahm sie bei den Schultern und führte sie ins Freie. Evelyn verdrängte die Szene, deren Zeugin sie gerade geworden war, verbannte sie in die hinterste Ecke ihres Bewusstseins – einschließlich jenes Gegenstandes, den sie neben ihrem sterbenden Sohn auf dem Fußboden hatte liegen sehen.

Jetzt in der rauchigen Kneipe fühlte Evelyn, wie ihr erneut der Atem stockte. Bitte, nicht schon wieder!

Sie stand vom Tisch auf und ging in eine abgelegene Ecke. »Was ist los? Was ist mit James passiert?«, fragte sie knapp und eindringlich.

»James ist okay. Mit ihm ist so weit alles in Ordnung … aber … sie haben ihn über Nacht in eine Zelle auf dem Revier Hunters Hill gesteckt. Er durfte einmal telefonieren. Mit dem Anruf hat er mich aus dem Bett geholt. Wusste gar nicht, wie streng die Polizei in dieser Beziehung ist. Ich dachte, das gibt’s nur im Film. Jedenfalls wollte ich dir unbedingt Bescheid sagen. Auch wenn er mir das nie verzeiht. Ich bin auf dem Weg dorthin. Kommst du?«

Evelyn empfand im ersten Moment nur grenzenlose Erleichterung. James war nichts geschehen. »Ist das alles?«, schrie sie gegen den Kneipenlärm an.

»Ev? Hast du getrunken? Was soll das heißen: ›Ist das alles?‹«

»Wenn du schon fragst. Ich hatte ein paar Drinks – aber das tut nichts zur Sache. Wir treffen uns dort. Bye!«

Sie legte auf und ging zum Tisch zurück. Die jungen Leute von SkyChallenge würden von der neuen Wendung ihrer Geschichte mit Sicherheit begeistert sein.