17

Belinda

An dem Tag, als Belinda die erste Wehe spürte, machte sie automatisch einen Schritt zurück über die Schwelle ihrer Wohnungstür und lehnte sich gegen die Wand, die Packung Schokolade krampfhaft umklammert.

Okay, ganz ruhig bleiben – kann auch nur eine Vorwehe gewesen sein. Wie nannte man sie noch? Braxton-Hicks-Kontraktionen oder so ähnlich. Kein Grund, hysterisch zu werden.

Belinda schleppte sich zur Couch, setzte sich und wartete, ob sich die nächste Wehe einstellte. Nachdem fünf ereignislose Minuten verstrichen waren, beruhigte sie sich ein wenig und konzentrierte sich auf die Schokoladenpackung in ihrer Hand. Sie musste ein Zeichen sein. Wie auch nicht? Das Zeichen, dass Andys guter Geist sie noch immer verfolgte. Sie griff nach dem Telefon, tippte Staceys Nummer ein. Auch wenn zurzeit Funkstille zwischen den Freundinnen herrschte, Belinda hatte in diesem Moment Staceys Stimme der Vernunft bitter nötig.

»Was gibt’s? Ist bei dir die Fruchtblase geplatzt? Bin schon unterwegs!«, meldete sich Stacey grußlos.

»Blödsinn! Beruhige dich, Stacey. Das ist es nicht. Deshalb rufe ich nicht an.«

»Belinda, du hast mich zu Tode erschreckt! Warum rufst du um diese Zeit an? Es ist fast Mitternacht! Haben die Wehen eingesetzt? Ich bin noch immer stinksauer auf dich. Also solltest du schon einen guten Grund haben, mich anzurufen.«

»Ja, ich weiß – können wir die leidige Sache mal für einen Moment vergessen? Ich brauche deinen Rat. Es ist etwas passiert … Ich glaube, Andy ist wieder da.«

»Du meine Güte! Was ist es dieses Mal? Der Geschirrspüler hat sich von selbst ausgeräumt, stimmt’s? Also in diesem Fall kann es sich nicht um Andy handeln. Er hat die Geschirrspülmaschine nie ausgeräumt. Vertraue mir. Ich weiß Bescheid. Du hast dich dauernd bei mir darüber beschwert.«

»Ach, hör auf! Die Sache ist ernst. Ich habe gerade einen merkwürdigen Anruf bekommen … von Mrs McGavin. Plötzlich ist sie supernett zu mir, und dreimal darfst du raten … Sie weiß, dass ich schwanger bin. Und woher, errätst du nie!«

»Vielleicht hat sie dich irgendwo mit deinem Monsterbauch gesehen.«

»Nein. Falsch. Der Grund ist das, was Andy in dem Laden kaufen wollte, als er erschossen wurde. Stacey, er hatte einen Schwangerschaftstest in der Hand. Er hat es gewusst. Er hat längst vor mir gewusst, dass ich schwanger bin.«

»Was? Wie konnte er? Ist sie sich da sicher?«

»Hundertprozentig. Morgen möchte sie sich mit mir treffen und über alles reden. Aber jetzt halte dich fest! Kaum hatte ich das Telefon aufgelegt und wollte einen Spaziergang machen, um den Kopf freizubekommen – und habe die Wohnungstür aufgemacht, da …«

Stacey fiel ihr prompt ins Wort: »Du wolltest spazieren gehen? Mitten in der Nacht? Am Ende des neunten Monats? Bist du blöd?«

»Herrgott, lass mich ausreden. Draußen vor der Tür erwartete mich eine Packung Schokolade. Eine Schachtel ›Cadbury Snack‹ mit Ananasfüllung. Genau wie die Schachtel, die Andy speziell für mich zusammengestellt hatte, als er mich gefragt hat, ob ich ihn heiraten will. Wer außer ihm kann wissen, dass ich …?«

»Also gut, Belinda!«, unterbrach Stacey sie erneut. »Bleib mal auf dem Teppich. Schluss mit diesen Hirngespinsten. Bei Cadbury gibt es Marketingteams, die gerade ein paar Ideen haben und was Neues auf den Markt werfen. Die Sache mit den Ananas-Schokoriegeln ist nicht nur Andy eingefallen. Es handelt sich schlicht um eine neue Werbekampagne von Cadbury. Die Schachteln stehen bereits überall in den Regalen der Supermärkte. ›Greifen Sie zu Ihrer Lieblingsschokolade‹, steht in großen Lettern darüber. Und ich weiß auch, woher sie die Idee haben. Dir ist doch klar, wie Andy an die erste Packung für dich gekommen ist, oder?«

»Hmmm …«

»Komm schon, Belinda. Wen kennen wir, der bei Cadbury arbeitet?«

»Na gut. Shanks natürlich.«

»Also, nachdem Aaron diese besondere Packung für dich zusammengestellt hatte, hat er die Idee auf einer Marketingkonferenz vorgestellt. Daraufhin haben sie ihn befördert. Letzte Woche ist die neue Sorte auf den Markt gekommen. Vielleicht hat Aaron die Packung vor deine Tür gelegt. Er muss gewusst haben, wie viel sie dir bedeutet.«

»Deine Theorie ist verdammt fadenscheinig. Erstens, woher weißt du das alles über Shanks? Du hasst den Kerl. Und wie kommst du darauf, dass er befördert wurde? Und warum sollte er ›bedeutungsvolle‹ Geschenke vor meiner Tür ablegen? Ohne Karte? Tut mir leid, aber der sentimentale Typ ist der bestimmt nicht.«

»Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass Andy es nicht gewesen sein kann, okay? Und der Grund, warum ich so viel über Aaron weiß, ist, dass ich mit ihm zusammen bin.«

»WAS?« Belinda wäre beinahe von der Couch gefallen. »Heißt das, du und Shanks … ihr seid zusammen? Seit wann?«

»Du warst in letzter Zeit wie gesagt ziemlich … einseitig interessiert. Ich erzähle dir das alles morgen. Jetzt würde ich gern schlafen. Das war nicht Andy, okay? Finde dich damit ab. Und du hast wirklich noch keine Wehen? Schwöre!«

Belinda zögerte mit der Antwort, als in diesem Moment eine weitere Kontraktion ihren Bauch durchzuckte und Sekunden später verebbte. »Alles ruhig hier. Wir reden morgen weiter«, sagte sie so gelassen wie möglich und fügte hinzu: »Alles wieder okay mit uns?«

»Darüber denke ich noch nach. Du hörst von mir. Gute Nacht, Belinda.«

»Gute Nacht, Stacey.«

Belinda legte auf und starrte auf die Packung Schokolade. Die Sorte gibt es also überall zu kaufen? Sie musste sich eingestehen, dass sie das ein wenig ärgerte. Das war ihre Schokolade. Ihre ganz besondere Verlobungsschokolade. Und jetzt konnte sie jeder kaufen? Der Tag hatte einiges ans Licht gebracht. Zuerst hatte sie von Andys Mutter erfahren, dass Andy von ihrer Schwangerschaft gewusst hatte, und jetzt stellte sich heraus, dass Stacey und Shanks offenbar längst ein Paar waren. Sie wusste nicht recht, was sie von alledem halten sollte.

Belinda griff erneut nach der Schokolade. Was hielt sie eigentlich davon ab, ein Stück zu essen? Seltsamerweise verspürte sie beim Anblick dieser Menge an Ananas-Schokoladenriegeln, wie ihr Herz einen kleinen Sprung tat. Es war fast wie damals in jenem Augenblick in Clontarf am Strand, als sie die Verpackung geöffnet und nur ihre Lieblings-Schokoladenriegel erkannt und den Stolz und die Genugtuung in Andys Zügen gesehen hatte. Das Glitzern in seinen Augen, als er sich vorgebeugt, sich auf ein Knie gestützt und einen Ring aus seiner Tasche gezogen hatte.

Belinda saß auf der Couch, aß den Schokoladenriegel, genoss das köstliche Aroma und versuchte, Andys Bild vor ihrem geistigen Auge festzuhalten. Jenen wunderbaren Augenblick unendlichen Glücks, als sein Gesicht vor kindlicher Freude nur so gestrahlt hatte … Stattdessen tauchte immer wieder ein anderes Bild auf. Die Vorstellung, wie er in jenem Supermarkt einen Schwangerschaftstest ausgesucht hatte. War er in diesem Moment ebenfalls glücklich gewesen? Aufgeregt bei dem Gedanken, Vater zu werden? Belinda wusste nur zu gut, dass er eines Tages viele Kinder haben wollte – was einmal sogar zum Streit geführt hatte. Sie hatte heftig abgewehrt, sie sei zu jung, hatte sogar flapsig einen Kinderwunsch pauschal infrage gestellt. Das war natürlich eine Lüge gewesen. Für sie war das Gespräch über Familienplanung einfach zu früh gekommen. Eigentlich hatte sie mit ihrer Bemerkung nur Öl ins Feuer gießen wollen. Einfach nur um des Kaisers Bart willen, verdammter Mist.

Jetzt hätte sie sich dafür am liebsten geohrfeigt. Wie viele glückliche Tage hätten sie noch zusammen erleben können! Stattdessen hatten sie sich oft gestritten. Sie wünschte, die Zeit zurückdrehen und sich zur Vernunft bringen zu können. So nach dem Motto: Sei nicht so streitsüchtig! Eines Tages verlierst du ihn, und dann bereust du diese Gemeinheiten! Werde endlich erwachsen!

Als sich die nächste Kontraktion einstellte, warf sie automatisch einen Blick auf die Uhr. Oh! War die letzte Schmerzwelle nicht gerade mal zehn Minuten her? »Ein Schmerz, der in regelmäßigen Abständen kommt und geht.« Das hatte man sie zu beachten gelehrt. »Es ist nie so, wie es uns die Kinofilme weismachen, wenn der Hauptdarstellerin die Fruchtblase platzt und die übrigen Gäste im Restaurant entsetzt zusehen, wie der Ehemann sie mit Blaulicht in die Klinik bringt«, hatte die Hebamme erklärt. »Es ist am wahrscheinlichsten, dass Sie zu Beginn gar nicht sicher sind, ob Sie wirklich Wehen haben.«

Belinda schnappte sich Zettel und Stift, notierte die Uhrzeit jeder Kontraktion (falls es sich darum handelte) und beobachtete die Uhr, wartete, ob und wann die nächste kommen würde. Als elf Minuten vergingen, ohne dass etwas geschah, entspannte sie sich. Falscher Alarm! Im nächsten Moment wurde ihr Bauch hart, die Schmerzen kamen in Wellen und verebbten wieder. Und jetzt? Galten Wehen auch noch mit einer oder zwei Minuten Verspätung als regelmäßig?

Sie überlegte, ob sie Stacey erneut anrufen und ihr sagen sollte, dass die Wehen wahrscheinlich doch eingesetzt hatten, entschied sich dann dagegen. Stacey würde in Windeseile zu ihr kommen, voller hilfreicher Ratschläge und Tipps im Gepäck, und sie vermutlich drängen, umgehend in die Klinik zu fahren. Allerdings hatte auch Dr. Vashna ihr noch an diesem Tag eindringlich geraten, keine Zeit zu verlieren, sobald sich die Wehen meldeten. Warum hatte sie nicht besser aufgepasst? Plötzlich war sie nervös, hatte Angst, etwas falsch zu machen. Was, wenn es nicht die Wehen waren und man sie in der Klinik lachend wieder nach Hause schickte? Und diese dumme Gans soll Mutter werden? Sie weiß ja nicht einmal, was Wehen sind.

Belinda prüfte noch einmal, ob ihre Reisetasche gepackt war (für alle Fälle), und beschloss, ein Bad zu nehmen. Die Hebamme beim Geburtsvorbereitungskurs hatte geraten, ein beruhigendes Bad könne im ersten Stadium der Wehentätigkeit hilfreich sein. Sie stöpselte ihren tragbaren CD-Player im Badezimmer ein, sodass sie entspannende Musik hören konnte, und zündete einige Duftkerzen an. Dann ließ sie ein warmes, schäumendes Vollbad ein und glitt vorsichtig in die Wanne.

Donnerwetter, das war wirklich eine gute Idee gewesen.

Das warme Wasser, das ihren Bauch angenehm umspülte, linderte den Schmerz, und die gemütliche Atmosphäre aus Kerzenlicht und ihrer Lieblings-CD von Angus und Julia Stone lullte sie ein. Mann, wenn das Geburtswehen sind, dann ist das alles ein Kinderspiel.

Ihr Blick schweifte durchs Badezimmer. Sie bereute fast, keine Hausgeburt angemeldet zu haben. Hier im Badezimmer, dachte sie, wäre eine Geburt leicht zu bewältigen. Ihre Babys würden eine ausgesprochen entspannte Mutter vorfinden, ihre Ruhe und Zuversicht bewundern. Sie schloss die Augen und schlief prompt ein.

Kurze Zeit später schreckte sie ein lautes Geräusch abrupt auf. Das Geklirr kam aus dem Wohnzimmer. Andy, hast du schon wieder die Stehlampe umgeworfen, war ihr erster Gedanke. Dann richtete sie sich entsetzt auf. Natürlich ist das nicht Andy. Andy ist tot, dumme Gans. Wer zum Teufel war dann in ihrer Wohnung?

In diesem Moment ertönte eine Stimme, eine Männerstimme. Aber die Musik spielte zu laut, als dass sie hätte verstehen können, was er sagte. Das muss ein Dieb sein, vermutete sie in Panik. Vielleicht sogar ein Dieb, der wusste, dass sie allein in dieser Wohnung lebte. Und er musste inzwischen festgestellt haben, dass sie im Badezimmer lag. Verdammt, warum hatte sie nur diese blödsinnige Musik angestellt?

Panisch vor Angst kletterte sie aus dem lauwarmen Wasser, riss ein Badetuch von der Stange und sah sich beinahe hysterisch nach einer Waffe um. In diesem Moment durchzuckte sie ein Krampf, der sich von den vorausgegangenen in seiner Heftigkeit deutlich unterschied. Heiliger Strohsack! Es ist so weit. Das sind Geburtswehen.

Und ganz offenbar hatte sich die Wehentätigkeit gut entwickelt, während sie in der Badewanne geschlafen hatte. Sie klammerte sich an die Handtuchstange, als der Schmerz sie wie ein Dolch durchzuckte und wieder verebbte. Was zum Teufel war das? Die alten Kontraktionen haben mir besser gefallen.

Als der Schmerz nachließ, fiel ihr wieder ein, was sie aus der Badewanne getrieben hatte – sie saß im Badezimmer fest, während ein Einbrecher in ihr Wohnzimmer gelangt und mittlerweile vermutlich auf dem Weg zum Badezimmer und zu ihr war. Großer Gott, dachte sie. Warum habe ich es Stacey nicht schon früher gesagt? Warum hatte sie sich nur so geniert, zu früh in der Klinik aufzutauchen? Jetzt musste sie damit rechnen, dass die Krankenschwestern wirklich verständnislos die Köpfe schüttelten. Was ist das für eine werdende Mutter, die nicht merkt, dass die Wehen einsetzen, und zulässt, dass ein Dieb die Geburt gefährdet?

Herrgott, Belinda, konzentrier dich! Wie viele Sekunden hatte sie noch bis zur nächsten Wehe? Hoffentlich genügend, um den Eindringling abzuwehren, falls er ins Badezimmer eindrang. Sie legte die Hände schützend über ihren Bauch. Keine Sorge, Jungs! Eure Mutter ist eine Kämpferin! Ich lasse nicht zu, dass uns jemand was zuleide tut.

Belinda griff nach der größten und schwersten Duftkerze am Badewannenrand, blies die Flamme aus und hielt sie fest umfasst. Die Kerze war die einzige Waffe, die sie finden konnte. Sie versuchte verzweifelt, sich an das zu erinnern, was sie vor Jahren in einem Selbstverteidigungskurs gelernt hatte. »Augen! Nase! Kehle! Leiste! Fuß!«, war alles, was sie noch wusste. Man stellte sich in Verteidigungshaltung auf und schrie aggressiv: »Hau ab!« Dann ging man zum Angriff über; zwei Finger in die Augen, mit der Handkante gegen die Nase, Faust gegen die Kehle, Knie in den Unterleib und zum Schluss ein heftiger Tritt auf den Fuß.

Ich kann das. Ich kann mich und die Babys schützen …

… solange keine neue Wehe kommt, bevor er hier eindringt.

Sie wartete wie eine Katze auf dem Sprung, mit wild klopfendem Herzen, die Augen auf den Türgriff fixiert. Der Griff begann sich zu drehen, die Tür ging auf. Eine große, dunkle Gestalt trat über die Schwelle. Der Mann wollte etwas sagen, doch Belinda gab ihm keine Chance. Sie warf sich auf ihn, schlug mit der Kerze auf ihn ein und schrie, so laut sie konnte: »HAU AB

Belinda versuchte blitzschnell, die Selbstverteidigungsmethoden der Reihe nach abzuspulen, stieß ihm zwei Finger in die Augen und holte zum Schlag gegen seine Nase aus. Aber es lief nicht alles so, wie sie es geplant hatte. Wenn man einer lebenden Person statt einem Dummy gegenüberstand, waren die Aktionen gar nicht so einfach durchzuführen. Dennoch gelang es ihr, ihm mit erstaunlicher Präzision und trotz ihres immensen Babybauchs das Knie in den Unterleib zu rammen und ihm anschließend mit aller Kraft auf den Fuß zu treten. Der Eindringling ging augenblicklich zu Boden, stöhnte auf vor Schmerz und kroch auf allen vieren zurück ins Wohnzimmer. Sie warf sich auf ihn, presste ihn auf den Boden, drückte ihm ihr Knie in den Rücken. Und was jetzt?, dachte sie plötzlich.

Sie hatte den Eindringling im Schwitzkasten, aber was passierte, sobald er sich erholt hatte? Er konnte sie ohne Schwierigkeiten abschütteln. Sie brauchte Hilfe. Da sie das Telefon nicht erreichen konnte, musste sie die anderen Bewohner im Haus auf sich aufmerksam machen.

»HIIIILFFFEEE!«, schrie sie aus voller Kehle. »KANN MIR JEMAND HELFEN

Der Eindringling wollte etwas sagen, doch sie drückte sein Gesicht in den Teppich. »Halt die Klappe!«, befahl sie schrill. »Das hast du dir selbst zuzuschreiben! Warum bist du bei mir eingebrochen?« Obwohl sie nicht recht wusste, wie es weitergehen sollte, war sie unter diesen Umständen doch einigermaßen stolz auf sich und ihre schnelle Reaktion. Sie kam sich vor wie eine der Heldinnen aus dem Kino, die mit dem Bösewicht kämpften und hinterher einen geistreichen, flapsigen Spruch losließen.

Sekunden später hörte sie draußen auf dem Flur Schritte. Dem Himmel sei Dank. Es kam Hilfe! Und das gerade noch rechtzeitig, denn sie fühlte, wie sich die nächste Wehe aufbaute. Sie glitt vom Rücken des Eindringlings und schlang vor Schmerz die Arme um ihren Leib.

»Danke. Ihnen!«, keuchte sie und atmete durch die Wehe. »Er. Eingebrochen. Versucht. Anzugreifen. Mich!«

Der Schmerz flaute langsam ab, und sie hob den Kopf, um zu sehen, wer zu ihrer Rettung gekommen war. Ihre Augen weiteten sich überrascht, als sie ihn erkannte. Sanfte blaue Augen. Ein winziger Silberknopf in der linken Augenbraue. Kurzer, gepflegter Haarschnitt. Er war es, der junge Mann, der ihr zu Hilfe geeilt war, als sie aus dem Baum gefallen war. Vor drei Monaten. Der Typ, den sie unmittelbar nach Andys Tod zu verführen versucht hatte. Der Mann, den sie nie wiedersehen wollte, so sehr schämte sie sich für ihr Verhalten. Und jetzt stand er da in ihrem Wohnzimmer, in gestreifter Pyjamahose und T-Shirt, wippte wie ein Boxer auf Fersen und Fußspitzen und betrachtete die Szene, die sich ihm bot.

»Du mal wieder?«, flüsterte sie, doch er hörte sie trotzdem. Er hatte den Eindringling bereits gepackt und hielt ihn am Boden.

»Was zum Teufel hast du ihr getan?«, brüllte er, doch der Eindringling stöhnte nur kläglich. Der Mann aus der Etage unter ihr drehte sich um und sah Belinda an. »Alles in Ordnung mit dir?«, erkundigte er sich. »Hat er dich verletzt? Du siehst aus, als hättest du Schmerzen.«

»Hm … sozusagen … aber daran ist er nicht schuld.«

Dem jungen Mitbewohner fiel die Kinnlade herunter. »Mist, du hast Wehen, stimmt’s?«

»Sieht ganz so aus.«

»Okay. Ist in Ordnung. Damit kommen wir klar. Wir rufen die Polizei an. Dann bringe ich den Kerl hier zu den Nachbarn gegenüber. Die können auf ihn aufpassen, bis die Bullen kommen. Moment, jetzt fällt mir ein, dass der Typ in 22 C Polizist ist. Den hole ich. Und dann bringe ich dich in die Klinik. Weißt du, wie weit es bei dir schon ist?«

Bevor sie noch antworten konnte, fand der Eindringling seine Sprache wieder. »Belinda!«, stöhnte er. »Ich bin es doch!«

Belinda schnappte nach Luft. Der Mann kannte ihren Namen! »Ich bin es. Shanks!«, rief er und hustete.

»Angenehm, Kumpel«, erwiderte Bazza, ohne seinen Griff zu lockern.

Aber Belinda hatte ihn gehört und erkannte ihren Fehler. Sie stand auf, wickelte das Badetuch fester um sich und knipste das Licht an, um genauer sehen zu können. »Shanks! Was zum Teufel machst du denn hier?«

»Stacey schickt mich. Ich war an der Reihe, auf dich aufzupassen«, erwiderte er mit erstickter Stimme vom Fußboden her.

»Ist in Ordnung. Du kannst ihn loslassen«, sagte Belinda hastig. Ihr Retter hielt Shanks noch immer auf den Fußboden gedrückt.

»Bist du sicher?«, fragte er skeptisch, lockerte den Griff, sodass sich Shanks zur Seite drehen und sich aufsetzen konnte. Shanks rieb sich das Kinn und jaulte auf vor Schmerz. »Okay, Kumpel. Du kennst sie also. Trotzdem möchte ich wissen, was du um drei Uhr morgens in ihrer Wohnung zu suchen hast. Ich erwarte eine Erklärung. Und zwar ein bisschen plötzlich.«

Shanks bedachte ihn mit einem »Wer zum Teufel bist du denn?«-Blick, wandte sich dann aber an Belinda: »Nachdem du Stacey angerufen hattest, hat sie mich gebeten, nach dir zu sehen – offenbar hat sie ›gespürt‹, dass etwas nicht stimmt. Als ich ankam, habe ich geklopft. Aber du hast wegen der Musik im Badezimmer wohl nichts gehört. Ich habe Stacey angerufen und gesagt, es sei alles in Ordnung, du würdest ausruhen und deine Lieblings-CD von Angus und Julia Stone hören. Da ist sie durchgedreht und hat gesagt, das sei die CD, die du hören wolltest, wenn die Wehen einsetzen, und ich soll mir Zugang zu deiner Wohnung verschaffen und dich in die Klinik bringen. Ich hab geklopft und geklopft, aber es kam keine Antwort. Glaub mir, ich wollte nicht einbrechen, aber Stacey hat gesagt, wenn ich es nicht tue, ist es aus zwischen uns. Ich hatte keine andere Wahl. Aber so, wie du mir in die Weichteile getreten hast, kann ich vermutlich sowieso nur noch im Knabenchor singen. Mann, ich wusste, dass Andy eine toughe Freundin hatte, aber darauf war ich verdammt noch mal nicht gefasst.« Er hielt inne und sah seinen Bezwinger an. »Und wer zum Teufel bist du?«

»Bazza, mein Name ist Bazza. Und weißt du was, Kumpel? Du wirst’s überleben. Sie ist diejenige, die wir in die Klinik bringen müssen«, fügte er hinzu und musterte Belinda mit besorgter Miene.

»Also ich kann kein Auto fahren. Sie hat mir auf den Fuß getreten. Fühlt sich fast an, als sei er gebrochen.« Shanks griff in die Tasche und holte einen Schlüsselbund heraus. »Hier, fahr sie in die Klinik. Nimm meinen Subaru Rex. Ich bleibe hier und schenk mir einen Drink ein. Hoffentlich hast du einen Bourbon in deinem Schrank, Baby.« Shanks schlich zur Couch und setzte sich. »Viel Spaß, Jungs und Mädels.« Damit entließ er sie mit einer eindeutigen Handbewegung.

Bazza schüttelte den Kopf und wandte sich Belinda zu. »Also, wie ich die Dinge sehe, kommen die Wehen in immer kürzeren Abständen. Beeilen wir uns lieber. Kannst du dich anziehen?«

Belinda sah ihn bewundernd an. Sie kannte den Mann kaum. Trotzdem war er ihr mitten in der Nacht zu Hilfe gekommen und ohne Umschweife bereit, sie in die Klinik zu fahren.

»Hm … ja, natürlich«, antwortete sie und verschwand wie in Trance im Schlafzimmer. Das Adrenalin in ihren Adern begann abzuebben, und sie wusste selbst nicht mehr, weshalb sie nicht auf die Idee gekommen war, der Eindringling könne ein besorgter Freund sein.

»Soll ich jemanden für dich anrufen?«, rief Bazza hinter ihr her. »Ich meine, einen Freund oder so?« Seine Stimme klang plötzlich bemüht lässig.

»Ja, du hast recht. Wir sollten Stacey anrufen – sie wollte bei der Geburt dabei sein«, rief Belinda zurück und zog eine Hose und ein Top an.

»Nicht nötig«, fiel Shanks von der Couch aus ein. Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Schätze, sie ist schon in der Klinik. So wie ich sie kenne, ruft sie in zwei Minuten bei mir an und beschimpft mich, weil ich dich noch nicht dort abgeliefert habe.« Shanks zückte vorsichtig sein Handy, klappte es auf und stellte es ab. »Uuuund das Telefon macht keinen Piep mehr!«, erklärte er stolz.

Belinda kam angezogen aus dem Schlafzimmer, blieb jedoch abrupt auf der Schwelle stehen und griff nach dem Türrahmen, als die nächste Wehe einsetzte.

»Alles in Ordnung?« Bazza lief zu ihr und nahm automatisch ihre Hand. »Ich kenne das«, sagte er. »Drück meine Hand, so fest du kannst. Sieht so aus, als kämen die Wehen jetzt in Abständen von vier bis fünf Minuten.«

»Wie kommt es, dass du dich damit so gut auskennst?«, wollte Belinda wissen.

»Ich habe Schwestern. Und die haben schon eine Menge Babys bekommen. Bei einer Geburt war ich von Anfang an dabei, weil der Ehemann bei einer Konferenz an der Küste festsaß. Aber zum glücklichen Ende hat er es dann gerade noch geschafft. Vertraue mir. Ein Experte bin ich deshalb allerdings nicht. Aber das Händchenhalten hat am Anfang geholfen.« Er sah sie lächelnd an. »Okay, können wir gehen?«

»Glaube schon«, antwortete sie. »Meine Tasche steht gepackt neben der Wohnungstür.«

»Ja, das ist mir auch schon aufgefallen«, rief Shanks von der Couch herüber. »Blöderweise bin ich gleich drübergefallen und habe die Stehlampe umgerissen. Das war, bevor mich eine kleine, nackte und schwangere Frau mit einer Kerze niedergeschlagen hat. Aber macht euch keine Sorgen um mich, Leute. Ich bin okay.«

Bazza ignorierte ihn, hielt den Blick auf Belinda gerichtet und griff nach ihrer Reisetasche, als sie zur Tür eilten.

»Gebt mir wenigstens die Fernbedienung für die Glotze!«, rief Shanks ihnen nach. Belinda drückte Bazzas Hand fester, als die nächste Wehe sie durchzuckte. Bazza stützte sie.

»Tut mir leid, Shanks, aber wir müssen wirklich gehen!«, rief sie schuldbewusst, bevor die Tür ins Schloss fiel.

Bazza raste wie ein Rennfahrer durch die Stadt. Nach fünfzehn Minuten hatten sie die normalerweise fast eine halbe Stunde dauernde Fahrt hinter sich und die Klinik erreicht. Als sie in die Auffahrt zur Ambulanz einbogen, sagte Bazza ruhig: »Ich bin ehrlich gesagt kein großer Fan von deinem Freund Shanks. Aber sein Auto ist ’ne Wucht. Fährt sich traumhaft.«

Bazza führte sie durch den Vordereingang, wo sie praktisch von Stacey überrannt wurden, die aufgeregt auf sie einredete. »Wurde auch Zeit! Ich warte hier schon eine Ewigkeit! Warum hat das so lange gedauert? Wo ist Aaron? Er geht nicht ans Telefon. Wie weit bist du? In welchen Abständen kommen die Wehen?«, erkundigte sie sich, ohne Luft zu holen. Dann wandte sie sich an Bazza.

»Und wer sind Sie?«, fragte sie in scharfem Ton.

»Ich bin Bazza. Ich wohne unter Belinda im selben Apartmenthaus«, erklärte er höflich und streckte die Hand zum Gruß aus.

Staceys Augen wurden schmal. »Im Stock darunter? So, so«, murmelte sie misstrauisch. »Okay, danke … Bazza. Ab jetzt übernehme ich.«

Bazza wirkte enttäuscht und ließ Belindas Hand los. »In Ordnung. Ich verschwinde.«

Belinda fühlte, wie Staceys knochige Hand sich um ihre Finger schloss, und war traurig, diese gegen Bazzas warme, starke Männerhand eintauschen zu müssen. Sie wusste, es war absurd, konnte jedoch nichts dagegen tun. »Warte!«, rief sie, als sich Bazza zum Gehen wandte. »Kannst du vielleicht trotzdem bleiben? Ich meine, falls es dir nichts ausmacht. Du hast doch gesagt, dass das nichts Neues für dich ist …« Ihre Stimme versagte. Sie wusste selbst nicht, was sie tat. Warum sollte er denn bleiben wollen?

»Belinda, was ist denn in dich gefahren?« Stacey starrte die Freundin entsetzt an.

»Keine Ahnung«, erwiderte sie, ohne den Blick von Bazza zu wenden, während sie auf seine Antwort wartete.

Bazza zögerte kurz, dann kam er zurück und nahm Belindas anderen Arm. »Ich bleibe, solange du mich brauchst.«

In diesem Moment hatte Belinda plötzlich das Gefühl, als habe jemand einen Knopf gedrückt. Alles verschwamm vor ihren Augen, als die Wehen immer heftiger und in immer schnellerer Folge kamen. Dann kam der Augenblick im fortgeschrittenen Stadium der Geburt, da alles wie in Zeitlupe zu geschehen schien – und sie sich jedes Details bewusst wurde.

Bazza tupfte ihr mit einem warmen, feuchten Tuch die Stirn, redete beruhigend auf sie ein, lobte, sie mache das großartig, und sie solle nur weiter pressen. Und Belinda brach in Tränen aus, weil er so unglaublich nett zu ihr war, aber eben nicht Andy war, was sie verwirrte und irgendwie aus der Fassung brachte.

Dann kam der Moment, in dem eine Hebamme bissig ankündigte, sie brauche eine Rückenmarkspritze, um das zu überstehen, und sie weinte, weil sie es aus unerfindlichen Gründen ohne Betäubung hatte schaffen wollen. Stacey sprang für sie in die Bresche, vertrieb die Hebamme mit vor der Brust verschränkten Armen und bösem Blick, sodass diese sich geschlagen gab und den Kreißsaal mit erhobenen Händen verließ. Nur Minuten später wurde Belinda klar, dass sich die Schmerzen ins Unerträgliche steigerten. Jetzt verlangte sie dringend eine Rückenmarkspritze, ja bitte und vielen Dank, und kannst du die Hebamme zurückholen, und zwar SOFORT! Und dann kam der Augenblick, nur wenige Minuten später, als Doktor Vashna erschien und sagte: »Ups, für eine Rückenmarkspritze ist es schon zu spät. Ist das nicht Ironie des Schicksals?« Und Belinda dachte: »Mein Gott, das überlebe ich nicht!«

Schließlich kam der Moment, als sie ihr sagten, sie solle pressen, und Stacey neben der Ärztin erschien und schrie, sie könne den Kopf sehen, und Bazza ihre Hand so fest hielt und sie erkannte, dass er ebenfalls den Tränen nahe war – aber vielleicht auch nur, weil sie ihre Fingernägel in seine Handfläche grub –, und dann ertönte der Schrei eines Babys, und sie sagten ihr, dass das erste ein Mädchen sei, und Bazza fragte: »Das erste?«, aber es war keine Zeit, ihm das zu erklären, denn Minuten später wurde sie erneut aufgefordert zu pressen, und exakt acht Minuten nach der Geburt ihrer ersten Tochter kam das zweite Mädchen auf die Welt.

Zwei winzige Mädchen.

Und dann hielt sie beide in ihren Armen. Und sie weinte, und Stacey weinte, und Bazzas Augen glitzerten verdächtig. Und dann sah Bazza auf sie herab und sagte gelassen: »Ein Glück, dass mich diese SMS aufgeweckt hat.«

»Was für eine SMS?«, fragte sie, ohne den Blick von ihren beiden kleinen Töchtern zu wenden.

»Ach, nichts Besonderes. Da hatte wahrscheinlich jemand die falsche Nummer gewählt. Aber wenn mein Telefon nicht geläutet und mich geweckt hätte, hätte ich deinen Schrei vermutlich nicht gehört.« Er hielt inne und strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn. »Die Nachricht lautete lediglich ›Du bist überfällig‹. Komisch, was?«