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Evelyn

Am Tag nach dem Tod ihres Sohnes verbrachte Evelyn den Nachmittag am Computer und spielte Videospiele. Sie konnte das nicht sonderlich gut, hatte es eigentlich nie zuvor versucht. Dennoch zog sie die alte Spielkonsole aus Andrews ehemaligem Kinderzimmerschrank und probierte unter lautem Fluchen herauszufinden, wie man sie an den Fernseher anschloss.

Die bis dahin militante Nichtraucherin leerte beim Videospiel eine halbe Schachtel Zigaretten. Und das, obwohl sie nie einer Menschenseele erlaubt hatte, mit einer Zigarette in der Hand ihr Haus zu betreten. Mittlerweile allerdings lag ein Häufchen ausgedrückte Kippen in der dekorativen Royal-Doulton-Schale auf ihrem Couchtisch aus Zedernholz.

Das Päckchen Zigaretten hatte sie eingeklemmt in einer Ecke seines Schranks entdeckt, während sie den Nintendo aus einem Durcheinander von unnützem Kram herausgeschält hatte. Ich hatte keine Ahnung, dass er geraucht hat. Was ist mir sonst noch alles entgangen? Hätte sie die Zigaretten vor zehn Jahren gefunden, hätte sie ihm den Hals umgedreht. Aber die Wut, die beim Anblick der Packung – verborgen zwischen der alten Lego-Sammlung, von der er sich nicht hatte trennen können, und dem nagelneuen, noch verschweißten Star-Wars-Game (das er in ungefähr zwanzig Jahren bei eBay verkaufen wollte) – kurz in ihrer Magengrube gebrannt hatte, verflog sehr schnell, als ihr klar wurde, dass die Zielperson ihres Ärgers gar nicht mehr existierte.

Als ihre nicht an Nikotin gewöhnte Lunge den Dienst zu versagen drohte und sie es leid war, immer wieder in diesem brutalen Videospiel getötet zu werden, stand sie von der Couch auf und ging ins Bad. Sie schrubbte sich den Nikotinfilm von den Fingern und kämmte ihr Haar, legte etwas rosa Lippenstift und Rouge auf und strich sich die Hose glatt.

Anschließend ging sie einkaufen.

Wenn es galt, nach außen hin Haltung zu wahren, war sie Expertin, geschult in der Kunst, Gefühle zu unterdrücken. Tränen waren schlicht nutzlos. Hysterie kam nicht infrage. Ganz im Gegenteil. Sie hielt sie sicher und tief versteckt, weggesperrt – abgeschlossen, den Schlüssel weggeworfen, die Lippen versiegelt, das Gesicht eine undurchdringliche Maske.

Bla, bla, bla. Wem zum Teufel will ich was vormachen? Mein verdammter Sohn ist tot.

Ah, schau an! Die neue Sommerkollektion ist bei Noni B im Schaufenster! Ein geschmackvoller anthrazitfarbener Hosenanzug dürfte das perfekte Outfit für die Beerdigung sein. Außerdem muss ich diesen charmanten Floristen anrufen, der die Hochzeit der beiden ausstatten sollte.

*

»Socken? Unterwäsche? Winterstrümpfe? Winterunterwäsche?«

»Ja, Mum. Alle mögliche Unterwäsche und Socken für das ganze Jahr. Pass auf! Hier sind meine Herbstsocken und dort die Frühlingssocken, und oh, schau an, da sind ein paar Sommerunterhosen. Sind die nicht anbetungswürdig?«

»Mach dich nicht über mich lustig, Junge. Ich habe dich auf diese Welt gebracht, und ich kann dich verdammt gut wieder dorthin packen, wo du hergekommen bist!«

»Reizende Vorstellung, Mum!«

»Du musst entschuldigen, aber ich bin ein bisschen angefressen. Schließlich wollen zwei Drittel meiner Familie in weniger als vierundzwanzig Stunden ein Flugzeug besteigen und für weiß der Geier wie lange um die halbe Welt reisen.«

»Oh Gott! Du fängst nicht wieder mit dieser Schuldgefühle-Nummer an, oder?«

»Ich sage nur, was Tatsache ist, Andrew. Wo zum Beispiel ist dein Zwillingsbruder? Hat er überhaupt schon angefangen zu packen?«

»Machst du Witze? Du solltest nicht mal erwarten, dass James gepackt hat, wenn morgen früh draußen das Taxi vorfährt. Warum sich unnötig Hoffnungen machen? Du musst nur deine Erwartungen runterschrauben, dann schockt er dich eines Tages, indem er sich selbst übertrifft und dem Sonnenuntergang entgegenschreitet.«

»Herzchen, du weißt, wie sehr es mich ärgert, wenn du sinnlose Metaphern benutzt. Das klingt, als wärst du schwul.«

»Herrje, Mum!«

*

Sie stand in der Umkleidekabine bei Noni B und starrte auf ihr halbnacktes Spiegelbild. Sie legte die Hände auf die Hüften und drehte sich von einer Seite zur anderen.

Schlaffes weißes Fleisch, die Kaiserschnittnarbe. Wann ist mein Körper so alt geworden?

Sie stieg in die Hose, zog den Reißverschluss über ihrem Bauch hoch und strich den Stoff glatt. Als Nächstes kam die knisternd neue schwarze Bluse und darüber das anthrazitfarbene Jackett. Ihr nackter Körper mit all seinen Schwachstellen trat in den Hintergrund. Im Spiegel zeigte sich stattdessen ein selbstsicheres (und jüngeres) sowie schlankeres Konterfei. Blendend gepflegte Fingernägel. Gut frisiertes kurzes kastanienbraunes Haar (ohne einen Anflug von Grau). Wunderschöne Perlenohrringe.

Sie hatte sich vollkommen unter Kontrolle.

Gefasst.

Gleichmütig.

Unerschrocken.

Sie steckte die Preisschilder ihres neuen Outfits außer Sichtweite in Taschen und Hosenbund, griff nach ihrer Handtasche, ließ ihre alte Hose und Bluse in einem Häuflein auf dem Boden zurück und verließ mit energischen Schritten die Umkleidekabine und den Laden. Die Sicherheitsetiketten lösten zwar Alarm aus, doch sie passierte die Glastür zufällig gemeinsam mit einer Mutter und deren zwei Töchtern, die augenblicklich kehrtmachten und zur Verkäuferin zurückgingen – wo sie unter deren prüfendem Blick mit breitem, leicht genervtem Lächeln ihre Taschen weit öffneten.

Evelyn ging weiter bis zum Coffeeshop am anderen Ende des Einkaufszentrums und setzte sich an einen Tisch in der Ecke. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Sie war beschwingt und kam sich gleichzeitig absolut lächerlich vor. Warum um Himmels willen hatte sie das getan? Keiner im Laden hatte sie eines zweiten Blickes gewürdigt, als sie mit hoch erhobenem Kopf rausmarschiert war. Rückblickend wurde ihr klar, welches Glück sie gehabt hatte, unbemerkt in einem völlig anderen Aufzug als in dem, in dem sie den Laden betreten hatte, zu entwischen. Bis zu diesem Augenblick hatte sie keinen Gedanken an die Sicherheitsetiketten verschwendet. Das Adrenalin, das sie während dieser Verrücktheit in Hochstimmung versetzt hatte, verflog allmählich, während sie einen Latte macchiato bestellte. Die Gedanken fuhren Karussell.

Ich sollte mir beim Rausgehen noch Brot besorgen. Hätte heute eine Menge Wäsche erledigen können. Die Sonne scheint so herrlich. Ich sollte bald mit Vi sprechen, wir haben uns seit Wochen nicht gesehen. Und ich muss endlich meinen Sohn anrufen und ihm sagen, dass sein Zwillingsbruder gestorben ist.

Evelyn griff in ihre Tasche nach dem Portemonnaie. Sie musste an die frische Luft, bevor noch mehr irritierende Gedanken auf sie einstürmten. Sie runzelte die Stirn, als sie ins Leere tastete, das Portemonnaie nicht zu fassen bekam. Sie hob die Handtasche auf den Tisch, begann darin zu wühlen und erstarrte. Das Portemonnaie steckte in der Tasche der anderen Hose. In der Hose, die sie auf dem Fußboden der Umkleidekabine von Noni B zurückgelassen hatte.

*

»Jungs, was zum Teufel habt ihr euch nur gedacht? Habt ihr überhaupt einen vernünftigen Gedanken daran verschwendet? Ich meine, ich dachte immer, dass ihr zusammen zumindest eine halbe Gehirnhälfte besitzt. Vielleicht war das ein Irrtum. War’s das? He, Jungs?«

»Er hat mich gezwungen.«

»Oh James! So eine faule Ausrede nehme ich von meinem kreativen Sohn nicht hin. Komm schon! Du kannst es besser!«

»Mum, bitte! Es stimmt. Es war alles mein Fehler … Ich wollte unbedingt ein Skateboard. Und ich habe ihn überredet, mir beim Klauen zu helfen.«

»Siehst du! Hab ich doch gesagt. Er hat mich gezwungen!«

»Ihr beide habt wohl nur Sägespäne in euren Köpfen! Andrew, du hast einen weiten Bogen um Skateboards gemacht, seit du vom Board dieses ›Soundso am Ende der Straße‹ gekippt bist. Fällt mir verdammt schwer zu glauben, dass du unbedingt ein eigenes haben wolltest. Bei dir, James, ist das was anderes. Aber wie auch immer. Ihr beide steckt jetzt tief in der Tinte.«

*

Sie stand auf und ging zur Kaffeetheke, bereit, ihre Situation zu erklären – jedenfalls bis zu einem bestimmten Punkt. Der Manager hinterm Tresen war viel zu sehr damit beschäftigt, eine Bedienung im Teenageralter zurechtzuweisen, um Evelyn überhaupt wahrzunehmen. Sie sah sich um, entdeckte, dass das einzige andere Mitglied der Belegschaft, ein Kellner im Alter ihres Sohnes, auf einen Stuhl gestützt mit einem hübschen Mädchen flirtete, während dessen schüchterner Freund gegenüber vor Verlegenheit rot anlief.

Also wirklich! Warum Erklärungen abgeben? Ist reine Zeitverschwendung.

Einmal ein Dieb …

Evelyn marschierte aus dem Coffeeshop, geradewegs zurück zu Noni B. Sie hatte schon den Ladeneingang erreicht, als hinter ihr eine bekannte Stimme ertönte.

»Hallöchen! Hallo! Hier sieht man sich also!«

Du meine Güte, sind wir wirklich schon so alt, dass wir uns mit »Hallöchen« begrüßen müssen?

»Hallo, Marge. Wie geht’s?«, erkundigte sie sich emotionslos, als sie sich umdrehte und ihre rundliche, gutmütige Nachbarin erkannte, die hastig auf sie zukam. Marge schob einen Buggy mit einem ebenso rundlichen kleinen Jungen vor sich her. Der Kleine betrachtete die Geschäfte mit einem Gesichtsausdruck, als chauffiere man ihn durch sein eigenes Königreich. Sie stellte sich plötzlich seine Zukunft vor, sah ihn als feisten Geschäftsmann Mitte dreißig, wie er einer Sekretärin schnarrend Befehle erteilte, und registrierte erst jetzt, dass die Nachbarin ihr ausschweifend erzählte, welche erstaunliche Orientierungsfähigkeit ihr Enkel im Einkaufszentrum besaß.

»… und der kleine Zwerg findet doch immer den Weg zum Darrell-Lea-Schokoladengeschäft im dritten Stock. Ist das zu fassen? Und das von ganz allein. Ich habe zu Bob gesagt: ›Wer kann dem kleinen Burschen widerstehen?‹ Ich kann gar nicht anders, als mit ihm in den Laden zu gehen, damit er sich eine kleine Belohnung aus Schokolade aussuchen kann. Aber Mummy sagen wir nichts davon, gell Herzchen?«, gurrte sie in Richtung des Jungen. Das Kind drehte sich um, sah Evelyn an, und sie hätte schwören können, dass er ihr dabei mit Verschwörermiene zuzwinkerte. So als wolle er damit andeuten: »Ich bin da auf eine Goldader gestoßen!«

»Also, wie geht es Ihnen? Sie haben sich einen neuen Hosenanzug gekauft, wie ich sehe.« Marge hatte schließlich den Blick von ihrem Enkel abgewandt und betrachtete nun die unrechtmäßig erworbenen Kleidungsstücke an Evelyn mit einem Anflug von Neid.

Jetzt nur nicht die Fassung verlieren! Sie muss nicht erfahren, was in deinem Privatleben los ist. Und es geht sie auch wirklich nichts an, was ich mir heute geleistet habe. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.

Ach was! Scheiß drauf!

»Tja, Marge, gestern ist mein Sohn gestorben. Das heißt, er ist erschossen worden. Nein, nicht James. Andrew. Daher habe ich den Tag mit Videospielen verbracht, eine halbe Packung Zigaretten geraucht und diesen Hosenanzug bei Noni B geklaut. Aber jetzt bin ich auf dem Rückweg in den Laden, um mein Portemonnaie zu holen, das ich in der Umkleidekabine vergessen habe. Das habe ich erst gemerkt, als ich bei Percy’s Coffeeshop einen Latte macchiato bezahlen wollte – den ich dann übrigens ebenfalls nicht bezahlt habe. Also entschuldigen Sie mich. Ich muss mein Geld aus dem Laden holen, bevor diese dämlichen jungen Verkäuferinnen es finden und mich wegen Diebstahls anzeigen. Wäre ziemlich unangenehm, wo ich doch alle Hände voll damit zu tun habe, eine Beerdigung zu organisieren. Aber bevor wir uns verabschieden, Marge, möchte ich Ihnen doch raten, Ihren Enkel mal aus seinem Buggy zu werfen, damit er sich ein paar überschüssige Pfunde ablaufen kann. Den Weg zu Darrell Lea in diesem Einkaufszentrum zu finden ist nicht nur viel zu simpel für ein Kind, das in den Kindergarten gehört, sondern für den kleinen Fettwanst auch außerordentlich kontraproduktiv.«

*

»Mum? Hast du einen Moment Zeit?«

»Was gibt’s denn, Liebling?«

»Hm, ich muss dir was sagen.«

»Okay. Raus mit der Sprache. Was ist los? Was hast du angestellt?«

»Mum, ich habe überhaupt nichts angestellt. Eigentlich … hm, geht es um etwas, das ich vorhabe. Kannst du mal eine Sekunde aufhören zu bügeln und mir zuhören? Es ist irgendwie wichtig!«

»Hast du den Ring schon gekauft, oder kann ich dir helfen, was Geschmackvolles auszusuchen?«

*

Sie hastete zurück zu Noni B und war sich Marges entgleister Gesichtszüge und weit aufgerissener Augen in ihrem Rücken peinlich bewusst. Du meine Güte, bin ich jetzt vielleicht zu weit gegangen? Aber Evelyn wurde von diesen Gedanken augenblicklich durch die Mutter mit ihren zwei Töchtern abgelenkt, die noch immer vor der Ladentheke standen. Die eine Tochter schluchzte auf reichlich unattraktive, haltlose Weise, während die andere ihrer Schwester böse Blicke zuwarf. Die Mutter wirkte außer sich vor Wut und versuchte, die beiden Verkäuferinnen davon zu überzeugen, dass es ganz unnötig wäre, die Hausdetektive zu holen, alles falscher Alarm wäre, den man sich sparen könne. Es handle sich um einen schrecklichen Irrtum. Ihre Tochter habe das Top nur versehentlich unter ihrer Jacke angelassen.

Donnerwetter! So ein Zufall! Die Herrschaften waren also ebenso schuld wie sie, dass der Alarm losgegangen war. Das Tamtam neben der Kasse verschaffte Evelyn Gelegenheit, unbemerkt in die Umkleidekabine zu schlüpfen, ihre alten Klamotten (die noch immer auf dem Fußboden lagen) anzuziehen, ihr Portemonnaie aus der Tasche zu nehmen und zur Kasse zu gehen, um diesmal den Hosenanzug ganz offiziell zu bezahlen. Die Verkäuferin, die Evelyns Einkauf abwickelte, brachte es fertig, sie während des gesamten Vorgangs keines Blickes zu würdigen und stattdessen in regelmäßigen Abständen ein Auge wohlgefällig auf ihr Spiegelbild zu werfen.

Das Securityteam tauchte im Verkaufsraum auf, als der Hosenanzug gerade in eine Einkaufstüte wanderte. Die Mutter der beiden Mädchen erging sich augenblicklich erneut in Erklärungen, während die zweite, kompetentere Verkäuferin die Hausdetektive anblaffte, weil sie sich mit ihrem Erscheinen so lange Zeit gelassen hatten. Die hysterisch schluchzende Tochter begann zu jammern, dass ihre Schwester sie überredet habe, es zu tun, woraufhin die Mutter sofort ihre höfliche Maske fallen ließ und wütend auf die Töchter losging.

»Angela, wie oft muss ich dir noch sagen, dass du deine Schwester nicht dazu verleiten sollst, Dummheiten zu machen? Und du, Monique, hältst den Mund – du musst nicht alles tun, was Angela dir sagt. Sie ist deine Zwillingsschwester, aber ich bin verdammt noch mal deine Mutter – wie wär’s, wenn ihr beide zur Abwechslung mal macht, was ich euch sage?«

Evelyn hatte höflich zugehört, das Theater irgendwie genossen, bis das Wort »Zwilling« fiel. Sie fühlte mit einem Mal einen stechenden Schmerz in der Magengrube und das lächerliche Verlangen, diese Mutter zu sein, die nur ihre liebe Mühe mit zwei pubertierenden Teenagern hatte.

Ich habe meinen Sohn verloren.

Eine Welle der Trauer überkam sie und drohte sie in einen dunklen Abgrund zu reißen. Sie floh aus dem Bekleidungsgeschäft in die nächste, glücklicherweise leere Toilette. Dort gestattete sie sich fünf tränenreiche Minuten. Fünf Minuten der Sehnsucht und der Wut und die verzweifelte Bitte an eine höhere Macht, das alles möge ein grausamer, furchtbarer Scherz und Irrtum sein.

Das ist ein böser Traum. Es ist nicht richtig, und es ist nicht fair, und es ist völlig irreal. Es kann einfach nicht sein. Kann doch nicht mir passiert sein. Nicht jetzt. Und niemals.

Aber es war unleugbar die Realität. Und darüber in der Toilette eines Einkaufszentrums Tränen zu vergießen änderte nichts. Sie tupfte die Wimperntusche trocken, straffte die Schultern, holte tief Luft und verließ die Toilette und das elende Einkaufszentrum.

*

»Hallo, hier ist Evelyn … Kein guter Zeitpunkt, Belinda. Vielleicht kannst du morgen wieder anrufen? Oder vielleicht nächste Woche. Ja, nächste Woche wäre es am besten … Natürlich. Mache ich. Wiederhören.«

»Wer war das am Telefon, Mum?«

»Nur diese Dingsbums. Aber keine Sorge, ich habe ihr gesagt, dass es jetzt nicht passt.«

»Was soll der Quatsch? War das nicht gerade Belle, die angerufen hat?«

»Belinda. Ja, war sie.«

»Okay, Mum. Ich versuche wirklich alles, um mit dir klarzukommen. Ich tue mein Bestes. Aber warum zum Teufel hast du mich nicht ans Telefon geholt?«

»Weil du lernen sollst, Liebling. Ich finanziere dir doch nicht das Studium, damit du deine Zeit mit naiven jungen Mädels totschlägst, statt dich auf deine Arbeit zu konzentrieren.«

»Erstens finanzierst du mein Studium nicht. Schon mal was von Stipendien gehört? Der Staat finanziert mein Studium. Und zweitens, danke, Mum. Herzlichen Dank!«

»Keine Ursache, mein Junge. Gern geschehen.«

»Danke, dass du es mir so leicht machst. Ich ziehe aus. So bald wie möglich.«

*

Sie verließ das Einkaufszentrum und legte sich auf der Rückfahrt in Gedanken einen Plan zurecht. Es gab einen Schuldigen für dieses Unglück, und sie wusste verdammt gut, wen die Verantwortung traf. Wenn er diese dämliche, nichtsnutzige Belinda mit ihrem aufreizenden Gehabe, ihrem Puppengesicht und ihren dünnen, langen Beinen nicht kennengelernt hätte, wäre er nie auf die Idee gekommen, zu Hause auszuziehen. Dann hätte ihm Michael Coombes keinen Job in diesem lächerlichen GameTech-Büro in der City besorgt, er wäre niemals in diese Situation von gestern Nachmittag geraten, und andere, namenlose und gesichtslose Eltern würden jetzt um ihr Kind trauern.

Wen kümmert’s schon, wen es getroffen hätte, solange es nur nicht mein Sohn ist!

Es lag auf der Hand: Belinda trug die Schuld. Du lieber Himmel, das Mädchen war ein echtes Landei und nannte sich Belle! Als Andrew sie kennengelernt hatte, arbeitete sie hinter dem Tresen einer Bar in der Innenstadt. Seither hatte sie es tatsächlich bis zur Schwimmlehrerin gebracht. Sie arbeitete mit kleinen Rotznasen und studierte Sport an der Universität – was immer das bedeutete. Sie war zu dünn, zu groß, zu hübsch, zu albern.

Evelyn hätte nie zulassen dürfen, dass er ihr einen Antrag machte. Sie hätte wissen müssen, dass Belinda ihrem Sohn nur Probleme machen würde. Ja, sie war eher der Typ für James. James wäre ihr nie auf den Leim gegangen – dazu kannte der sich viel zu gut mit Frauen aus. Aber Andrew, nun, Andrew brauchte jemand Zärtlichen, Ruhigen und Höflichen. Jemanden, der zumindest halbwegs Grips in der Birne hatte.

Das heißt, Andrew hätte so jemanden gebraucht.

Als sie in ihre Auffahrt einbog, fragte sie sich, wie sie den Trauergästen mit ihrer Grabrede klarmachen konnte, dass die »böse Verlobte« die Schuld trug und nicht die liebende Mutter.

Schätze, das wäre der Clou. Ist vielleicht an der Zeit, Vi anzurufen, damit sie auf mich aufpasst, bevor ich noch mehr klaue. Könnte ja auch sein, dass sie erfahren möchte, was ihrem Neffen zugestoßen ist.

Sie stellte ihren Wagen in der Garage ab. Dann hatte sie plötzlich eine Eingebung, fuhr rückwärts wieder in die Einfahrt, preschte mit dem Auto über den Rasen und überrollte den Gartenzwerg, den ihr das dusselige Mädchen zum Muttertag geschenkt hatte.

Ich bin nicht deine Mutter. Ich bin Andrews Mutter. Und du hättest dort auf dem kalten Linoleumboden liegen und so überrascht und so klein und so bemitleidenswert aussehen sollen … nicht er. Nicht mein Sohn.

Etwas regte sich am Rand ihres Erinnerungsvermögens, als das Bild der letzten Augenblicke ihres Sohnes aufflackerte. Aber sie verdrängte und ignorierte es. Jetzt war nicht die Zeit, sich damit zu befassen. Sie konnte nicht klar denken, war von Trauer überwältigt. Musste sich das eingebildet haben.

Mit der Gewissheit, den Gartenzwerg vernichtet zu haben, parkte sie den Wagen zufrieden in der Garage, ging ins Haus und rief umgehend ihre Schwester an. Sie erreichte nur deren Anrufbeantworter und hinterließ ihr eine, wie sie meinte, gefasste, kurze und bündige Nachricht:

»Hallo, Vi. Schätze, es ist Zeit, dass wir uns mal unterhalten. Vielleicht kannst du heute Abend vorbeischauen und auf dem Weg eine Flasche Bourbon besorgen. Um es kurz zu machen: Andrew ist tot, und wie du weißt, hat James noch keine Ahnung. Ich bin eine Diebin, und seine Verlobte Belinda ist an allem schuld. Oh, und vielleicht bringst du noch ein Päckchen ›Winnie Blues‹ mit, ich glaube, so heißen die Dinger, ich rauche seit Neuestem – in Verbindung mit massenweise Alkohol –, was ich übrigens auch heute Abend vorhabe. Danke, Vi. Bye!«

Keine Angst, Andrew, mein Liebling. Ich sorge dafür, dass diese Belinda bezahlt für das, was sie dir angetan hat.