15
Evelyn
Evelyn fuhr mit dem Finger über den Büttenrand der Einladungskarte und über die Buchstaben des Prägedrucks: »GameTech Awards Night«. Dann las sie den Text in der kleinen geschwungenen Schrift noch einmal mit zusammengekniffenen Augen.
Samstag, 14. April, 20 Uhr
Banksia Function Centre, Darling Harbour
Wir laden Sie hiermit herzlich ein zu Büfett, Cocktails und der Preisverleihung eines GameTech- »Kunstwerks« an all jene, die unser jüngstes Projekt aus der Taufe gehoben haben. Außerdem erhält »Andy McGavin«, einer unserer besten Mitarbeiter, den wir alle so schmerzlich vermissen, posthum den Ehrenpreis.
U. A. w.g. bis 26. März
Andrews Chef hatte ihr die Einladung bereits vor einem Monat geschickt, zusammen mit der persönlichen Nachricht, dass er sich sehr über ihre Anwesenheit bei der wichtigsten Veranstaltung des Jahres für GameTech freuen würde und es ihr freistünde, einen weiteren Gast mitzubringen. Evelyn fragte sich, ob er von ihr erwartete, dass sie in Begleitung von Belinda kam, oder ob er dem Mädchen eine gesonderte Einladung geschickt hatte. Allerdings hatte Evelyn nicht die Absicht, Belinda über dieses Ereignis zu informieren, geschweige denn, sie dazu einzuladen. Offen gestanden hatte sie bisher nicht einmal daran gedacht, die Einladung selbst anzunehmen, und die Karte in die hinterste Ecke der Schublade im Küchenschrank und damit aus ihrem Gedächtnis verbannt.
Jetzt, während sie nach einer Heftzwecke kramte, um sich einen Zeitungsausschnitt über ihre Nichte Matilda, die den Debattierklub ihrer Schule zum Sieg geführt hatte, an das Schwarze Brett zu heften, war sie erneut auf die Einladung gestoßen. Mittlerweile wusste sie allerdings selbst nicht mehr, weshalb sie so entschlossen gewesen war, der Veranstaltung fernzubleiben.
»Wofür ist diese elegant aussehende Einladung?« Violet tauchte hinter ihr auf. Sie war zufällig auf eine Tasse Kaffee und einen Plausch bei Evelyn hereingeschneit. Violet schnappte Evelyn die Karte vor der Nase weg, bevor diese sie daran hindern konnte. »Evelyn! Die Veranstaltung ist heute Abend! Wie kommst du dazu, dich heute als Babysitter für meine Kinder anzubieten?«, rief die Schwester verständnislos. »Aber das kriegen wir hin. Ich bitte Marks Mutter, für dich einzuspringen – auch wenn die Kinder der Meinung sind, keine Aufpasser mehr zu brauchen. Aber mit deiner Frisur solltest du was machen. Hast du dir für heute Nachmittag einen Termin bei Lorenzo geben lassen?«
»Nein, ich habe mich heute für einen Fallschirmsprung eingetragen. Ich gehe da heute Abend nicht hin. Ich kann also problemlos deine Kinder sitten.«
»Was soll das heißen, du gehst nicht hin? Das ist doch lächerlich. Hast du die Einladung überhaupt durchgelesen? Andy soll posthum einen Sonderpreis erhalten. Da musst du doch dabei sein.«
»Nein, muss ich nicht. Diese Leute sind für Andys Tod verantwortlich. Hätte er nicht in dieser dämlichen Firma gearbeitet, wäre er an jenem Tag nicht in der Gegend gewesen und folglich auch nicht ums Leben gekommen. Ich will mit diesen Typen nichts zu tun haben.«
»Ach wirklich? Okay, wie du meinst. Ich dachte nur, du hältst Belinda für die Schuldige – an Andys Tod. Ist mir recht, wenn du sie nicht für alles verantwortlich machst. Du solltest sie irgendwann mal anrufen. Immerhin war sie deine zukünftige Schwiegertochter. Sie hat eine Entschuldigung für diese ›Du-bist-schuld-am-Tod-meines-Sohnes-Rede‹ bei der Beerdigung verdient«, erklärte Violet wie nebenbei. Aber Evelyn kannte ihre Schwester gut. Die sorgfältig formulierten Sätze waren eine Falle.
»Du hältst dich wohl für verdammt schlau, was? Wenn ich jetzt sage, dass ich Belinda noch immer die Schuld gebe, kommst du mit dem Argument, dass ich dann keinen Grund habe, heute Abend nicht zu dieser Veranstaltung zu gehen. Wenn ich GameTech verantwortlich mache, dann malst du dir bereits die wundersame Versöhnung mit der ›Tochter, die ich nie hatte‹ aus.« Evelyn schnaubte verächtlich. »Aber ich gebe der ganzen Bagage gemeinsam die Schuld! Was sagst du jetzt?« Damit streckte sie der Schwester die Zunge heraus und fügte in arrogantem Tonfall hinzu: »Da hast du’s.«
»Sei nicht kindisch.« Violet holte die Milch für den Kaffee aus dem Kühlschrank. »Jetzt mal im Ernst, Ev. Es ist Zeit, dass du einen Schlussstrich unter die Sache ziehst. Nicht dass du deshalb Andys Tod einfach vergessen sollst. Das muss man erst verarbeiten. Aber du solltest dieses Spiel mit den Schuldzuweisungen aufgeben. Folgt man deiner Logik, dann ist die ganze Welt an seinem Tod schuld. Ich eingeschlossen.«
»Wie denn das? Was hast du damit zu tun?«, erkundigte sich Evelyn und setzte abrupt die Kaffeekanne ab.
»Ich habe dir die Hunters Hill High School für die Jungs empfohlen. Dort hat Andy seinen Kumpel Coombes kennengelernt, und Coombes war derjenige, der ihm den Job bei GameTech verschafft hat. Verstehst du jetzt, was ich meine? Du musst nur weit genug in die Vergangenheit zurückgehen, dann kannst du praktisch jedem die Schuld geben. Tatsache ist doch, dass es zahllose Faktoren gegeben hat, die Andy an jenem Nachmittag in diesen speziellen Supermarkt geführt haben. Selbst du kannst nicht wissen, wie sein Leben verlaufen wäre, hätte es einen dieser Faktoren nicht gegeben.« Violet schenkte mit triumphierender Miene Kaffee ein.
Evelyn wappnete sich für eine Entgegnung und schwieg dann doch. Sie war es leid. Violet hatte recht. Ihre Versuche, allen und jedem die Schuld zu geben, wurden allmählich inflationär. Außerdem war es verdammt anstrengend. Unvermittelt fiel ihr ein Klassenkamerad von Andrew und James ein: ein dünner, schlaksiger Junge namens Chris Reynolds mit glattem, langem Haar, das ihm immer in die Augen zu fallen schien. Andrew hatte sich mit Chris angefreundet, bis sich Chris und Michael Coombes wegen eines Mädchens furchtbar in die Haare kriegten. Andrew schlug sich auf Michaels Seite, was das Ende der Freundschaft mit Chris bedeutete. Evelyn erfuhr später, dass Chris nach der Schule zur Armee gegangen und vor zwei Jahren in den Irak geschickt worden war. Sie konnte sich den hageren Jungen kaum als muskulösen Soldaten mit einem Crew-Cut vorstellen. Seine Mutter betete jeden Abend in der St. Matthew’s Church für seine wohlbehaltene Rückkehr.
In diesem Moment fragte sie sich, wo Andrew wohl heute wäre, hätte er sich bei dem Krach mit Michael nicht auf dessen Seite geschlagen. Wäre er vielleicht auch zur Armee gegangen? Würde sie dann jeden Abend an Mrs Reynolds’ Seite für seine sichere Heimkehr beten? Je länger sie darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr, wie zahlreich die Lebenswege gewesen wären, die Andrew abhängig von einer einzigen Entscheidung hätte einschlagen können. Niemand konnte auch nur ahnen, wie sein Leben verlaufen wäre, hätte er diese oder jene Person nicht kennengelernt oder diesen oder jenen Job angenommen.
Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr, denn schlimmer hätte sein Schicksal kaum sein können. Oder hätte es doch einen Worse Case gegeben? Was, wenn Andrew und James gemeinsam bei einem Autounfall ums Leben gekommen wären? Sie beide Söhne verloren hätte? Ebenso gut hätte er nach dem »Reisejahr« in Europa dortbleiben und irgendwo verschwinden können. Die Eltern von Kindern, die vermisst wurden, sagten übereinstimmend, dass die Ungewissheit das Schlimmste sei. Man sich ständig frage, was geschehen war. Und was, wenn er zur Armee gegangen, in ein fremdes Land geschickt worden und dort in Gefangenschaft geraten und gefoltert worden wäre – in einem Krieg, der ihr vollkommen gleichgültig war?
Ein seltsames, lautes Geräusch riss sie abrupt aus ihren Gedanken.
»Hallo! Bist du noch da?« Violet schnippte vor ihrem Gesicht mit den Fingern.
»Entschuldige! Ich war in Gedanken.«
»Was du nicht sagst! Hätte ich fast erraten. Ich dachte schon, dich hat der Schlag getroffen oder so.« Violet trank einen Schluck Kaffee und fügte hinzu: »Also, was hat dich so beschäftigt, dass du meiner faszinierenden Geschichte nicht folgen konntest?«
»Du hast eine Geschichte erzählt?«
»Ja, habe ich. Und zwar eine umwerfende Story über Salz und Soda im Kampf gegen Rotweinflecken, und ich bin entsetzt, dass dich das kaltgelassen hat. Also raus mit der Sprache! Woran hast du gedacht?«
»Mhm. Ich geb’s ja nur ungern zu, aber ich habe gedacht, dass du wohl recht hast. Ich hab mich in Schuldzuweisungen verrannt. Und das hat mir nicht gutgetan. Die vergangenen sieben Monate habe ich damit vertan, einfach nur wütend zu sein. Wütend und deprimiert. Und damit muss Schluss sein. Ich will nicht mehr. Ist kein schöner Zustand. Ich bin schwierig, nervös und unausgeglichen. Ich weiß, ich muss eine Möglichkeit finden loszulassen. Ich weiß nur noch nicht, wie.«
Violet tätschelte ihre Hand. »Wir finden einen Weg«, versicherte sie ihr. »Ev, kann ich dich was fragen?« Ihre Stimme klang ungewöhnlich zaghaft.
»Was gibt’s?«, erwiderte Evelyn.
»Weshalb hast du eigentlich nie die Person für alles verantwortlich gemacht, die tatsächlich schuld ist? Warum hast du nie ein Wort über diesen Junkie im Supermarkt verloren? Über diesen Jungen, der …« Violet verstummte.
»Der ihn erschossen hat, meinst du?«, ergänzte Evelyn.
»Ja. Versteh mich nicht falsch. Ich will diese Geschichte nicht wieder aufkochen, nachdem du endlich versuchen willst, nicht mehr auf Gott und die Welt wütend zu sein. Es ist nur … Ich dachte, er müsste ganz oben auf deiner Liste stehen.«
Evelyn überlegte. »Das weiß ich selbst nicht genau. Vielleicht weil die Polizei mir nie genau gesagt hat, wie es passiert ist. Dieser Junge … der geschossen hat … er war erst fünfzehn … also minderjährig. Daher haben sie die Details unter Verschluss gehalten. Sie haben nur gesagt, der Schuss habe sich versehentlich gelöst. Mehr nicht. Ich weiß praktisch nichts über den Jungen. Keinen Namen, nicht wie er aussieht, nichts. Belinda dagegen kenne ich. Ich hatte ein Gesicht und einen Namen, eine Person, auf die ich meine Wut konzentrieren konnte.« Sie zögerte und sah die Schwester an. »Idiotisch, was?«
Violet schien den Tränen nahe zu sein. »Nein, das ist nicht idiotisch. Allmählich begreife ich, wie es die vergangenen Monate in dir ausgesehen hat.« Sie räusperte sich. »Aber wir finden einen Weg in die Zukunft. Und am besten fängst du damit an, indem du heute Abend zu der Veranstaltung von GameTech gehst. Andy hat seinen Job geliebt. Er hatte großartige Kollegen und Freunde in der Firma. Fang damit an, ihnen zu verzeihen.«
»In diesem Punkt bin ich bereit nachzugeben … Trotzdem … ich möchte nicht allein dorthin gehen. James ist heute Abend mit Freunden verabredet – ganz abgesehen davon, dass wir noch immer nicht miteinander sprechen. Allein bei GameTech … Ich weiß nicht, ob ich das ertrage.«
»Stimmt, das ist keine gute Idee. Ein Schritt nach dem anderen. Ich begleite dich. Mark kann allein zu diesem offiziellen Abendessen gehen. Ist sowieso eine Veranstaltung mit seinen Partnern aus der Firma. Da wird den ganzen Abend über Geschäfte geredet.«
»Ich weiß nicht … Machst du damit keinen Fehler? Ihr wolltet doch noch mal ganz von vorn anfangen. Du sollst ihn beruflich unterstützen, damit er weniger arbeitet und mehr Zeit für die Kinder hat.«
»Das stimmt schon. Aber heute kann er ausnahmsweise auf mich verzichten. Er wird das verstehen. Die Dinge haben sich geändert … zum Guten, seit du uns auf dieses Wochenende ohne Kinder geschickt hast.« Violet lächelte. »Du hast mich zur Vernunft gebracht. Gott sei Dank.«
»Um Gottes willen! Kein Lob. Sonst bilde ich mir wer weiß was drauf ein.« Evelyn lachte. Es war ihr noch immer rätselhaft, dass ihre normalerweise so vernünftige Schwester tatsächlich daran gedacht hatte, ihren Mann zu verlassen. Und das ohne jeden Eherettungsversuch. Evelyn allerdings hatte es genossen, zur Abwechslung der Schwester helfen zu können. Als Mark erkannt hatte, wie ernst es Violet war, hatte er umgehend Besserung gelobt und war zu Veränderungen bereit gewesen. Allerdings ging dies nicht von heute auf morgen, und Violet musste Kompromisse schließen, aber wie es aussah, waren beide entschlossen, die Krise gemeinsam zu meistern. Auch wenn sie es nicht zugab – ein wenig stolz war Evelyn doch auf sich.
»Dann ist es abgemacht? Wir gehen heute Abend zusammen zu dieser Veranstaltung?«, fasste Violet zusammen.
»Ja, einverstanden. Aber heute Nachmittag absolviere ich erst noch meinen Solosprung. Den Friseur spare ich mir. Keine Widerrede! Die Haare kann ich mir selbst föhnen.«
Die Zeit für Evelyns ersten »echten« Solosprung war reif. Dieses Mal sollte sie ganz auf sich gestellt sein. Bazza würde zwar zusammen mit ihr abspringen, sie jedoch lediglich beobachtend begleiten. Es war die letzte Prüfung, die sie für ihre Fallschirmspringerlizenz bestehen musste. Während Evelyn am Ausstieg im Flugzeug stand und die Welt unter ihr durchrauschte, stellte sie sich zum wiederholten Mal die Frage: »Mein Gott, was mache ich da eigentlich?«
Es war Evelyns erste Begegnung mit Bazza seit der missglückten, so plötzlich beendeten Einladung zum Frühstück. Sie merkte sofort, dass Bazza etwas beschäftigte, er in ihrer Gegenwart ungewohnt nervös wirkte. Normalerweise strahlte Bazza Zuversicht und Optimismus aus. Vor diesem Sprung im Flugzeug jedoch hatte es den Anschein, als versuche er, ihr etwas zu sagen, schrecke jedoch immer wieder davor zurück, das Wort an sie zu richten.
Evelyn machte sich für ihren Absprung bereit, als Bazza die Hände vor den Mund wölbte und rief: »Ich muss Ihnen was sagen!« Vor der Geräuschkulisse dröhnender Flugzeugmotoren und pfeifenden Fahrtwinds konnte sie ihn kaum verstehen.
»Dachte ich mir fast«, rief sie zurück. »Der Zeitpunkt ist jetzt allerdings nicht sonderlich günstig, was?«
»WAS?« Bazza wandte den Kopf zur Seite, um besser hören zu können. »Was haben Sie gesagt?«
»Egal!« Sie musste beinahe lachen. Die Absicht, eine ernste Unterhaltung (und nach seiner Miene zu schließen sollte es dies werden) in über 4000 Metern Höhe vor dem Sprung aus einem Flugzeug zu führen, war absurd. Sie konnte daraus nur schließen, dass es ihm wichtig zu sein schien.
»Wir reden unten!«, rief sie ihm zu und deutete in die Tiefe.
Bazza nickte und hob den Daumen. Sie warf einen Blick auf den zweiten Sprunglehrer, der dieses Mal im Flugzeug zurückbleiben würde. Er gab ihr das Signal zum Absprung. Sie hatten die Absprunghöhe und -position erreicht. Es war Zeit, sich fallen zu lassen.
Also gut, bringen wir ihn hinter uns, diesen …
… dieses verrückte, idiotische, lebensgefährliche Angst-Lust-Erlebnis.
Evelyn konzentrierte sich auf die Atmung, wie Bazza es ihr beigebracht hatte, und schloss die Augen, was Bazza ihr überhaupt nicht geraten hatte, presste die Fußsohlen plan auf den Boden, beugte die Knie und sprang. Als rechts von ihr kurz etwas farbig aufblitzte, wusste sie, dass Bazza ebenfalls in der Luft war. Umgehend stellte sich das bekannte Angstgefühl ein. Dieses »Großer Gott, auf was habe ich mich da nur eingelassen!«, sobald sie realisierte, dass sie im freien Fall der Erde entgegenrauschte und die sichere Flugmaschine aus Metall mit ihren donnernden Motoren, ihrem erfahrenen Piloten, ihren bequemen Sitzen und Sicherheitsgurten hinter sich gelassen hatte.
Aber dann war dieser Augenblick vorüber, und Evelyn wusste wieder, weshalb sie sich gerade diesen Sport ausgesucht hatte. Ein Gefühl grenzenloser Freiheit durchströmte sie, und ihr Gesicht verzog sich unwillkürlich zu einem Lächeln, während der Wind an ihrer Haut riss und die schlackernden Wangen straff hinter die Ohren zu zerren schien – fast so, als habe sie eine doppelte Dosis Botox gespritzt bekommen.
Was ist es nur, das ein so wunderbares Gefühl auslöst?, fragte sie sich, als sie der Erde entgegenfiel. Es war nicht die schöne Aussicht auf den Flickenteppich aus Feldern und Wiesen mit den weichen Silhouetten der Berge im Hintergrund. Das alles interessierte sie nicht wirklich. Sie schloss gegen jede Vernunft erneut die Augen und gab sich vollkommen dem Gefühl des freien Falls hin. Der Wind in ihrem Gesicht, das Gefühl völliger Freiheit in den Adern, es war der absolute Adrenalinkick.
Ihre Gedanken begannen abzuschweifen. Sie dachte an ihre Unterhaltung mit Violet vom Vormittag. Sie dachte an die vielen Auseinandersetzungen während der vergangenen Monate mit James. Sie dachte an ihren Chef, der von ihr forderte, ins Büro zurückzukehren. Und dann dachte sie daran, all die Konflikte in ihrem Leben wie Ballast einfach abzuwerfen.
Warum nicht einfach loslassen?
Ich sollte Belinda anrufen.
Ich sollte mich bei James entschuldigen.
Ich sollte meinen Job kündigen.
Und mit einem Mal gestattete sie es sich, an jenen Tag im EzyMart in der Pitt Street zu denken. Sie begann, die Dinge in einem anderen Licht zu sehen. Sie sah den Ausdruck im Gesicht ihres Sohnes, als er seinen letzten Atemzug tat, und dabei wurde ihr klar, dass sie sich getäuscht hatte. Weder Angst noch Entsetzen hatte sie in seinen Augen gelesen, und er hatte auch nicht verzweifelt, schwach und mitleiderregend gewirkt. Im Gegenteil. Er hatte stark, mutig und stolz ausgesehen, den Eindruck eines Menschen auf sie gemacht, der für sein Schicksal bereit gewesen war, es angenommen hatte und sich von dieser Welt verabschiedete.
Bis später, Mum.
Aber da war noch etwas gewesen. Etwas, das er so fest in seiner Hand gehalten hatte. Etwas so Wichtiges, dass sie es nicht länger ignorieren konnte.
Was war es nur gewesen?
Evelyn traf ein kräftiger Schlag an der Schulter. Sie riss die Augen auf, und was sie sah, ließ ihr Herz einen Schlag lang aussetzen. Ihr Magen verkrampfte sich, und ihre Kehle war wie zugeschnürt. Die Erde sauste ihr mit ungeheurer Geschwindigkeit entgegen, und Bazza war an ihrer Seite, hantierte panisch an der Öffnungsleine ihres Hauptschirms. Starr vor Entsetzen erkannte sie ihren Fehler. Die ganze Zeit über, während sie sich mit geschlossenen Augen ihren Gedanken hingegeben hatte, hatte sie zu zählen vergessen. Wieder vergessen!
Großer Gott! Ich bin so gut wie tot. Das habe ich mir selbst zuzuschreiben.
Bis später, Mum!
In diesem Moment wurde sie mit einem Ruck in die Höhe gerissen. Bazza hatte ihren Fallschirm geöffnet und nur Sekundenbruchteile später seine eigene Reißleine gezogen. Im letzten Moment. Nach der Öffnung des Fallschirms schwebte man normalerweise noch mindestens eine Minute sanft der Erde entgegen, hatte ausreichend Zeit, sich auf die Landung vorzubereiten. Jetzt, nachdem sich der Schirm praktisch in letzter Minute geöffnet hatte, musste sie sich auf eine schwierige, unsanfte Landung gefasst machen.
Evelyn prallte hart auf dem Boden auf, schlug Purzelbäume, verlor das Gefühl für oben und unten, und Himmel und Wiese wurden eins. Irgendwann blieb sie flach auf dem Rücken liegen, ein Bein unangenehm verdreht unter ihr begraben. Wie im Schock wagte sie nicht, sich zu bewegen, und versuchte erst einmal ruhig zu atmen. Dann tastete sie vorsichtig Arme und Beine ab, um festzustellen, ob etwas gebrochen war.
Erstaunlicherweise schienen alle Knochen heil geblieben zu sein – bis auf ein Fußgelenk, das schon unter ihren Blicken dick anzuschwellen begann. Aber das interessierte sie kaum. Sie lebte. Wie um Himmels willen hatte sie das geschafft? Ich kann dir sagen, wie, dachte sie, wütend auf sich selbst. Bazza ist der Grund, weshalb du das überlebt hast. Der Junge hat dich gerettet.
»Lieber Gott, wenn ihm was passiert ist … Das verzeihe ich mir nie!«, murmelte sie, drehte sich um und richtete sich auf, um nach Bazza Ausschau zu halten. Sie hörte ihn, bevor sie ihn sah. »Ev! Ev, ist mit Ihnen alles in Ordnung?«, schrie er schon von Weitem und rannte auf sie zu.
Dem Himmel sei Dank! Ihm ist nichts passiert.
Sie hob die Hand zum Zeichen, dass sie okay war, und ließ sich wieder ins Gras sinken. Bazza war in einiger Entfernung von ihr gelandet. Es würde daher etwas dauern, bis er sie erreichte.
Was zum Teufel hast du dir eigentlich gedacht?, schimpfte sie mit sich selbst, während sie wartete. Sie sah in den stahlblauen, klaren Himmel hinauf und versuchte nachzuvollziehen, in welcher Höhe das Unglück seinen Lauf genommen hatte. In diesem Moment schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf. Es war Andrews Stimme – nicht die des erwachsenen Andrews, sondern seine helle kindliche Stimme vor dem Stimmbruch, mit ungefähr 13 Jahren. Er hatte die Augen verdreht und zu ihr gesagt: »Ich habe ›Bis später, Mum‹ gesagt und nicht ›Bis bald‹!« Was bedeutete das? Woher kam das?
Als Erstes nahm sie in dieser Erinnerung wieder den Geruch von damals wahr: Popcorn, Coca-Cola, Schokoladenkugeln. Stimmt. Es war im Kino gewesen. Andrew und James hatten zum ersten Mal mit Freunden, ohne Begleitung von Erwachsenen, eine Kinovorstellung besucht. Aber Evelyn hatte es nicht über sich gebracht, die Kontrolle ganz aufzugeben. Sie hatte den Kindern zwar zugestanden, nach Filmende bei Timezone noch eine halbe Stunde Computerspiele zu spielen, wartete jedoch bereits besorgt im Foyer, als die Kinder aus dem Kinosaal strömten, um sie in Empfang zu nehmen.
James hatte die Mutter schlicht ignoriert, bewusst jeden Blickkontakt gemieden und war seinen Freunden wortlos in den Timezone-Klub gefolgt. Andrew dagegen war stehen geblieben, hatte gegrinst, und sein Blick hatte ihr deutlich gesagt, dass ihre Sorge Unsinn war, es ihn allerdings nicht störte, dass sie gekommen war. Die Resignation in seiner Stimme war eher als Show vor seinen Freunden gedacht gewesen. Ich habe gesagt, bis später, Mum! Nicht bis bald!
Gerade als Bazza Evelyn erreichte, kamen die Tränen. »Was ist los?«, erkundigte er sich ängstlich. »Wo haben Sie sich wehgetan? Haben Sie sich was gebrochen?«
»Es ist ein Schwangerschaftstest gewesen«, erwiderte sie unter Tränen.
»Was?«, fragte er total verwirrt und verständnislos.
»Den hat er in der Hand gehalten, als er starb. Es war ein Schwangerschaftstest. Er hat offenbar angenommen, dass er Vater wird.«
»Mist! Sie sind ja komplett von der Rolle. Jetzt hat es Sie aber übel erwischt«, sagte Bazza und griff in seine Tasche nach dem Handy.
Im Hangar von SkyChallenge, nachdem sämtliche Formulare ausgefüllt und Evelyn und Bazza ärztlich untersucht worden waren, saß Evelyn mit einem Kühlkissen auf ihrem Knöchel im Gemeinschaftsraum, und Bazza berichtete, was geschehen war. Nachdem Bazza nämlich gemerkt hatte, dass sie ihren Schirm nicht rechtzeitig öffnen würde, hatte er versucht, ihr durch Zeichen zu signalisieren, dass sie offenbar mit dem Zählen durcheinandergekommen sei. Dabei erst war ihm aufgefallen, dass sie die Augen geschlossen hielt, wie in Trance wirkte. Evelyn hörte verlegen zu, sie schämte sich, einen solchen Fehler begangen zu haben, und war doch gleichzeitig glücklich, dass ihr dieses Erlebnis im wahrsten Sinne des Wortes die Augen geöffnet hatte.
Die übrige Belegschaft von SkyChallenge wollte gern mehr über den Verlauf des Sprungs wissen, doch Bazza ließ nicht zu, dass man sie mit Fragen belästigte. Vermutlich wollte er ihr Peinlichkeiten ersparen und gleichzeitig Schuldgefühle zerstreuen. Immerhin hatte sie auch das Leben ihres Begleiters aufs Spiel gesetzt. Allmählich überwand Evelyn den Schock, und ihre Nerven beruhigten sich. Sie warf einen Blick auf die Uhr und entdeckte, dass es schon reichlich spät war, ihr kaum Zeit blieb, sich für die geplante Abendveranstaltung frisch zu machen. Violet sollte sie um Viertel vor 8 Uhr abholen.
»Bazza! Tut mir leid, aber ich muss mich verabschieden. Ich habe heute Abend noch einen wichtigen Termin.« Sie fühlte sich schuldig, ihn so plötzlich allein zu lassen, nachdem er ihr das Leben gerettet hatte, hatte jedoch den Eindruck, dass auch bei ihm der Adrenalinschub noch nachwirkte, den das beinahe tödliche Ende ihres Abenteuers ausgelöst hatte. Vermutlich konnte er es kaum erwarten, mit seinen Kollegen in den Pub zu gehen.
»Klar, keine Ursache«, erwiderte er mit lässiger Geste.
»He, Bazza«, sagte sie und drehte sich an der Tür noch einmal kurz um. »Sie sind ein Held.« Dann humpelte sie, ohne eine Antwort abzuwarten, zu ihrem Wagen und versuchte den stechenden Schmerz in ihrem Knöchel zu ignorieren.
Evelyn setzte sich hinter das Steuer, war froh, ein Modell mit Automatik zu fahren und sich den linken und nicht den rechten Knöchel verstaucht zu haben. Ihre Gedanken kehrten zur Gegenwart und zu dem Anruf zurück, den sie an diesem Abend zu Hause noch tätigen wollte. Bazza und seine Andeutung vor dem Sprung, er wolle etwas Wichtiges mit ihr besprechen, waren vergessen.
Zwischen Dusche, Ankleiden, Föhnen und Schminken (alles ein mühsames Unterfangen, da sie nur ein Bein belasten konnte) versuchte sie, besagte Telefonnummer zu erreichen, doch es meldete sich stets nur der Anrufbeantworter. Violet kam schließlich mit einem Taxi, um sie abzuholen, und wurde wütend, als sie Evelyns geschwollenen Knöchel sah.
»Ich habe dir gleich gesagt, dass das ein idiotischer Sport ist! Wie bist du nur auf diesen Wahnsinn verfallen?«
»Das ist längst nicht alles, was passiert ist«, entgegnete Evelyn von oben herab. Und stieg zu ihrer Schwester ins Taxi. Dort zückte sie ihr Handy und wählte erneut die gewünschte Nummer. Ohne Erfolg.
Sie erreichten die Veranstaltung gerade noch rechtzeitig, betraten den großen Saal und betrachteten pflichtschuldig die riesigen Bildschirme mit den neuesten Produkten der Firma GameTech. Was sie allerdings von dieser Welt der Games halten sollten, wussten sie beide nicht. Videospiele schienen ihnen kaum Kunstwerke zu sein, die man bewundernd betrachten konnte. Durften sie ihren Unmut und teilweise auch ihr Entsetzen zeigen? Oder war gerade dies der gewünschte Effekt?
Evelyn hantierte auch weiterhin mit ihrem Handy, bis Violet sie gereizt anfuhr: »Was gibt es denn so Wichtiges, dass du unbedingt jetzt telefonieren musst?«
Evelyn seufzte, als sich am anderen Ende erneut der Anrufbeantworter einschaltete, und legte auf. »Ich versuche Belinda zu erreichen. Ich hatte heute Nachmittag sozusagen einen hellen Augenblick. Mir ist nämlich klar geworden, dass ich meine Abneigung gegen Belinda überwinden muss. Außerdem muss ich sie etwas sehr Wichtiges fragen. Eigentlich hatte ich erwartet, sie heute Abend hier zu treffen. Wobei ich keine Ahnung habe, ob sie ebenfalls eingeladen ist.«
»Donnerwetter! Woher weht denn jetzt der Wind? Hattest du so eine Art Offenbarung, oder was?« Violet betrachtete die Schwester skeptisch.
»So ungefähr. Leider erreiche ich immer nur ihren Anrufbeantworter.«
»Ach, Ev! Warum gibst du die Telefoniererei nicht auf, entspannst dich und genießt den Abend? Egal was du sie fragen möchtest, es hat bestimmt Zeit bis morgen. Warte mal! Ist das dort drüben nicht Andys Freund Michael Coombes? Gehen wir zu ihm und erkundigen wir uns, welches dieser ausgesprochen gruseligen Machwerke von deinem begabten Sohn stammt.«
Evelyn gab nach, nahm das Glas Champagner, das ihr die Schwester reichte, und steuerte auf Michael zu. Eine Stunde und etliche Gläser Champagner später fühlte sich Evelyn sehr entspannt, die Schmerzen im Fußgelenk waren etwas abgeflaut, und es wurde Zeit für die Preisverleihung.
Als erster Redner trat Andys Chef an das Mikrofon. Wie sich herausstellte, war er kein besonders gewandter Redner. Seine Stimme zitterte. »Hm … also hallo allerseits. Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten? … Ich bitte Sie kurz um Gehör, danke … prima, herzlichen Dank. Wir möchten eine Person würdigen, die heute Abend nicht hier sein kann. Es handelt sich um Andy McGavin. Er war eine sehr wichtige Persönlichkeit bei GameTech und hatte entscheidenden Anteil an unserem ›Snowboard Slasher‹-Projekt. Aber eigentlich war er außergewöhnlich vielseitig begabt und überhaupt ein großartiger Junge. Deshalb wird Ihnen sein Freund und Kollege Michael Coombes jetzt etwas mehr über ihn erzählen.«
Damit trat er sichtlich erleichtert zur Seite und überließ Michael das Feld. Dieser stellte das Mikrofon auf seine Größe ein und begann schnell und selbstsicher. »Alle, die Andy McGavin gekannt haben, wissen, was für ein großartiger Typ er gewesen ist. Immer freundlich, verdammt fleißig und humorvoll, einfach ein richtig guter Kumpel. Mit Abstand mein bester Freund. Ihn im September vergangenen Jahres zu verlieren war für mich und unseren Freundeskreis ein harter Schlag. Aber wie gesagt, ich kannte Andy gut. Und ich weiß, dass es sein Wunsch gewesen wäre, dass wir heute hier feiern und es uns gut gehen lassen. In diesem Sinne … heben wir unser Glas und trinken einen Schluck auf Andy. Wir werden ihn nie vergessen.« Michael hob sein Glas Bier in die Höhe.
»Auf Andy! Er bleibt unvergessen!«, schallte es im Chor aus der Menge, und alle hoben gehorsam ihre Gläser.
Michael beugte sich erneut über das Mikrofon und fügte hinzu: »Und jetzt wenden Sie sich bitte der großen Leinwand zu meiner Rechten zu. Das Projekt steckt zwar noch in den Kinderschuhen … aber, Andy, das hier ist für dich!«
Auf dem riesigen Bildschirm erschienen ein Bild und die Aufschrift: »GameTechs neuestes Projekt! Wird voraussichtlich im Laufe dieses Jahres auf den Markt kommen … ›Andys Street-Fußball-Match‹.« Es folgten einige Szenen aus dem Spiel. Der Protagonist hatte braunes, leicht gewelltes Haar und trug eine Baseballkappe, die Evelyn an Andys Lieblingsmütze erinnerte, die er fast immer getragen hatte. Auch die Gegend, durch die die Hauptfigur die Zuschauer führte, kam ihr reichlich bekannt vor. Auf dem Weg wurden die Menschen auf der Straße zu akrobatischen Einlagen mit einem Fußball und zu einem Spiel animiert. Anschließend zog die Hauptfigur die Begabtesten unter ihnen mit sich, bis genug Spieler für ein Fußballmatch in einem Park zusammengekommen waren. Evelyn fiel auf, dass zahlreiche computeranimierte Personen vertraute Züge hatten und damit auf die eine oder andere Weise an Andys Freunde erinnerten.
Sie schnappte hörbar nach Luft und stieß Violet mit dem Ellbogen an. »Schau doch! Ich glaube, die dort könnte ich sein!«
Auf dem Bildschirm war eine weibliche Person mittleren Alters mit kastanienbraunem Haar und einer cremefarbenen Strickjacke aufgetaucht, die wie eines ihrer Kleidungsstücke aussah.
»Stimmt. Und die da drüben muss Belinda sein.«
Evelyn erfasste eine Welle von Schuldgefühlen, als ihr Blick zu der zierlichen dunkelhaarigen Mädchenfigur schweifte. »Mein Gott, sie war wirklich sehr wichtig für ihn. Ich versuche noch mal, sie zu erreichen.«
»Lass es, Ev! Das ist keine gute Idee. Du hast getrunken. Außerdem ist es schon spät. Ich finde, für diese Art Gespräch solltest du nüchtern sein.« Violet versuchte, ihr das Handy aus der Hand zu nehmen.
»Nein, mir geht’s gut. Nur ein letzter Versuch.« Sie stieß Violets Hand zur Seite, wandte sich ab und steuerte auf eine ruhige Ecke im Saal zu.
Das Rufzeichen ertönte einmal, zweimal, dreimal, und schließlich ertönte eine Stimme:
»Hallo?«
»Du meine Güte, ich dachte schon, ich erreiche dich nie! Belinda, meine Liebe, ich bin’s. Ev!«
Am anderen Ende blieb es lange still. Evelyn wurde nervös. Hm, vielleicht war das etwas zu vertraulich. Sie konnte sich nicht erinnern, in Gegenwart von Belinda je ihren Kurznamen »Ev« benutzt zu haben. »Ev« war allein der engsten Familie vorbehalten. Vielleicht hatte sie doch etwas zu viel getrunken. Dennoch fuhr sie fort: »Entschuldige, dass ich so spät anrufe, aber ich versuche schon den ganzen Tag über, dich zu erreichen. Ich habe mich schrecklich gefühlt – ich muss dir unbedingt etwas sagen.«
»Ach wirklich?«, erwiderte Belinda gedehnt am anderen Ende. Es klang, als rede eine Ärztin mit einem geistesgestörten Patienten.
»Ich habe mit Fallschirmspringen angefangen, musst du wissen. Und heute hatte ich einen kleinen Unfall. Das heißt, ich wäre fast ums Leben gekommen. Durch eigenes Verschulden. Dabei ist mir kurz vor der Landung etwas klar geworden. Ich bin dir gegenüber nicht fair gewesen. Die ganz Zeit über habe ich dir die Schuld gegeben für … also eigentlich für alles. Jetzt weiß ich, dass das idiotisch war. Ich muss nicht mehr wütend sein!« Evelyn hielt inne, und als es am anderen Ende still blieb, fuhr sie hastig fort: »Es soll alles anders werden. Ich mache es wieder gut. Was ich dir angetan habe, meine ich. Es würde die Sache natürlich beschleunigen, wenn du mir verzeihen könntest. Diese Schuldgefühle sind wahrhaftig kein Zuckerschlecken. Ist ein verdammt unangenehmes Gefühl.«
»Also für mich ergibt das irgendwie keinen Sinn. Wovon reden Sie? Von Skydiving? Und dabei sind Sie beinahe ums Leben gekommen? Mrs McGavin, haben Sie vielleicht getrunken?« Die Stimme am anderen Ende klang vorwurfsvoll.
»Nur ein bisschen. Aber das tut jetzt nichts zur Sache. Also sag schon! Kannst du mir verzeihen? Ich sorge inzwischen dafür, dass du eine Kopie von Andys Preis für dieses GameTech-Fußball-Dingsda bekommst.«
»Okay. Aber darum geht es mir gar nicht. Vermutlich rufen Sie von der Preisverleihung aus an und hatten ein paar Gläser Champagner zu viel. Mrs McGavin, ich habe einen langen Tag hinter mir und bin todmüde. Ihr Anruf kommt für mich etwas überraschend. Aber wenn Sie’s unbedingt hören wollen … Okay, ich verzeihe Ihnen. Wie ich Sie kenne, fürchte ich allerdings, dass Sie morgen in nüchternem Zustand wieder einen Rückzieher machen. Ist damit alles gesagt? Ich würde jetzt nämlich gern ins Bett gehen.«
Evelyn war verunsichert. »Ja, natürlich, geh nur schlafen.« Evelyn wollte schon auflegen, als ihr einfiel, dass sie die wichtigste Frage gar nicht gestellt hatte. Die entscheidende Frage, die sie schon den ganzen Nachmittag und Abend über quälte.
»Nur eines noch! Da ist etwas, Belinda … Du bist doch nicht etwa schwanger, oder?«
»Wie bitte? Weshalb fragen Sie? Wer sagt das?« Ihre Stimme wurde scharf.
Aha. Natürlich ist sie nicht schwanger. Ich habe das arme Mädchen beleidigt. Sie glaubt, jemand ist der Meinung, sie sähe schwanger aus, dabei ist sie’s gar nicht. Wie entsetzlich peinlich! »Nein, es hat niemand etwas darüber gesagt. Da war nur etwas, das ich gesehen habe … an dem Tag …« Sie holte tief Luft. »An dem Tag, als Andrew gestorben ist. War vermutlich ein Irrtum«, fuhr sie fort.
»Wie bitte? Was … was haben Sie gesehen?«
»Als ich in diesen Laden gekommen bin und ihn dort liegen sah, hielt er einen Schwangerschaftstest in der Hand. Er muss aus irgendeinem Grund gedacht haben, dass du schwanger bist. Offenbar hat er sich geirrt.«
Am anderen Ende blieb es lange still. Schließlich sagte Belinda kleinlaut: »Nein, nicht unbedingt.«