16
Bazza
Einen Tag nachdem der junge Mann aus seinem Apartmenthaus umgebracht worden war, bekam Bazza die unterschiedlichsten Geschichten zu hören. Jedes Mal, wenn er im Lift fuhr, den Briefkasten leerte oder den Müll hinaustrug, gab ein Nachbar oder eine Nachbarin eine Theorie zum Besten.
»Wie ich höre, soll es einer dieser Krawallburschen aus Wohnung 8 A gewesen sein. Sie wissen schon – die, die immer diese laute Technomusik hören. War wohl Mitglied einer Gang. Tja, wenn man sich auf so was einlässt – dann muss man mit allem rechnen.«
»Haben Sie das mit Mrs Pritchards Sohn von 17 B gehört? Scheint so, als habe er gedealt und sei bei einer Drogenrazzia in der City erschossen worden. Also mir ist der Typ schon immer suspekt gewesen.«
»Ist es zu glauben? Haben Sie schon Nachrichten gehört? Einer der jungen Männer aus dem dritten Stock ist bei einem Überfall auf eine Tankstelle erschossen worden. Armer Junge. Ich glaube, ich weiß, wer es gewesen ist. Ein so freundlicher junger Mann. Ich meine den mit der kleinen dreijährigen Tochter. Ein Trauerspiel! Die Kleine hat jetzt keinen Vater mehr.«
»Ja, Mrs Pritchard, eine traurige Geschichte. Aber ich bin froh, dass es nicht Ihr Sohn war, der gestorben ist.«
»Wie kommen Sie denn darauf, mein Lieber?«
»Ach, nichts! Wir sehen uns später.« Bazza floh durch die schwere Eingangstür ins Freie und die Stufen zum Gehweg hinauf. Er konnte kaum fassen, wie viele Versionen dieser einen Geschichte im Haus kursierten. Und er fragte sich, wer nun tatsächlich erschossen worden war und ob er ihn gekannt hatte. Mittlerweile kannte er die meisten Bewohner des Hauses – besonders die, die an dem Weihnachtsfest am Pool im vergangenen Jahr teilgenommen hatten. Zu Beginn war die Veranstaltung etwas steif gewesen – hatten sich doch völlig fremde Menschen getroffen, die zufällig im selben Apartmentkomplex wohnten. Aber es war Weihnachten – warum also sollte man nicht einmal miteinander feiern? Nachdem der Grill angezündet war, laute Musik spielte und ein paar Biere die Runde machten, entspannten sich alle und waren bereit, sich kennenzulernen.
Bazza klapperte im Gehen mit dem Kleingeld in seinen Taschen und wünschte, er hätte seinen iPod mitgenommen. Bis zum Videoverleih waren es zu Fuß kaum fünf Minuten, doch er hatte das Gefühl, den Kopf freibekommen zu müssen. Der wollte nicht länger über den jungen Mann nachdenken, der am Vortag getötet worden war – wer immer es auch gewesen sein mochte.
Im Videoladen ging er direkt zur Ladenrückseite, wo die Regale mit den alten Schwarz-Weiß-Klassikern standen. Es war der perfekte Abend, um einen dieser Filme anzusehen. Alle seine Freunde waren übers Wochenende verreist. Er dagegen hatte beschlossen, zu Hause zu bleiben und für sein Abendstudium zu büffeln. Danach tat Entspannung not. Warum also nicht bei einem guten Film? Seine Freunde würden sich nur über ihn lustig machen, wenn sie wüssten, dass er eine geheime Vorliebe für Filme mit Schauspielern wie James Dean, Humphrey Bogart oder Rita Hayworth hegte. Bazza stand auf alte Klassiker. Für seinen Geschmack konnten die neuen Streifen den alten Filmen nicht das Wasser reichen.
Bazza griff nach einem Thriller von Hitchcock – Der Fremde im Zug – und freute sich auf einen gemütlichen Abend zu Hause. Gelegentlich war es durchaus erholsam, die Jungs mal ein Wochenende los zu sein. Jeden Freitag oder Samstag Kneipen und Klubs unsicher zu machen war ein großartiger Zeitvertreib, aber gelegentlich auch sehr anstrengend. Mann, ich werde alt, dachte er gereizt.
Im Lift, bei der Fahrt in seine Wohnung im zweiten Stock, hörte er dann eine weitere Version der Geschichte von dem jungen Mann, der erschossen worden war. Dieses Mal von seinen guten Freunden Mr und Mrs Crease, die am Ende des gleichen Flurs wohnten. Die beiden waren nette alte Herrschaften, die er über die Jahre recht gut kennengelernt hatte. Mrs Crease brachte ihm oft frisch gebackene Krapfen, und Mr Crease gab ihm Ratschläge bezüglich seiner Abendkurse. Als Gegenleistung sprang Bazza ein, wenn es bei den Creases etwas zu reparieren galt. Gelegentlich handelte es sich dabei um eine Glühbirne, die ausgewechselt werden musste, ein anderes Mal stellte er das Mobiliar im Wohnzimmer nach Mrs Creases Anweisungen um (eines ihrer Hobbys). »Veränderungen sind das Salz in der Suppe des Lebens, mein lieber Junge«, pflegte sie dann zu sagen.
Auf dem Weg vom Lift zur Wohnung erzählte Mrs Crease mit trauriger Stimme: »Ich bin ziemlich sicher, dass es der Junge aus dem Stockwerk über uns gewesen ist. Soviel ich weiß, hat er sich vor einer Weile verlobt. Wie traurig für seine arme Verlobte.« Sie tupfte sich mit einem Taschentuch die Augen. »Ich habe ihn nicht gut gekannt – nicht so wie dich, Barry … Aber schrecklich ist es trotzdem.«
»Ja, natürlich«, erwiderte er, nahm dem Ehepaar die Einkaufstüten ab und folgte ihnen zu ihrer Wohnungstür am Ende des Flurs. Er hielt ihnen mit dem Ellbogen die Tür auf, ging dann selbst hinein und trug die Einkäufe in die Küche.
»Ich weiß nicht, was wir ohne dich machen würden, Barry – du bist ein wunderbarer Freund.« Mrs Crease schüttelte traurig den Kopf.
»Trotzdem nennen Sie mich stur weiter Barry. Ich habe Ihnen doch gesagt, dass mich alle Freunde …«
»Ja, ja«, fiel Mrs Crease ihm ins Wort. »Ich weiß. Aber du kannst von mir nicht erwarten, dass ich dich nicht bei dem Namen nenne, den dir deine Eltern gegeben haben. Hier hast du eine Tüte mit kandierten Früchten! Und dann ab mit dir!« Mit einem Lächeln drängte sie ihn praktisch zur Tür hinaus.
Zurück in seiner Wohnung, bereitete er sich ein einfaches Spaghettigericht zu, gab Kirschtomaten, Zwiebeln und einen Löffel Pesto in das Olivenöl in der Pfanne. Dann setzte er sich mit seinem Teller vor den Fernseher, schaltete den Videorekorder ein, zog die Schuhe aus und war bereit, seinen Feierabend zu genießen.
Einige Stunden später wachte er plötzlich auf. Er lag auf der Couch, die Mattscheibe flimmerte, es gab keinen Ton mehr, und der Teller Spaghetti stand noch fast unberührt auf dem Couchtisch. Hatte er überhaupt etwas von dem Film mitbekommen, bevor er eingeschlafen war? Offenbar hatte er in letzter Zeit zu oft bis spät in die Nacht für sein Studium gearbeitet. Er streckte sich und stand auf, griff nach der Fernbedienung, schaltete den Fernsehapparat aus und trug seinen Teller in die Küche. Er stand an der Spüle und wusch das Geschirr ab, als draußen vor dem Fenster etwas seine Aufmerksamkeit erregte.
Hatte er Halluzinationen? Da stimmte doch was nicht!
Er lief aus der Küche und auf den Balkon. Dabei schaltete er im Vorübergehen das Licht im Wohnzimmer ein. Dann trat er hinaus. Dort, unmittelbar vor ihm, im riesigen Gummibaum, der vor seiner Wohnung wuchs, hing ein Mädchen – konnte sich kaum noch an dem Ast halten, an den es sich klammerte.
»Mist! Brauchen Sie Hilfe?«, rief er ihr zu. Sie starrte ihn nur an. Er konnte den Ausdruck in ihrem Gesicht erkennen. Es drückte völlige Hilflosigkeit aus.
War sie betrunken? Bazza konnte sich ihr Verhalten nicht erklären. Dann sah er, wie ihre Hände abzurutschen begannen … Heiliger Strohsack, sie lässt los! Und dann fiel sie, krachte durch das Astwerk und landete Sekunden später mit einem dumpfen Aufprall am Fuß des Baums.
Bazza fackelte nicht lange. Er rannte durch seine Wohnung hinaus auf den Flur, die Treppen hinunter, denn das war schneller, als mit dem Lift zu fahren. Er nahm zwei Stufen auf einmal, sprintete durch die Tür des Notausgangs im Parterre und rannte um das Haus zum Gummibaum.
Sie bewegte sich nicht. Sie lag auf dem Rücken, vollkommen regungslos, und starrte hinauf in das Blätterdach des Baums. Jetzt erkannte er, dass sie nur mit Jeans und BH bekleidet war. Und er glaubte, Blutflecken an ihrem BH zu erkennen. Hatte sie sich beim Sturz aus dem Baum verletzt?
Er kniete neben ihr nieder und legte vorsichtig eine Hand auf ihren Arm. Zumindest war sie noch bei Bewusstsein. Er sah sie an, und dann erkannte er sie. Sie war das Mädchen aus dem Stock über ihm, das er schon immer irgendwie verehrt hatte. Allerdings hatte sie, soviel er wusste, einen Freund. Und wo, bitte schön, war dieser Freund, während sie in einem Baum festsaß und ihn dringend brauchte?
»Alles in Ordnung mit dir?«, erkundigte er sich.
Sie schüttelte den Kopf. Eine Träne kullerte über ihre Wange.
»Fuck! Das war ein Mordssturz. Vielleicht sollte ich dich zu einem Arzt bringen.«
»Bring mich ins Haus. In deine Wohnung. Bitte.«
Das klang so flehentlich, dass er beschloss zu tun, worum sie ihn bat. In der Wohnung konnte er sie genauer untersuchen, nachsehen, ob sie sich verletzt hatte und ein Fall für die Notaufnahme war. Er schob einen Arm unter ihre Kniekehlen, legte ihren Arm um seinen Hals und seinen Arm um ihre Taille. Dann hob er sie auf und trug sie ins Haus. Glück für sie, dass ich mich fit halte, dachte er, als er sie höher hob, um auf den Liftknopf drücken zu können. Dabei war sie nicht einmal schwer – er war nur froh, sich nicht durch eine schlechte Kondition zu blamieren.
Sie fuhren in seine Wohnung hinauf, wo er sie sanft auf seine Couch bettete. Er wollte sich aufrichten, um Kühlkissen aus dem Kühlschrank zu holen. Vermutlich bildete sich durch den Aufprall bereits eine hässliche Beule am Hinterkopf – wenn nicht Schlimmeres. Er hoffte inständig, dass sie sich nichts gebrochen hatte. Allerdings hätte sie in diesem Fall sicher bereits vor Schmerz laut gejammert.
Doch plötzlich klammerte sie sich an ihn und zog ihn zu sich hinunter. Ohne zu wissen, wie ihm geschah, begann sie ihn zu küssen. Er hätte sich ihren Küssen beinahe hingegeben, wandte jedoch im letzten Moment den Kopf zur Seite. Obwohl ihm die Kleine schon immer mehr als gefallen hatte, wollte er nicht im Revier eines anderen wildern – obwohl der Typ im entscheidenden Moment nicht da gewesen war, um sie zu retten.
»Du hast doch einen Freund? Ich habe euch zusammen gesehen …« Er hoffte beinahe, sie würde sagen, dass sie sich getrennt hatten, damit er sie ohne Schuldgefühle weiter küssen konnte. Stattdessen zog sie ihn wieder an sich und begann ihn immer heftiger zu küssen. Im nächsten Moment war er verloren: Ihre schönen, vollen Lippen waren zu verführerisch, und er schmolz wie Butter in der Sonne in ihren Armen.
Im nächsten Augenblick riss sie ihm das Hemd vom Leib und grub ihre Nägel in seinen Rücken. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Mann, sie ist fantastisch, dachte er, sah sie an und beugte sich dann wieder über sie, um weitere Zärtlichkeiten auszutauschen, und ließ seine Hände über ihren Körper gleiten. Aber offenbar hatte er sich getäuscht. Es gab ein Zurück. Ihm wurde bewusst, dass sie seine Küsse nicht mehr erwiderte, plötzlich unter seinen Händen wie erstarrt wirkte. Er richtete leicht auf und sah sie an.
»Das ist nicht okay«, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme.
Schuldgefühle schnürten ihm augenblicklich die Kehle zu. Er hätte sie niemals küssen dürfen. Idiot.
Im nächsten Moment stieß sie ihn von sich und marschierte aus seiner Wohnung. Erst als sie durch die Tür verschwand, sah er den Verlobungsring an ihrem Ringfinger aufblitzen. Mist! Sie hatte nicht nur einen Freund, sie hatte einen Verlobten. Er fühlte sich elend und war – wie er sich eingestehen musste – nervös. Was, wenn dieser Typ Kampfsportler war? Vermutlich würde er sich dann mehr als einen Tritt in den Hintern einfangen.
Moment! Hatte Mrs Crease nicht behauptet, der Bursche, der erschossen worden war, sei der junge Mann aus dem dritten Stock – und er sei verlobt gewesen! Das Mädchen wohnte im dritten Stock. Das wusste er. Er hatte schon häufig gesehen, wie sie im Lift auf den Knopf für die dritte Etage gedrückt hatte.
Und plötzlich fügte sich alles zusammen. Natürlich hatte sie so etwas wie einen Nervenzusammenbruch (was allerdings nicht erklärte, weshalb sie oben im Baum gehangen hatte …). Die Ärmste hatte den Mann verloren, den sie heiraten wollte. Und welche Hilfe hatte sie von ihm erwarten können? Er war am Boden zerstört. Okay, vielleicht hatte sie den ersten Schritt getan, aber das machte die Sache für ihn auch nicht besser.
Die nächste halbe Stunde ging er in seinem Apartment auf und ab und dachte darüber nach, wie er sein Verhalten wiedergutmachen konnte. Sollte er zu ihr gehen und sich entschuldigen? Ihr erklären, dass ihm erst jetzt klar geworden war, was sie durchmachte? Nein. Vermutlich war es besser, sie heute Abend in Ruhe zu lassen. Er musste eine andere Möglichkeit finden, ihr zu helfen.
Am nächsten Morgen wurden seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Beim Durchblättern der Morgenausgabe der Hills Shire Times im Bus auf dem Weg zur Arbeit. Darin stand ein kurzer Artikel über einen jungen Mann, der erschossen worden war. Darunter war ein Schwarz-Weiß-Foto abgedruckt. Ja, das war definitiv ihr Verlobter. Der Artikel beschrieb, dass der junge Mann in einem EzyMart in der Pitt Street gewesen war, als ein minderjähriger Junkie den Laden mit gezückter Pistole überfallen hatte. Er war der Einzige gewesen, der dabei ums Leben gekommen war. Die Ermittlungen waren noch in vollem Gange. Bazza betrachtete erneut das Foto. Er hatte ihn sofort erkannt. Schließlich war er ihm oft im Lift oder in der Parkgarage begegnet.
In den folgenden Wochen zerbrach Bazza sich den Kopf, in welcher Form er der jungen Frau helfen konnte. Das war kompliziert, denn er kannte nicht einmal ihren Namen. Im Zeitungsartikel wurde sie nicht erwähnt, und er hatte sich ihr bei den Begegnungen im Haus nie vorgestellt. Es war absurd, dass er ihr so nahe gekommen war, ohne das Geringste über sie zu wissen – von der Tatsache abgesehen, dass sie auf der schwarzen Liste von Mrs Pritchard stand, weil sie einmal mit sandigen Füßen vom Strand in den Lift gestiegen war.
»Was hatte die am Strand zu suchen? Wir haben schließlich Winter!«, hatte Mrs Pritchard wütend geschimpft, als sie Bazza zufällig in der Eingangshalle begegnet war. Mrs Pritchard war eine Dame, die derartige Fehler nicht verzieh. Jetzt, da er daran dachte, erinnerte er sich, dass sie noch gesagt hatte: »Ich glaube, sie heißt Belle! Ziemlich gewöhnlicher Name, finden Sie nicht?«
Belle … war vermutlich die Kurzform für Isabel. »Also besonders häufig ist der Name nicht«, hatte er nur gemurmelt und war weiter zu seiner Wohnung gegangen.
Zwischen Abendstudium und Job hatte er kaum freie Zeit, sodass er nicht allzu oft Gelegenheit hatte, über diese Mitbewohnerin nachzudenken. Damals hatte er bei SkyChallenge eine neue Schülerin angenommen, die er recht interessant fand – jedenfalls gehörte sie nicht zur üblichen Klientel. Er hatte das Gefühl, dass sie nicht allein aus Begeisterung für den Sport das Fallschirmspringen begonnen hatte. Ab und zu tauchte ein Kunde auf, der behauptete, den absoluten Adrenalinkick zu suchen, aber dann stellte sich heraus, dass die Motivation für ihr Tun eine Art Fluchtverhalten war. Bazza musste zugeben, dass der freie Fall aus einem Flugzeug dafür sehr gut geeignet war. Trotzdem war der Sport kaum geeignet, wie auch immer geartete private Probleme zu lösen. Allerdings hatte er persönlich ein professionelles Interesse an diesen Fällen. Menschen an sich und das, was sie antrieb, faszinierten ihn und waren der Grund, weshalb er Psychologie studierte.
Auch wenn diese besondere Kundin ihre persönliche Geschichte weitgehend für sich behielt, war sie eine angenehme Gesprächspartnerin. Ohne es zu wollen, erzählte er ihr aus seinem Leben, von seinen Berufsplänen und seinen Gefühlen für Isabel. Auch wenn er sich nicht überwinden konnte, ihr die ganze Geschichte zu erzählen. Etwas sagte ihm, dass sie es nicht gutheißen würde, dass er mit einem Mädchen am Abend nach dem Tod ihres Verlobten herumgeknutscht hatte.
Seit jenem verwirrenden Erlebnis mit »Belle« waren mittlerweile zwei Monate vergangen. Dann stand Bazza eines Abends auf seinem Parkplatz im Parkdeck und sortierte Dinge aus, die er dort aufbewahrte. Dabei beobachtete er, wie Belle ihre Sporttasche in den Kofferraum warf – vermutlich um ins Fitnessstudio zu fahren. Jedenfalls trug sie entsprechende Kleidung. Bazza versteckte sich hastig hinter einer Säule, um nicht gesehen zu werden, denn er war nicht sicher, wie sie auf seinen Anblick reagieren würde – ein Verhalten, das ihn wahrscheinlich verdächtig nach einem Stalker aussehen ließ.
Als Belle in den Wagen stieg, traute er seinen Augen kaum. Täuschte er sich, oder war ihre Figur seit ihrer letzten Begegnung rundlicher geworden? Bazza blinzelte und schlug überrascht eine Hand vor den Mund. Es bestand kein Zweifel. Sie hatte einen kleinen »Babybauch«, wie es in den Boulevardblättern stets so treffend hieß. Bazza hatte fünf ältere Schwestern, inzwischen zahlreiche Neffen und Nichten und war daher in diesen Dingen nicht ganz unerfahren. Heilige Schei…! Er hatte nicht nur mit einem Mädchen am Abend nach dem Tod ihres Verlobten rumgemacht – sie war dabei zu allem Übel auch noch schwanger gewesen.
»Mannomann, diese Frau bringt mich um!«, murmelte er niedergeschlagen und starrte auf die Rücklichter ihres Wagens.
Bazza beschloss, zur Beruhigung und Aufheiterung erst einmal einen Spaziergang zu machen. Seltsamerweise war das Bedürfnis, ihr zu helfen, nach dieser Erkenntnis nur noch dringender geworden. Die Arme war ganz auf sich gestellt und bekam ein Baby. Außerdem konnte er ihren ratlosen, verzweifelten Gesichtsausdruck nicht vergessen, als sie in den Wagen gestiegen war. Schon an jenem Abend, als sie in dem Baum vor seinem Balkon gehangen hatte, war ihm diese hilflose Ohnmacht in ihrem Blick aufgefallen.
Er dachte an seine Schwestern und ihre Schwangerschaften und überlegte, welche Art von Unterstützung sie sich wohl von Außenstehenden gewünscht hätten. Zeit, sich Rat zu holen. Er zückte sein Handy und tippte die Nummer seiner Schwester Catherine ein. »Hallo, Cath«, meldete er sich, als sie abhob. »Ich brauche deinen Rat.«
»Schieß los, kleiner Bruder – warte einen Moment … MAX, LASS DEINE SCHWESTER IN RUHE. IST MIR EGAL, WAS SIE GEMACHT HAT. DU SOLLST SIE NICHT IN DEN SCHWITZKASTEN NEHMEN. LASS SIE SOFORT LOS! … Entschuldige. Okay, ich höre. Was kann ich für dich tun?«
»Hast du jetzt wirklich Zeit?«
»Natürlich. Warum denn nicht?«
»Also gut. Ich mach’s kurz. Bei deiner letzten Schwangerschaft … Was hat Dean für dich getan … Ich meine, um dich glücklicher, es dir leichter, bequemer zu machen und so weiter.«
»Baz, ich will lieber nicht wissen, weshalb du mich das fragst. Falls du einem Mädchen ein Kind gemacht hast, dann ist das deine Sache.«
»Schon gut. Beantworte einfach meine Frage.«
»Okay. Lass mich nachdenken. Meistens hat er die Kinder versorgt, wenn ich müde war. Außerdem hat er mir Sachen zu essen besorgt … wenn ich diese komischen Gelüste hatte.«
Mhm. Kaum hilfreich, bisher. Er hatte keine Ahnung, worauf Belle Appetit haben könnte, und er war sicher, dass es keine weiteren Kinder gab, um die er sich hätte kümmern können.
»Was sonst noch?«
»Keine Ahnung. Er hat die schweren Einkaufstaschen für mich getragen. Hm … Warte! Jetzt fällt mir was ein. In den letzten Wochen meiner Schwangerschaft mit Max war ich ziemlich deprimiert – weiß selbst nicht mehr, weshalb. Damals hat Dean mich öfter mit einem wunderschönen Blumenstrauß überrascht. Manchmal wirkt ein unerwartetes, spontanes Blumengeschenk Wunder.«
»Wirklich? Blumen, sagst du? Ist das nicht ziemlich abgedroschen?«
»Wenn es Rosen sind … Vielleicht. Versuch ihren Blumengeschmack zu treffen. Dann ist sie bestimmt begeistert.«
Bazza dankte seiner Schwester und legte auf. Blumen schienen seine einzige Option zu sein. Er wusste nicht, was er sonst für sie hätte tun können. Catherine hatte zwar noch den Tipp »Hilfe bei der Hausarbeit«, aber er konnte sich kaum vorstellen, dass Belle es gutheißen würde, wenn er in ihre Wohnung einbrach, um sich dort nützlich zu machen.
Er schlug einen anderen Weg ein und ging in Richtung Einkaufsviertel, um es endlich perfekt zu machen und einen Blumenstrauß zu besorgen. Er musste nur noch herausfinden, welche Blumen geeignet waren. Vor dem Blumenladen schweifte sein Blick über die Auslage im Schaufenster. Schließlich entdeckte er einen großen Strauß Lilien. Die weißen, zusammen mit grünen Gräsern und Zweigen gebundenen Blüten wirkten auf ihn schön und schlicht. Zu Hause warf er immer wieder einen Blick auf die Blumen und überlegte, wann er damit in den dritten Stock gehen sollte, um sie ihr zu überreichen, und was sie wohl dazu sagen würde. Wie lange würde sie im Fitnesscenter bleiben? Schließlich glaubte er, lange genug gewartet zu haben. Er nahm den Lift und fuhr in den dritten Stock. Dort stand er einen Moment vor ihrer Tür. Er war sicher, dass es die richtige Wohnung war. Alle im Haus hatten mittlerweile davon gesprochen, dass der junge Mann von 13 C erschossen worden war.
Und plötzlich überfiel ihn Panik. Was sollte er ihr nur sagen? Was, wenn sie ihn nie wiedersehen wollte? Ihr aus heiterem Himmel einfach einen Blumenstrauß in die Hand zu drücken schien mit einem Mal keine gute Idee mehr zu sein. Vielleicht war es klüger, den Strauß vor ihrer Tür abzulegen. Er zog einen Stift aus der Tasche, schrieb das Wort »Sorry« auf die im Strauß steckende Karte. Ein ausführlicherer Text schien ihm nicht angebracht. Was hätte er schließlich auch schreiben können? Sorry, dass ich dich begrapscht habe, nachdem dein Verlobter gestorben war? Und welchen Sinn sollte es haben, mit seinem Namen zu unterschreiben? Vermutlich wusste sie sowieso nicht, wer er war. Bazza kehrte schließlich mit dem Gefühl in seine Wohnung zurück, zumindest einen Anfang gemacht zu haben.
Eine Woche später stieg Bazza auf dem Weg zur Arbeit in den Bus. Er setzte sich in die vorderste Bankreihe hinter den Fahrer. Sein Blick schweifte ziellos aus dem Fenster, während die übrigen Fahrgäste einstiegen. In diesem Moment entdeckte er Belle. Sie ging schnellen Schrittes den Hügel hinauf in Richtung Hauptstraße. Wollte sie ebenfalls diesen Bus erreichen?
Bazza starrte auf die Schlange der Wartenden. Es waren nur noch zwei Passagiere übrig, die ihr Ticket bezahlen mussten. Und dann beobachtete er, wie Belle mit besorgter Miene immer schneller ging, bis sie schließlich zu rennen begann. Inzwischen war die letzte Person eingestiegen, und Belle hatte gerade erst die Hügelkuppe vor der Kreuzung erreicht. Sie würde es nicht schaffen. So viel war klar.
»He, Kumpel!«, sagte er, beugte sich vor und tippte dem Busfahrer auf die Schulter. »Warten Sie noch ’ne Minute. Dahinten versucht eine junge Dame, noch den Bus zu erreichen.«
»Was Sie nicht sagen? Mir blutet das Herz. Aber ich muss einen Fahrplan einhalten, Mann.« Der Busfahrer schloss die Türen und fuhr aus der Haltebucht.
»Ach kommen Sie schon! Sie ist schwanger, und ihr Verlobter ist gerade gestorben. Geben Sie ihr eine Chance.«
»Und wer sind Sie? Die gute Fee aus dem Märchen oder was?«, entgegnete der Fahrer zynisch, während er sich mit dem Bus in den Verkehrsstrom einreihte.
Bazza drehte sich um und sah, dass Belinda mit unglücklicher, resignierter Miene stehen geblieben war. Dann drehte sie sich um und ging in die Richtung zurück, aus der sie gekommen war. Schlimme Zeiten …
»Okay. Sie kriegen fünfzig Dollar, wenn Sie anhalten und auf sie warten.« Zum Beweis, dass er es ernst meinte, zückte er einen Fünfzigdollarschein. Falls einer seiner Kumpel je erfuhr, dass er fünfzig Piepen darauf verschwendet hatte, einen Busfahrer zu überreden, auf einen weiblichen Fahrgast zu warten, war ihm ihr Spott für alle Zeiten sicher. Aber das war es ihm wert.
Der Busfahrer trat abrupt auf die Bremse. Im nächsten Moment wendete er und löste damit bei den nachfolgenden Verkehrsteilnehmern ein wütendes Hupkonzert aus. Als Belle eine halbe Minute später in den Bus stieg, verbarg Bazza sich hinter einem seiner Vorlesungsmanuskripte und hoffte, dass sie ihn nicht erkannte. Die ganze Geschichte war ihm jetzt schon peinlich. Anfangs war ihm das Angebot über fünfzig Dollar an den Busfahrer als eine charmante, ritterliche Geste erschienen. Jetzt, nachdem der Fahrer mit dem Bus inmitten des morgendlichen Stoßverkehrs ein umständliches Wendemanöver vollführt hatte, kam ihm seine Hilfsbereitschaft reichlich übertrieben vor.
Einige Tage später, er war gerade in Mrs Creases Apartment und versuchte, den verstopften Abfluss in der Küche wieder flottzubekommen, fragte die alte Dame völlig überraschend, ob er ein Auge auf »das junge Ding von oben« geworfen habe. Bazza schlug sich den Kopf an der Spüle an, so abrupt richtete er sich auf.
»Wie kommen Sie denn darauf?«, fragte er betont beiläufig.
»Ich habe am Mittwoch in diesem Bus gesessen … ein paar Reihen hinter dir … Du hast mich nicht bemerkt. Das war sehr gentlemanlike von dir.«
Ah-ha! Gentlemanlike. Genau meine Kragenweite.
Aber Mrs Crease konnte er nicht belügen. Er setzte sich an ihren Esstisch und erzählte ihr die ganze Geschichte.
»So, so. Dann spielst du also doch die gute Fee aus dem Märchen?«, erkundigte sie sich mit einem Augenzwinkern, als er geendet hatte.
»Lieber den Ritter in der goldenen Rüstung. Oder vielleicht den Geheimagenten … im Stil von 007.«
»Unsinn. Die gute Fee passt besser. Und jetzt habe ich einen Tipp für dich, meine liebe gute Fee …«
»Ich höre wohl nicht richtig! Jetzt bin ich schon zur Fee mutiert?«, fiel er ihr ins Wort. »Es hat Monate gedauert, bis Sie mich Bazza statt Barry genannt haben – aber die ›gute Fee‹ kommt Ihnen verdammt schnell über die Lippen.«
Mrs Crease fuhr unbeeindruckt fort: »Wenn du ihr wirklich helfen willst … Also ich habe vorgestern gehört, wie sie im Lift mit jemandem telefoniert hat. Offenbar hat ihre Autobatterie den Geist aufgegeben. Du kennst dich doch mit diesen Dingen aus. Der Weg zum Herzen einer Frau führt definitiv über ihr Auto. Merk dir das, gute Fee.«
»Und wie kommen Sie darauf, dass ich den Weg zu ihrem Herzen suche?«
»Du kannst mir nicht weismachen, dass es hier nur darum geht, dein schlechtes Gewissen zu erleichtern, mein Junge. Du hast ihre Küsse erwidert … egal unter welchen Umständen. Da steckt mehr dahinter. Du bist verliebt in sie. Vertrau mir! Die Autobatterie ist der erste Schritt zum Glück!«
»Danke! Ich denke darüber nach. Ist Ihnen klar, dass ich mich fast wie ein Stalker benehme … je mehr ich für sie tue?«
»Blödsinn! Echte Männer werben auf diese Weise um Frauen. Und jetzt mach, dass du in die Gänge kommst, mein Junge!«
Bazza besorgte am folgenden Nachmittag bei der Autowerkstatt am Ende der Straße eine neue Autobatterie. Kurz darauf stand er auf dem Parkdeck und überlegte, wie er die Motorhaube ihres Autos ohne die entsprechenden Schlüssel öffnen sollte, als er plötzlich Stimmen an der Tür zum Fahrstuhl hörte.
»Ja, stimmt. Ist vergangenen Freitag nicht angesprungen, als ich wegfahren wollte. Ich hatte eine der Türen nicht richtig geschlossen. Deshalb hat die ganze Nacht über die Innenbeleuchtung gebrannt. Jetzt ist sie völlig leer.«
Mist. Es war Belle mit einem Mechaniker der Verkehrswacht. Vor Schreck stellte er die Batterie hastig neben dem Auto ab und verschwand. Einige Parkreihen weiter war ein Notausgang. Die Tür fiel bereits hinter ihm zu, als die beiden um die Ecke kamen.
Die Angst, von ihr entdeckt zu werden, wurde allmählich zu einem Nervenkitzel, auf den er gut verzichten konnte. Der Adrenalinkick beim Sprung aus dem Flugzeug war harmlos dagegen. In Bezug auf Belle hatte er ausgesprochen schwache Nerven. Er beschloss deshalb, sich von der Rolle der guten Fee für eine Weile zu verabschieden. Vermutlich hatte er sich von Mrs Crease und ihrem Rat zu sehr hinreißen lassen. Das arme Mädchen glaubte vermutlich angesichts all der guten, anonymen Taten schon an Gespenster. Bazza stürzte sich vorerst einmal (buchstäblich) in seine Arbeit.
Die Zeit war reif für den ersten begleiteten Solosprung seiner Kundin. Und er war ziemlich stolz auf sie, als sie mit John, dem zweiten Fallschirmspringer, an der Tür des Flugzeugs standen und auf das Kommando zum Ausstieg warteten.
Dafür, dass das ihr erster Solosprung war, wirkte sie erstaunlich gefasst. Ein Solosprung unterschied sich deutlich von den vorausgegangenen Tandemsprüngen. Es war ein völlig neuer Kick. Aber dann veränderte sich plötzlich ihr Gesichtsausdruck. Angst verdunkelte wie ein Schatten ihre Miene. Aufgepasst! Da beginnt jemand, zu intensiv nachzudenken. Zeit, die Show zu Ende zu bringen. »Ich weiß, was Sie jetzt denken!«, rief er ihr zu. »Aber Sie sind reif dafür!« Die Zeit ist reif, McGavin. Keine Mätzchen jetzt! Seine Gedanken schienen sie zu motivieren.
Sie warf ihm einen letzten panischen Blick zu, dann sprangen sie.
Großartig! Sie hat’s getan!
Beim Skydiving kannte Bazza keine Angst. Während er im freien Fall neben ihr in Richtung Erde sauste, verzog sich sein Gesicht vor Vergnügen unwillkürlich zu einem verzückten Grinsen. Dann nickte er ihr zu zum Zeichen, dass es Zeit war, die Fallschirme zu öffnen. Er hatte den Eindruck, dass sie nicht ganz bei der Sache war, vergessen hatte, die jeweils 300 Meter Fallhöhe am Höhenmesser abzuzählen, wie er es ihr beigebracht hatte. Dennoch bestand kein Grund zur Sorge. Schließlich war das der Grund, weshalb der erste Solosprung in Begleitung zweier Lehrer stattfand. Nachdem sie ihren Fallschirm sicher geöffnet hatte, zogen John und er an ihrer eigenen Reißleine. Bazza beschlich wie üblich Enttäuschung, dass der freie Fall, die Bewegung im freien Raum, so schnell vorüber war.
Doch als sie Schokoladenkekse aßen und Kaffee tranken und das Glücksgefühl nach dem Sprung genossen, war ihre Laune plötzlich umgeschlagen. Sie war ohne ein weiteres Wort aus dem Mannschaftsraum gestürmt. Die Miene starr und undurchdringlich, ihr Blick eisig.
»Schei… Was ist denn jetzt los?«, sagte er laut. Er rannte hinter ihr her, hatte schon lange vermutet, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Es war Zeit herauszufinden, was es war.
Es bedurfte seiner ganzen Überredungskunst, dass sie sich ihm öffnete. Nachdem sie sich an seiner Schulter ausgeweint hatte (Bazza hielt es nicht aus, wenn Frauen weinten, das war sein Schwachpunkt) und er ein paar Witze gerissen hatte, um die Situation aufzulockern, überredete er sie, mit der Mannschaft von SkyChallenge in einen Pub zu gehen.
Und schließlich erfuhr er ihre Geschichte. Sie erzählte ihm allerdings nicht die ganze Wahrheit. Er erfuhr lediglich, dass ihr Sohn vor einigen Monaten gestorben war, sie Mühe hatte, darüber hinwegzukommen – vor allem da sie etliche Jahre zuvor bereits ihren Mann verloren hatte –, und ihr zweiter Sohn sich immer mehr vor ihr zurückzog. Außerdem stellte sich heraus, dass es eigentlich ihr Sohn James gewesen war, der vorgehabt hatte, das Fallschirmspringen auszuprobieren, sie ihm das jedoch verboten und einer plötzlichen Eingebung folgend selbst mit dieser Sportart begonnen hatte.
Die Nacht in der Kneipe fand ein jähes Ende, als McGavins Schwester anrief und ihr mitteilte, dass James in einer Zelle der örtlichen Polizeistation festgehalten wurde. Sie verabschiedete sich und wirkte dabei sehr viel gefasster, als er das – angesichts der schlechten Nachrichten – für möglich gehalten hätte. In dieser Nacht hatte er das Gefühl, wirklich eine gute Tat vollbracht zu haben. Bazza Campbell, der Retter der Welt und hysterischer Frauen in fortgeschrittenem Alter.
Einige Wochen vergingen, ohne dass er Bell getroffen oder auch nur zu Gesicht bekommen hätte. Seine Schuldgefühle waren längst nicht mehr akut, und es gelang ihm, Mrs Creases »hilfreiche« Vorstöße in diese Richtung zu ignorieren. Sie schien der Meinung zu sein, er müsse weiter um Belle »werben«. Bazza dagegen hatte den Eindruck, dass es besser war, im Hintergrund zu bleiben und sie nicht weiter zu bedrängen. Eine Woche vor dem Weihnachtsfest holte er einen Stapel Weihnachtskarten aus seinem Briefkasten und entdeckte dabei, dass die Klappe des Briefkastens von 13 C schief in den Angeln hing, den Briefschlitz kaum noch bedeckte. Ein Brief war bereits zu Boden gefallen und drohte sozusagen vom Wind verweht zu werden.
Konnte nicht schaden, das für sie zu reparieren, oder?
Die Firma SkyChallenge schloss ihre Tore über die Feiertage für sechs Wochen – der Eigentümer hatte einen Urlaub nach Thailand gebucht und traute es keinem seiner Angestellten zu, das Unternehmen während seiner Abwesenheit weiterzuführen. Bazza empfand dies zwar als Beleidigung, war jedoch nicht unglücklich über diesen Zwangsurlaub.
Er verbrachte Weihnachten bei seiner Familie. Bei der erstbesten Gelegenheit stellte ihn seine Schwester Catherine zur Rede. »Also, Bruderherz. Raus mit der Sprache! Hast du ein Mädchen geschwängert oder nicht?«
»Dachte, du willst das gar nicht wissen.«
»Wollte ich auch nicht. Ich meine, will ich nicht. Also raus mit der Sprache, Schlaumeier.«
»Hör auf zu nerven. Ich habe niemanden geschwängert. Ich wollte nur einer Freundin helfen. Nichts Weltbewegendes, okay?«
Seine Schwester warf ihm einen skeptischen Blick zu, ließ es jedoch dabei bewenden.
In der übrigen Woche belegten ihn seine zahlreichen Nichten und Neffen mit Beschlag – ganz zu schweigen von den schwangeren Schwestern, die seine Hilfe einforderten. Die Schwangerschaften seiner Schwestern waren schon fast ein Running Gag in der Familie: Kaum hatte die eine Schwester ein Baby geboren, verkündete die andere ihre nächste Schwangerschaft. Zudem nutzten die Eltern seine Anwesenheit, um sich nach seinen Berufsplänen zu erkundigen.
»Ich finde, Skydiving ist der perfekte Job für dich, Junge. Du liebst es, du bist ein großartiger Fallschirmlehrer. Warum willst du das für einen Schreibtischjob aufgeben?« Bazza kannte keine andere Mutter, die ihren Sohn überredet hätte, ein Psychologiestudium für das Fallschirmspringen aufzugeben.
Auch die gemeinsamen Mahlzeiten waren ungewöhnlich. Aus unerfindlichen Gründen verschätzten sich die Eltern regelmäßig, was die Mengen an Lebensmitteln anging, die für die unzähligen Familienmitglieder zubereitet werden mussten, die alljährlich zu Weihnachten bei ihnen einfielen. Musste man sich bei der einen Mahlzeit um die letzte Portion Bratkartoffeln fast prügeln (wobei normalerweise die schwangere Schwester gewann), konnte man das am folgenden Tag aufgetischte Fünf-Gänge-Menü plus Nachtisch kaum bewältigen. Nach den anstrengenden Tagen kehrte Bazza glücklich in seine ruhige Wohnung zurück – auch wenn der liebenswerte Trubel ihm schon am ersten Abend wieder fehlte.
Silvester kam und ging. Er und seine Freunde hatten eine Kneipentour durch die City geplant. Doch als es Mitternacht wurde, ohne dass sich jemand gefunden hatte, den man küssen konnte, bekam das Ereignis einen schalen Beigeschmack. Während sich seine Kumpels sinnlos zu betrinken und zu randalieren begannen und die Kneipen immer schäbiger wurden, verließ er die Gruppe um drei Uhr morgens. Er wollte gerade ins Bett gehen, als er hörte, dass aus der Wohnung über ihm ohrenbetäubende Musik drang. Er dachte automatisch an Belle und dass sie mittlerweile hochschwanger sein musste.
Falls seine Schwestern ein Maßstab waren, dann war Schlaf ein wichtiger Faktor für eine gesunde Schwangerschaft. Nur noch eine Tat der guten Fee … um alter Zeiten willen, überlegte er.
Bazza hastete in den dritten Stock hinauf und hämmerte gegen die Wohnungstür, aus der die Musik dröhnte. Die Tür schwang auf, und Bazza hielt die Luft an, als ihm eine betäubende Qualmwolke entgegenschlug, die den bärtigen jungen Mann auf der Schwelle umgab.
»Was gibt’s, Alter?«
»Störe nur ungern, Mann, aber könntet ihr bitte die Musik leiser stellen? Es ist drei Uhr morgens. Okay?«
Der Bärtige musterte ihn verächtlich. »Ist Silvester, Mann. Keine Chance.«
»Ich weiß. Ich würde normalerweise nichts sagen. Aber die Kleine gegenüber ist schwanger, und ihr Verlobter ist vor ein paar Monaten erschossen worden. Wie wär’s, wenn ihr ihr mal ’ne Pause gönnt?«
»Nee.«
Wie nett!
»Na gut. Du weißt, wer am Ende des Flurs wohnt?«
»Der Bulle?«
»Richtig, der Bulle. Soll ich ihn holen, damit er ’ne Nase voll von dem Zeug einatmet, das ihr euch da drinnen reinzieht? Schätze, Basilikum ist das wohl kaum.«
»Leck mich, Mann.« Der Bärtige drehte sich um und rief in die Wohnung: »Dreh die Musik ab, Yo!« Dann wandte er sich wieder an Bazza. »Zufrieden, Arschloch?«
Bazza überkam ein Gefühl von Macht. »Ja, aber ich möchte, dass du dich bei ihr für den Krawall entschuldigst!«
Der Bärtige starrte ihn kurz wütend an. »Sorry!«, brüllte er dann aus vollem Hals in Richtung Belindas Wohnungstür.
»Nicht jetzt! So war das nicht gemeint«, zischte Bazza.
»War’s das?«, fragte der Bärtige.
»Klar«, sagte Bazza und kam sich plötzlich sehr albern vor. Er warf einen Blick über den Flur auf Belles Tür und wünschte sich, sie würde herauskommen und sehen, wer ihr so ritterlich zur Seite gestanden hatte. Als jedoch alles ruhig blieb, wandte er sich wieder an den Bärtigen, um sich zu bedanken. In diesem Moment wurde die Tür dicht vor seiner Nase mit Wucht ins Schloss geworfen.
Verständlicherweise.
An einem Freitagabend, zwei Wochen später im neuen Jahr, ging Bazza über das Parkdeck und sah Belindas Wagen mit weit geöffnetem Kofferraumdeckel auf ihrem Parkplatz stehen – im Inneren Tüten eines Großeinkaufs. Von Belinda keine Spur. Bazza fiel automatisch der Rat seiner Schwester ein – welche Erleichterung es für Schwangere bedeutete, wenn ihnen schwere Lasten abgenommen wurden.
Wäre gemein, ihr nicht zu helfen, überlegte er.
Bazza beeilte sich, lud sich die Tüten auf, die am schwersten zu sein schienen, und hastete zum Aufzug. Die Frage war, ob er den dritten Stock erreichte, bevor sie wieder auf dem Weg nach unten war. Er war nicht sicher, ob er ihr begegnen wollte. Falls sie ihn mit den Einkaufstüten sah, könnte sie ihn vielleicht für einen Dieb halten. Sollte es ihm allerdings gelingen, die Tüten heimlich nach oben zu bringen und unbemerkt zu verschwinden, nahm sie vermutlich an, ein freundlicher Nachbar habe ihr einen Gefallen getan – was im Grunde ja auch stimmte. Nichts anderes hatte er im Sinn.
Als er aus dem Lift trat, atmete er erleichtert auf. Sie war nirgends zu sehen, und ihre Wohnungstür war geschlossen. Offenbar ließ sie sich Zeit mit dem Ausräumen des Kofferraums. Bazza stellte die Tüten sorgfältig vor der Wohnungstür ab und rannte den Flur entlang zum Lift, um eine weitere Ladung zu holen. Er kam gerade mit der nächsten Ladung Tüten auf den Armen wieder oben an, als er zu hören glaubte, dass ihre Wohnungstür geöffnet wurde. Er stellte seine Last augenblicklich vor dem Lift ab und drückte auf den Knopf für die Parkgarage, um nicht ertappt zu werden.
Als er auf das Parkdeck trat und Belles Wagen in Sichtweite kam, blieb er abrupt stehen. Ein Mann stand daneben und griff gerade nach den restlichen Tüten. Irgendwie kam er Bazza bekannt vor.
He, Mann, was soll das? Wenn’s hier eine gute Fee gibt, dann bin ich das, dachte er ungehalten. In diesem Moment hörte er Schritte hinter sich. Offenbar kam Belle zurück, um die restlichen Einkäufe aus dem Kofferraum nach oben zu bringen. Wieder verschwand er hastig über die Feuertreppe – die immer öfter zu seinem sehr persönlichen Fluchtweg wurde.
Den Rest des Abends verbrachte er im Hangar von SkyChallenge. Neben der Halle erhob sich ein Grashügel, der an seiner höchsten Stelle einen großartigen Blick auf Umgebung und Stadt eröffnete: auf ein Meer von Kiefern und, im Osten und in klaren Nächten, in der Ferne, auf die Lichter der Stadt. Obwohl er es liebte, in der Stadt, mitten im Zentrum des Geschehens, zu wohnen, empfand er es gelegentlich als entspannend, die Metropole von außen zu betrachten. An einem ruhigen, warmen Sommerabend hier oben auszuruhen, mit Zikaden als einziger Gesellschaft, während sich im Westen eine dieser furchterregenden Gewitterfronten zusammenbraute, war ein Erlebnis.
Der Kerl, den er im Parkhaus gesehen hatte, war vermutlich Belles neuer Freund. Und das konnte für ihn doch nur eine Erleichterung bedeuten, oder? Damit war er aus seiner selbst auferlegten Verantwortung erlöst. Musste sich keinerlei Sorgen mehr um sie machen. Die Taten der guten Fee konnte er sich schenken. Vermutlich hatte sie den besagten Abend längst vergessen – verdrängt. Und wer wollte ihr das verübeln? Warum also wurde er dieses beschissene Gefühl in der Magengrube nicht los? Was hatte es zu bedeuten – Eifersucht? Hatte er trotz allem die Hoffnung gehegt, sie möge ihn irgendwann ertappen, ihm Gelegenheit geben, all das aufzuklären, was er für sie getan hatte?
Schmink dir das ab! Du kennst das Mädchen kaum.
Er zog das Handy aus der Tasche und schickte eine Textmitteilung an alle Freunde, die ihm gerade einfielen.
Wer möchte heute Abend einen draufmachen? King Street Wharf? In einer Stunde. Wir treffen uns dort.
Die Zeit, von außen hineinzuschauen, war vorbei.
Bazza traf seine Lieblingskundin erst im Februar wieder. Sie begegneten sich zufällig bei SkyChallenge, und er spürte recht schnell, dass sie deprimiert war.
»Was ist los, McGavin? Wie ich höre, stehen Sie kurz vor Ihrem dritten Solosprung. Neulich haben Sie noch mal einen Extrasprung mit Chad eingelegt, stimmt’s? Ich will nicht lügen, McGavin. Trifft mich irgendwie, dass Sie diesen Windhund mir vorziehen … Trotzdem! Sie können stolz auf sich sein. So professionell, wie Sie die Sache angehen.«
Evelyn hörte ihm gar nicht richtig zu, starrte nur mit leerem Blick in die Ferne.
»Hallo, McGavin! Hören Sie mir überhaupt zu?«
»Wie? Oh, tut mir leid, Bazza. War ganz in Gedanken. Was haben Sie gesagt?«
»Spielt keine Rolle. Nicht mehr wichtig. Was beschäftigt Sie denn so sehr? Vielleicht kann Doktor Bazza helfen. Wir haben uns ja eine Ewigkeit nicht gesehen. Ich lade Sie morgen Vormittag zum Frühstück ein. Schließlich weiß ich noch gar nicht, wie die Geschichte mit Ihrem Sohn ausgegangen ist. Ich meine, nachdem Sie ihn vor Weihnachten aus der Ausnüchterungszelle holen mussten.«
»Ich weiß nicht, Baz. Hab zurzeit eine Menge Stress.«
»Ist kaum zu übersehen. Deshalb akzeptiere ich kein Nein bei meiner Einladung. Frühstück. Morgen. Acht Uhr.«
Bazza führte sie in sein Lieblings-Café und bemühte sich herauszufinden, was sie so unglücklich machte, als eine ihrer Bemerkungen bei ihm wie eine Bombe einschlug. Evelyn hatte ihm nie zuvor erzählt, wie ihr Sohn ums Leben gekommen war, sie hatte lediglich erwähnt, dass sie ihn erst vor kurzem und völlig unerwartet verloren hatte. Zum ersten Mal begann sie, den Hergang detaillierter zu beschreiben. Und Bazza kam die Geschichte plötzlich sehr bekannt vor.
EzyMart.
In der Pitt Street.
Bei einem Raubüberfall erschossen.
Er fühlte, wie es ihm eiskalt über den Rücken lief, als ihm dämmerte, worüber sie sprach. »Evelyn, entschuldigen Sie, aber wann ist Ihr Sohn ums Leben gekommen? An welchem Tag und in welchem Monat?«
Zu Hause schaltete er seinen Computer ein und ging auf die Website der Hills Shire Times. Er recherchierte im Archiv nach den Septemberausgaben und suchte den Artikel mithilfe der ihm bekannten Stichworte. Fünf Minuten später hatte er den Bericht gefunden. Das ihm bereits bekannte Schwarz-Weiß-Foto tauchte auf. Er starrte auf den Namen unter dem Bild.
Andrew McGavin, 24
Großer Gott! Seine neue Lieblingsschülerin war die Mutter des jungen Mannes aus seinem Apartmenthaus, der bei einem Raubüberfall ums Leben gekommen war. Und das Mädchen, in das er verknallt war, war die »böse«, bei der Mutter so verhasste Verlobte. Er hatte die ganze Zeit über »Belle« für den Kosenamen von Isabel gehalten und begriff jetzt, dass es der Kurzname für Belinda war. Die »Hammer-Erkenntnis« allerdings war, dass Evelyn McGavin nicht die geringste Ahnung hatte, dass Belinda schwanger war. Bazza fühlte sich in der Rolle des Geheimnisträgers nicht wohl.
Allerdings verstand er sofort, weshalb Belinda Evelyn nichts von alledem verraten hatte. Evelyn konnte sie definitiv nicht ausstehen. Gleichermaßen verstand er Evelyns Haltung. Sie versuchte, den Tod ihres Sohnes zu verarbeiten, und benötigte dafür einen Sündenbock. Andrews Verlobte war das perfekte Opfer. Misch dich nicht ein, Baz. Es geht dich nichts an.
Bazza gelang es, Evelyn fast zwei Monate lang aus dem Weg zu gehen – er legte seine Arbeitszeiten so, dass er immer dann frei hatte, wenn sie ihre Sprünge gebucht hatte. Allmählich jedoch plagten ihn Gewissensbisse, und er beschloss, zumindest zu erklären, weshalb er sich so seltsam verhielt. Auch wenn er ihr nicht die ganze Geschichte erzählen, nur eingestehen konnte, dass er Belinda (und flüchtig auch ihren Sohn) kannte. Belindas Schwangerschaft allerdings sollte unerwähnt bleiben.
Die nächste Begegnung mit McGavin verlief für ihn dann allerdings völlig anders als geplant. Knapp 1600 Meter über der Erde vergaß diese Frau, ihren Fallschirm zu öffnen. Bazza musste einspringen und für sie die Reißleine ziehen – und zwar im letzten Augenblick. Als ihr Fallschirm geöffnet war – und er kurzzeitig fürchtete, den eigenen Schirm nicht mehr öffnen zu können –, schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. Ein völlig unerwarteter Gedanke. Ich möchte Belinda wiedersehen. Ich bin noch immer in sie verknallt. Vielleicht ist es sogar mehr als das. Vielleicht mag ich dieses Mädchen wirklich.
Am Abend zu Hause dachte er darüber nach. Die Sache war verrückt. Er kannte sie ja kaum. Ihr Gespräch, als sie aus dem Baum gefallen war und er sie dann in seine Wohnung gebracht hatte, hatte sich auf wenige Sätze beschränkt.Du meine Güte, das war idiotisch. Wie konnte er sich in eine Frau verlieben, ohne das Geringste über sie zu wissen? Ganz abgesehen davon, dass sie ein Kind erwartete. War es nicht gegen jede Vernunft, sich mit ihr einzulassen?
Bazza kam zu einem Entschluss. Er nahm sich vor, zu ihr hinaufzugehen und mit ihr zu sprechen. Es war Zeit, sich für jenen Abend zu entschuldigen, als sie sich geküsst hatten, ihr zu erklären, dass er damals keine Ahnung gehabt hatte, was mit ihrem Verlobten geschehen war, ihr zu sagen, dass er sie näher kennenlernen wolle – auch wenn sie ein Kind erwarte. Und falls sie tatsächlich einen neuen Freund hatte oder nicht interessiert war, dann würde er sich ein für alle Mal zurückziehen. Er marschierte entschlossen aus seiner Wohnung und ging in Richtung Aufzug. Mit der Hand am Knopf zum dritten Stock zeigte er plötzlich Nerven.
»Ich kann doch nicht einfach mit leeren Händen an der Tür einer Fremden erscheinen«, sagte er sich.
Er drückte den Knopf zum Parterre und ging stattdessen in Richtung der Ladenzeile. Entschlossen, diesmal keine Blumen zu kaufen, schweifte sein Blick stattdessen prüfend über das Schokoladenregal. Dabei stach ihm ein grellbuntes Schild in die Augen.
Der neue Cadbury Snack ist da!
Eine Packung nur mit Ihrer Lieblingsschokolade!
Sorte des Monats: Ananas.
»Ananas ist die beste«, murmelte er. Er griff nach einer Packung Schokolade, überlegte kurz, ob es vielleicht ein Fehler war – schließlich wusste er nicht, ob sie diese Geschmacksrichtung überhaupt mochte. Doch intuitiv schien es ihm eine gute Wahl zu sein. Er ging mit der Packung zur Kasse und kehrte nach Hause zurück.
Dort nahm er den Lift. Seine Hand zögerte, den Knopf zum dritten Stock zu drücken. Sollte er sich nicht vorher umziehen? Schließlich hatte er auf dem Weg zum Supermarkt ein schnelles Tempo angeschlagen und war verschwitzt.
Die Absicht, sich kurz umzuziehen, führte ihn unter die Dusche und zu langen Überlegungen darüber, welches Hemd für die Gelegenheit am passendsten war. Dann trug er etwas zu reichlich Aftershave auf, spielte mit dem Gedanken, sich erneut unter die Dusche zu stellen, entschied sich jedoch dagegen. »Komm schon, Baz, du solltest die Sache nicht überbewerten. Reiß dich zusammen und geh endlich zu ihr!«
Wieder im Lift, drückte er schließlich auf die Taste zum dritten Stock und fuhr in die nächste Etage hinauf. Er lief nervös den Gang entlang, hob die Hand, um zu klopfen, und hielt inne. Er hörte eine Stimme. War sie das? Er horchte angestrengt. Sie unterhielt sich mit jemandem. So viel war klar. Vermutlich ist ihr Freund bei ihr, dachte er bitter enttäuscht. Und eine innere Stimme meldete sich zu Wort: Woher willst du das wissen? Du hörst doch keine männliche Stimme! Aber die Vorstellung, dass sie die Tür öffnen und ihn ansehen könnte wie einen armen Idioten, nahm ihm den Mut. Er legte die Packung Schokolade vor die Tür und schlich durch den Flur zurück zum Fahrstuhl. Die gute Fee hat wieder zugeschlagen, dachte er sarkastisch.
Stunden später riss ihn der durchdringende Summton der ankommenden Kurzmitteilung auf seinem Handy aus seinem traumlosen Schlaf. Er rollte zur Seite, schlug benommen die Augen auf und peilte blinzelnd die Uhr auf seinem Nachttisch an, bis er sie deutlich im Fokus hatte.
Drei Uhr morgens! Wer zum Teufel schickte ihm um diese unchristliche Zeit eine Textmitteilung? Und, was noch wichtiger war, seit wann war der Rufton seines Handys so beschissen laut eingestellt?
Er rieb sich mit dem Handrücken die Augen und griff nach seinem Handy. Die Nachricht kam von einer ihm unbekannten Telefonnummer und lautete schlicht:
Du bist überfällig.
Ich bin überhaupt nicht überfällig! In keiner Beziehung, erklärte er seinem schicken Nokia Handy gereizt. Er wollte das Gerät gerade ausschalten, um nicht erneut von ihm geweckt zu werden, als er das Geräusch hörte.
Und war plötzlich hellwach.
Das war definitiv der Schrei einer Frau gewesen, und er kam zweifellos aus der Wohnung direkt über ihm.
Belinda!