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Evelyn
Evelyn saß im Dunkeln in ihrem Wohnzimmer und starrte aus den Erkerfenstern auf die ruhige Vorortstraße. Ihr war leicht übel. Allmählich dämmerte ihr, wie beschämend sie sich beim Begräbnis ihres Sohnes verhalten hatte. Sie war so sicher gewesen, den Tag nur zu überstehen, wenn sie all ihre Wut auf diese dumme Gans konzentrierte. Mittlerweile jedoch kam ihr ihr Verhalten nur noch peinlich und kindisch vor. Zu ihren Gefühlen allerdings stand sie. Lediglich ihre Methoden waren falsch gewesen.
Evelyn hatte eine wunderbare Grabrede aufgesetzt, den freundlichen, liebevollen Charakter ihres Sohnes beschrieben, seine Talente, seinen Sinn für Humor und seine vielversprechende Karriere. Seine Verlobte hatte sie dabei mit keinem Wort erwähnt … bis zur allerletzten Zeile.
»Und abschließend möchte ich euch sagen: Falls ihr euch fragt, wer für Andrews Tod verantwortlich ist – diese Person ist hier, unter uns – sitzt dort in der ersten Reihe.« Daraufhin hatte Evelyn mit dramatischer Geste auf Belinda gezeigt. Die Trauergemeinde hatte mit atemlosem Schweigen reagiert. Der Pfarrer verhaspelte sich anschließend mehrfach bei dem Versuch, den Gottesdienst würdevoll zu beenden.
Zu dem Zeitpunkt hatten Belindas entsetzte, tränennasse Züge Evelyn nicht im Geringsten beeindrucken können. Mittlerweile allerdings war die Genugtuung über ihren vermeintlichen Coup verflogen und einem irritierenden Unwohlsein gewichen. Während des Traueressens hatten alle Gäste so getan, als sei nichts geschehen. Selbst Belindas Familie hatte ihr höflich und ohne die Spur von Falschheit im Blick ihr Beileid ausgesprochen. Jetzt tuschelten sie bestimmt alle hinter ihrem Rücken über sie. »Die alte Schlampe tickt doch nicht mehr richtig, wenn du mich fragst.« »Stimmt, der kann nicht mal mehr ein anständiger Psychiater helfen. Die ist ja komplett durchgeknallt.«
Wie sollte sie das alles nur ertragen? Es war unfair – sie hatte vor gut 15 Jahren ihren Mann Carl begraben. Seither hatte sie niemanden an ihrer Seite, niemanden, der mit ihr litt. Von dem Augenblick an, da sie bei Carls Beerdigung die Kirche verlassen und ihre Söhne dabei erwischt hatte, wie sie sich prügelten, war ihr klar gewesen, dass sie nun mit allen elterlichen Problemen allein sein würde. Diese Aussicht hatte sich derart deprimierend und schwer auf ihre Seele gelegt, dass sie beinahe nicht rechtzeitig reagiert hätte. Aber dann hatte sich ihr Mutterinstinkt durchgesetzt, und sie hatte Andrews Faust gepackt, noch bevor er James vor dem Traueressen eine blutige Nase verpassen konnte.
*
»Andrew! Was zum Teufel machst du da?«
»Er erzählt gemeine Dinge über Dad. Sag ihm, er soll das zurücknehmen. Sag ihm, dass es nicht stimmt! Überhaupt nicht stimmt.«
»Gut. Aber zuerst beruhigt euch. Los jetzt! Wir gehen zu der Bank dort drüben und unterhalten uns. Wir müssen das regeln, bevor die anderen aus der Kirche kommen.«
»Aber du hättest ihn hören sollen, Mum. Du hättest hören sollen, wie er Dad genannt hat.«
»Stopp! Hört zu. Ich weiß, der heutige Tag ist schlimm für euch beide. Ihr habt euren Vater sehr gerngehabt … Ich übrigens auch. Er war ein wunderbarer Mann, und er wollte so gern mit euch fischen gehen.«
»Ach wirklich? Warum dann …«
»Ich bin noch nicht fertig, James Matthew McGavin. Wenn euer Vater es hätte ändern können, dann hätte er euch oder mich um keinen Preis der Welt allein gelassen. Da bin ich sicher. Trotzdem dürft ihr wütend sein. Und ihr dürft weinen … Es ist absolut keine Schande, beim Begräbnis des eigenen Vaters Tränen zu vergießen. Aber Prügeleien unter Geschwistern schicken sich nicht. Also haltet euch zurück. Nur dieses eine Mal! Bitte vertragt euch. Mir zuliebe, ja?«
*
Sie fuhr zusammen, als sie ein Geräusch hinter sich hörte, und drehte sich um. Ihre Schwester Violet kam aus der Küche.
»Okay, die letzte Ladung läuft im Geschirrspüler.«
»Vi, ich hatte fast vergessen, dass du noch hier bist.« Evelyn war wie so oft überrascht, wenn sie in das Gesicht ihrer Schwester sah. Sie war ihr Ebenbild, nur eben sieben Jahre jünger und daher um sieben Jahre milder gestimmt. Die Ähnlichkeit war verblüffend, obwohl Violet ihr Haar lang und locker im Nacken zusammengebunden trug, was sie im Übrigen noch jünger wirken ließ.
Evelyn war froh, Gesellschaft zu haben. Sie musste ihre Gedanken auf andere Dinge konzentrieren, aufhören, sich Vorwürfe wegen des heutigen Tages zu machen.
»Das war vielleicht eine Szene, die du dir bei der Beerdigung geleistet hast!« Violets Stimme klang bemüht unbekümmert und unaufgeregt.
Da geht er hin, mein Wunsch nach Ablenkung.
»Hör mal, Vi! Das Letzte, was ich jetzt brauche, sind irgendwelche Schuldzuweisungen, okay?«
»Ev, ich hatte das zwar wirklich nicht vor, aber ich finde, wir müssen uns unterhalten. Ich weiß, wie traurig du bist. Und trotzdem … dein Verhalten war in den letzten Tagen ein bisschen … daneben.«
»Wie bitte? Ich habe mein Kind verloren, meinen Sohn, und du findest, ich sei etwas ›neben der Spur‹?«
Violet machte augenblicklich einen Rückzieher. »Na gut, war vielleicht nicht gerade geschickt ausgedrückt, aber ich mache mir Sorgen um dich – wie du damit umgehst.«
»Ich sollte damit erst gar nicht ›umgehen‹ müssen. Eltern sollten ihre Kinder nicht beerdigen müssen! Für einen solchen Verlust sind wir nicht geschaffen. Also verzeih mir bitte, dass ich mich nicht wie die trauernde Mutter im Bilderbuch benehme.« Evelyns Stimme war gefährlich schrill geworden.
»Entschuldige. Ich will dich nicht aufregen. Es ist nur … Ich fürchte, du frisst alles in dich hinein. In meiner Gegenwart hast du jedenfalls noch keine einzige Träne vergossen. Ich bitte dich! Ladendiebstahl? Rauchen? Trinken? Das bist doch gar nicht du. Ich meine, das eine oder andere Glas vielleicht … aber …« Sie verstummte.
»Und was zum Teufel erwartest du von mir?«
»Dass du mit mir über deine Gefühle sprichst. Lass dich wenigstens umarmen, verdammt!« Violet trat hoffnungsvoll auf ihre Schwester zu. Ihr Optimismus wurde nicht belohnt.
»Dann stell dir mal vor, du verlierst eines deiner Kinder, schuldlos, ohne vernünftigen Grund, vollkommen sinnlos. Und dann sehen wir mal, wie du damit umgehst!«
Evelyn wandte sich ab, wollte aus dem Zimmer marschieren, stolperte jedoch über einen Blumenstrauß, der neben der Türöffnung lag. Sie senkte den Blick auf die beiliegende Karte. Darauf stand: »Wir sind in unseren Gedanken und mit unseren Gebeten bei Ihnen – Mr und Mrs Heartford«.
Heartford, Heartford … Ahhh, Belindas Eltern.
Evelyn bückte sich, hob den Blumenstrauß auf und schleuderte ihn quer durch den Raum. »Da hast du’s. Na, wie zeige ich jetzt meine Gefühle?«
Später, nachdem Violet den Mut gefasst hatte, Evelyn zu folgen, betrat sie die Küche und berührte versuchsweise die Schulter der Schwester, die ihr den Rücken zuwandte. Evelyn hatte ausdruckslos in den leeren Kamin gestarrt. Jetzt drehte sie sich um. Violet legte behutsam ein Kartenspiel auf den Tisch und wartete ab. Evelyn warf einen Blick auf die Karten und sah dann ihre Schwester an.
»Hat ja gedauert. Wieso hast du so lange gebraucht?«
Sie verbrachten den Rest der Nacht damit, Flip The Cards zu spielen – das Kartenspiel für Geistesgegenwärtige, das in der Familie über die Jahre eine Art Kultstatus erreicht hatte. Ein Stück Kindheit, das sich ihre beiden Jungs stets bewahrt hatten. Selbst als Teenager, wenn Evelyns Vorschläge als extrem »langweilig« abgetan worden waren, hatten sie sich immer noch zu einer Runde Flip und der Chance herabgelassen, der Familienchampion zu werden.
James kam kurz nach vier Uhr morgens nach Hause. Er setzte sich an den Tisch, nahm seine Mütze ab – eine Baseballkappe, die, wie Evelyn unwillkürlich registrierte, Andrew gehört hatte, eine, die die etwas längeren sandfarbenen Locken des Bruders fast verdeckte und ihn Andy mit dem stets kurzen, saubereren Haarschnitt noch ähnlicher machte – und sie ließen ihn wortlos mitspielen. Bei Sonnenaufgang hatte James das Schweigen gebrochen und angefangen, Geschichten von seinem Bruder zu erzählen, einige davon kannten sie bereits, andere waren sowohl für die Mutter wie für die Tante eine Überraschung. James schwelgte in Erinnerungen an jene Zeiten, als Andy ihm stets aus der Klemme geholfen hatte – ob gebeten oder ungebeten. Schließlich fiel Violet mit ein paar eigenen Geschichten ein, und nach einer Weile merkte Evelyn, dass sie zum ersten Mal seit der Nachricht von Andys Tod unbeschwert lächeln konnte.