6
Evelyn
»Sind Sie sicher, dass Sie sich das antun wollen?«
»Ja, natürlich. Sonst wäre ich nicht hier.«
»Also eigentlich … gehören Sie nicht zu der A… Ich meine, bevölkerungspolitisch gesehen nicht zu unserem üblichen Kundenkreis.«
Evelyn verdrehte die Augen. Die Unverblümtheit des jungen Mannes ärgerte sie. »Hören Sie mal, Sie Milchbubi. Für diese Sportart existiert keine Altersgrenze, und ich bin ausgesprochen fit und gesund. Warum hat man Sie hier eigentlich angeheuert? Ihr gewinnendes Wesen kann kaum der Grund gewesen sein.«
»Nein, Madam. Die haben mich angestellt, weil ich ein verdammt guter Adrenalin-Junkie bin.« Er strich sich über seine Dreadlocks und grinste ihr stolz ins Gesicht. Evelyns rhetorische Spitze schien an ihm abzuprallen.
»Gut. Dann nehmen Sie mich einfach in Ihren Verein auf. Ich möchte sofort mit dem Training anfangen. Wann kann ich die erste Stunde nehmen?«
»Wie Sie möchten. Liegt ganz bei Ihnen. Ich sehe mal im Kalender nach … Also gut. Geben Sie uns achtundvierzig Stunden Zeit. Dann können Sie bei einem meiner Kollegen hier anfangen.«
»Ausgezeichnet. Und wann kann ich solo springen?«
»Warten Sie doch erst mal ab, wie die erste Lektion verläuft. Entscheiden Sie sich dann. Das geht nicht von heute auf morgen. Sie müssen sich für die Fallschirmspringerlizenz anmelden. Und die kostet eine Menge Asche.« Der nachsichtige, herablassende Ton ihres Gegenübers machte sie wütend.
Evelyn atmete tief ein, um sich zu beruhigen, und sagte dann gedehnt: »Ihr Name ist Chad? Also gut, Chad. Wie wär’s, wenn Sie aufhören, mich wie ein Kleinkind zu pampern, und einfach akzeptieren, dass ich diesen Sport regelmäßig auszuüben gedenke. Und Geld spielt keine Rolle. Ich werde mich also in der nächsten Zeit häufiger hier aufhalten. Sagen wir mal, ich brauche eine Art ›Ventil‹, okay? Und jetzt kommen Sie in die Gänge und regeln das Geschäftliche für mich. Ich möchte sofort anfangen.«
Chad schien ihr Ton eher zu beeindrucken als zu ärgern. Allerdings hatte sie den Verdacht, dass ihm der Ausdruck »pampern« nicht gerade geläufig war.
»Also gut. Wenn die Lady rocken möchte, soll sie ihren Willen haben! Füllen Sie diese Formulare aus, dann stellen wir Sie dem Ausbilder vor. Schätze, Bazza ist der perfekte Lehrer für Sie.« Er überreichte ihr einen Stapel Formulare und verschwand durch die Hintertür, vermutlich um »Bazza« von der verrückten Alten zu erzählen, die einen Sport erlernen wollte, der normalerweise jungen Leuten im Alter ihres Sohnes vorbehalten war.
James war schuld, dass sie sich zu diesem Schritt entschlossen hatte. An diesem Morgen hatte er verkündet, Fallschirmspringen lernen zu wollen … als Tribut an Andy. Um 3 Uhr morgens am vergangenen Mittwoch war er bereits mit seinen Freunden surfen gewesen. Dabei hatten sie offenbar hinter der Brandung einen Kreis gebildet und über den Verlust seines Bruders meditiert. Als Nächstes hatte er ein zweitägiges Musikfestival besucht, wo ihm eine Kombination aus Punkrock, Hip-Hop und reichlich Alkohol angeblich geholfen hatte, sich seinem toten Zwillingsbruder nahe zu fühlen. Und jetzt schien er zu glauben, Skydiving sei der ultimative Schritt auf seiner lächerlichen spirituellen Reise.
»Ich denke, das wirst du nicht tun, James Matthew. Glaubst du wirklich, dass ich dir freiwillig erlaube, dein Leben zu riskieren, wo du die ganze Familie bist, die mir noch geblieben ist?«
»Beruhig dich mal für ’ne Minute, Mum. Skydiving ist eine sichere Sache.« Damit hatte er ihr beruhigend den Rücken getätschelt und hinzugefügt: »Außerdem tue ich das nur für Andy.«
Evelyn war wütend geworden. »Lass gefälligst diesen Blödsinn! Dein Bruder hat Surfen gehasst, hatte einen komplett anderen Musikgeschmack als du und hätte nie im Traum daran gedacht, sich ohne Not aus einem Flugzeug zu stürzen. Erwarte nicht von mir, dass ich dir diese sensationslüsternen Ausfälle als Hommage an deinen Bruder im Jenseits durchgehen lasse!«
»Mum, ich versuche nur, etwas zu finden, ein Ventil zu finden, um meinen Gefühlen Luft zu machen.« James musterte sie mitleidig, so als könne sie die Tiefe seiner Empfindungen nicht verstehen.
Du lieber Himmel! »Wie wär’s, wenn du Andys alten Kleiderschrank durchforstest? Da hast du die Nähe zu ihm, die du suchst.« Evelyn hatte James die Broschüre entrissen, die dieser in der Hand hielt, sich die Autoschlüssel vom Dielentisch gegriffen und war aus dem Haus gestürmt.
Sie war in den Wagen gestiegen und ziellos durch die Gegend gefahren, bis sie an einer Ampel die Broschüre vom Beifahrersitz genommen und gelesen hatte:
SkyChallenge
Lass die Welt hinter dir
und erlebe ein nie zuvor gekanntes Glücksgefühl!
Ich bin diejenige, die ihren Gefühlen Luft machen muss, hatte sie wütend gedacht. Ich bin diejenige, die wieder spüren muss, dass sie noch lebt!
Und da stand sie nun, behauptete unverfroren, diesen Wahnsinn als Sport ausüben zu wollen. Wie zum Teufel war sie nur auf diese Idee gekommen? Für einen Rückzieher war es allerdings eindeutig zu spät. Sie würde sich auf keinen Fall diesen aufgeblasenen Youngstern geschlagen geben, denen es wer weiß wie gelang, diese Firma in Schwung zu halten. Dabei spielte es keine Rolle, dass sie die jungen Leute nie wiedersehen würde, sollte sie sich entscheiden, ihr Vorhaben aufzugeben und zu verschwinden. Ihr Stolz stand auf dem Spiel. Sie musste Bazza und Chad und sogar James – sollte sie es ihm je erzählen – etwas beweisen.
Evelyn fragte sich, was Carl sagen würde, könnte er sie hier sehen. Ihr verstorbener Mann hätte die Idee vermutlich großartig gefunden – hätte sich auf ihre Seite geschlagen, sie animiert weiterzumachen. »Komm schon, Ev. Du lebst nur einmal. Hau auf die Pauke, solange du es noch kannst.«
Das war von jeher seine Art gewesen, voller positiver Energie, bis zum bitteren Ende. Selbst als ihm der Krebs in die Knochen gekrochen war, hatte er sich gebärdet, als läge die Zukunft noch vor ihnen.
*
»Carl, mach den Jungs nicht dauernd Versprechungen. Du weißt doch nicht, ob es dir je wieder gut geht, und schon gar nicht, ob du mit ihnen dieses Jahr zum Fischen fahren kannst!«
»Mach dich nicht lächerlich, Liebling. Was ich mir vornehme, mache ich. Positiv denken! Das ist die Zauberformel. Du hast nur noch nicht erkannt, wie wichtig das ist.«
»Positives Denken ist kein Allheilmittel.«
»Mach keinen Stress. Es hat mich bis hierhin gebracht, und so stehe ich es auch durch.«
»Aber du weißt, was Dr. Coleman gesagt hat. Dir bleibt nicht mehr viel Zeit.«
»Glaubst du, ich finde mich mit einem Todesurteil ab, nur weil ein Dr. Coleman das behauptet?«
»Carl, wir müssen James und Andrew vorbereiten. Sie können sich doch nicht auf eine Angeltour freuen, die, wie wir beide wissen, nie stattfinden wird.«
»Sie wird stattfinden, wenn ich das sage, verdammt!«
»Du weigerst dich einfach, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Ich verlange von dir, dass du endlich Vernunft annimmst. Bitte, Carl, ich weiß nicht mal, wie ich damit fertigwerden soll, wenn …«
»Ist ja gut, Ev. Glaubst du, ich wüsste nicht, wie recht du hast? Ich bin nur noch nicht bereit aufzugeben.«
*
»Na, wie kommen wir mit den Formularen klar? Alles ausgefüllt?«
Die Stimme riss Evelyn aus ihren schockierend lebhaften Erinnerungen. Sie sah auf. Vor ihr stand ein großer junger Mann und wippte lässig auf den Fußspitzen. Seine Augen glitzerten amüsiert.
Wie sich herausstellte, war Bazza nach Chad und den anderen Youngstern, die den alten Hangar von SkyChallenge (was für ein origineller Name) bevölkerten, eine wohltuende Abwechslung. Bazza war kaum älter als seine sämtlich Dreadlocks tragenden Kollegen, hatte jedoch sehr kurzes Haar und bis auf einen kleinen silbernen Knopf in seiner linken Augenbraue keine Piercings. Außerdem behandelte er Evelyn höflich und zuvorkommend – ohne das aufgesetzt betuliche Gehabe, mit dem die Jugend häufig »Respekt« für die ältere Generation demonstrierte.
»Okey-dokey! Scheint ja alles in Ordnung zu sein. Wird Zeit, dass wir mit Ihrem Training anfangen, Mrs McGavin. Folgen Sie mir und machen Sie sich auf das unglaublichste, wahnsinnigste, gewaltigste Erlebnis Ihres Lebens gefasst!«
Evelyn konnte keine Spur von Sarkasmus in seiner Stimme erkennen. Ihr Anblick schien weder Überraschung noch Skepsis bei ihm hervorzurufen. Dafür klang seine Bemerkung, er gehe davon aus, dass ein Fallschirmsprung das unglaublichste Erlebnis ihres Lebens werden würde, zu echt. Und Bazza wurde immer euphorischer, je ausführlicher er ihr den Sprung aus 4000 Metern Höhe beschrieb. Sie beschloss insgeheim, ihn zu sympathisch zu finden, um ihm zu widersprechen und ihm zu sagen, dass es sicher gewaltigere Erlebnisse als Skydiving in einem Menschenleben gab. Zum Beispiel die Geburt eines Zwillingspärchens (einen Jungen auf natürliche Weise, den anderen durch Kaiserschnitt).
Bazzas Leidenschaft galt offenbar dem Skydiving. Und dennoch legte er nicht das draufgängerische Machogehabe seiner Kollegen an den Tag. Seine Begeisterung steckte bald auch Evelyn an, und sie begann, sich auf den Sprung zu freuen. Sie verbrachten einen angenehmen Nachmittag draußen an der frischen Luft bei Trockenübungen, wobei sie alles über sein Abendstudium, seine Exfreundin, Mandy, und seinen neuen Schwarm erfuhr, ein Mädchen aus seinem Wohnblock namens Isabel, das er kaum kannte, sowie seinen heimlichen Wunsch, Psychologe zu werden. »Ich möchte Skydiving als Hobby, nicht als Beruf behalten. Der tägliche Trott kann tödlich sein«, erklärte er.
»Eines müssen Sie mir erklären«, begann Evelyn, als sie sich in einer Pause auf die Wiese setzte und ihr Gesicht in die warme Oktobersonne hielt. »In meinem Alter verliert man etwas den Kontakt zu jungen Leuten. Trotzdem interessiert es mich, was der Ausdruck ›rocken‹ mit Fallschirmspringen zu tun hat.«
»Wie bitte? Ah, lassen Sie mich raten!«, erwiderte Bazza grinsend. »Chad hat das Wort benutzt, stimmt’s?« Er schüttelte den Kopf und murmelte liebevoll wie zu sich selbst: »Chad, du bist ein Riesenidiot. Er kann nichts dafür«, fuhr er dann fort. »Er versucht, alle und jeden mit diesem ›Skydiver-Jargon‹ zu beeindrucken.« Bazza malte mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft. »Das Dumme ist, dass er die meisten Ausdrücke falsch verwendet. Wie zum Beispiel das Wort ›SkyGod‹. Gegenüber den meisten Leuten – und vor allem den Girls, die er antörnen will – behauptet er, unter Kollegen als ›SkyGod‹ bekannt zu sein. Er glaubt nämlich, es bedeute ›großartiger Skydiver‹. Er hat nicht kapiert, dass es der Slangausdruck für einen Fallschirmspringer ist, dessen Ego größer als sein Können ist.«
»Aha. Und ›rocken‹ bedeutet …?«
»Damit bezeichnet man eine Gruppe von Skydivern, die den ultimativen Kick kriegen, wenn sie in Formation springen.«
»Okay. Eines allerdings verstehe ich immer noch nicht. Sie haben gesagt, er versuche, vor allem die Mädchen ›anzutörnen‹. Hab ich da was falsch verstanden? Was hat das mit einem Törn oder Segeltörn zu tun?«
»Eigentlich heißt es nur, ihnen zu imponieren. Sie sozusagen ›heiß‹ zu machen oder ›anzubaggern‹.« Und mit einem schlauen Lächeln fügte Bazza hinzu: »Oder ihnen ›den Hof zu machen‹, wie man wohl zu Ihrer Zeit gesagt hat – in den … na, wann könnte das gewesen sein? Im frühen 19. Jahrhundert?«
»Werden Sie nicht frech, junger Mann. So nett finde ich Sie auch wieder nicht, dass Sie sich das erlauben können!«
»He!« Bazza hob abwehrend die Hände. »Ich wollte nur deutlich machen, dass Sie jünger sind, als Sie vorgeben, McGavin.«
Evelyn musste unwillkürlich lächeln. Sie mochte es, dass er sie nur bei ihrem Nachnamen nannte. Das gab ihr das Gefühl, von ihm anerkannt, ernst genommen zu werden. Und es war ein gutes Gefühl, wieder jung und »hip« zu sein!
»Diesmal kommen Sie noch ungeschoren davon, Barry!«
»McGavin! Wie oft muss ich Ihnen noch sagen, dass ich Bazza heiße. Oder Baz, wenn Sie wollen. Vorsicht! Jetzt machen Sie wieder auf alt.«
»Ich nehme alles zurück. Und Sie reiten sich immer tiefer in den Dreck, Mister.« Evelyn spitzte die Lippen und verschränkte drohend die Arme vor der Brust, doch in ihren Mundwinkeln zuckte ein Lächeln. Wer hätte das gedacht?, sagte sie sich insgeheim. Ich fange wirklich an, den Burschen zu mögen.