12
Evelyn
Evelyn lehnte sich mit dem Rücken gegen die klebrigen Plastikpolster der Sitzbank. Der penetrante Geruch von Rühreiern mit Speck, gebratenen Tomaten und dampfendem Kaffee stieg ihr in die Nase. Bazza saß ihr am Tisch gegenüber und musterte sie mit breitem Grinsen. »Na, wie finden Sie das Lokal? Gut, was?«, erkundigte er sich und stach mit der Gabel in seine große Portion Bratkartoffeln.
»Der Geruch schlägt mir offen gestanden etwas auf den Magen. Ist so früh am Morgen etwas zu kräftig für meinen Geschmack. Aber Sie haben recht. Das Essen ist für ein so geschmacklos eingerichtetes Restaurant beeindruckend.«
Bazza hatte sie vor einigen Tagen nach ihrem dritten Solosprung bei SkyChallenge zum Frühstück eingeladen. Nach der Wiedereröffnung der Sprungschule nach den Weihnachtsferien hatte sie so schnell wie möglich ihren zweiten Sprung absolviert. Allerdings mit Chad als Partner, und das Erlebnis war mit den aufregenden und spektakulären Sprüngen mit Bazza nicht zu vergleichen.
Und während Bazza seine riesige Portion Bratkartoffeln attackierte, fuhr er stolz fort: »Sie haben gesagt, dass Sie den Kopf freibekommen wollen, dass Sie Familienangelegenheiten quälen. Also führe ich Sie in ein anständiges Café, in dem der Essensgeruch und das schrille Dekor so übermächtig sind, dass man sich auf gar nichts anderes konzentrieren kann. Und? Hat’s was gebracht, McGavin?«
»Ja, sicher. Das Ablenkungsmanöver ist gelungen«, antwortete Evelyn, als sich eine Bedienung in sehr amerikanischer Manier erbot, ihr Kaffee nachzuschenken. Sie fühlte sich fast wie in einer der gängigen Sitcoms.
»Was sind denn das für Familienprobleme, die Sie unbedingt vergessen möchten? Doktor Bazzas Sprechstunde hat gerade begonnen.« Er schaufelte eine weitere Portion Kartoffeln in den Mund, beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf den Tisch, legte das Kinn auf beide Fäuste und sah sie erwartungsvoll an.
Evelyn musterte ihn amüsiert mit hochgezogenen Augenbrauen. »Ach, Bazza! Jetzt haben Sie aber das Thema verfehlt. Sollte ich nicht eher von meinen Problemen abgelenkt werden? Stattdessen servieren Sie mir das Ganze ungerührt zum Frühstück.«
»Schon, aber so funktioniere ich nicht, Ev, Baby.«
Evelyn verschluckte sich beinahe an ihrem Kaffee. »›Ev, Baby‹? Dann sind wir jetzt per du und Kosenamen, oder wie? Um Himmels willen, ich will gar nicht daran denken, was Ihnen das nächste Mal einfällt.«
»Wird Ihnen schon gefallen«, erwiderte er lässig und bestimmt. »Und hören Sie auf, vom Thema abzulenken. Wir wissen alle, warum Sie meine Einladung in dieses trashige Café angenommen haben.«
»Ach, interessant. Wir wissen also, weshalb wir hier sind?«
»Ganz richtig, Schwester. Ich weiß es, Sie wissen es, und diese Bedienung da drüben mit dem Barbie-Look weiß es auch.«
»Und das wäre?«
»Weil Sie unbedingt darüber reden möchten, was in Ihrem Leben schiefgeht. War Ihnen doch ein Vergnügen, uns damals in Murphy’s Pub von den Katastrophen der McGavin-Familie zu erzählen. Ich bin Ihr Therapeut vor Ort. Und während ich Ihnen mindestens 150 pro Stunde in Rechnung stellen sollte, kriegen Sie von mir eine Gratisbehandlung. Also raus mit der Sprache.«
Evelyn wollte schon etwas erwidern, aber dann zog sie es zurück. Welchen Sinn hatte es, die Sache abzustreiten? »Gut, Sie haben gewonnen.« Damit begann sie mit ihrem Bericht über die Ereignisse nach ihrem Abschied von Bazza und den anderen im Irish Pub. Bazza war beeindruckt, als er erfuhr, wie sie James bei der Polizei rausgepaukt und den Schuldirektor zur Schnecke gemacht hatte. Danach kürzte sie die Geschichte ab und sagte mit etwas zu beschwingt klingender Stimme: »Und am Abend danach sind James und ich zur Feier des Tages essen gegangen.« Sie sah im Restaurant in die Runde, so als sei damit alles gesagt.
»Ach? Wieso habe ich dann das Gefühl, dass das nicht die ganze Story ist? Aus Ihrer ganzen Haltung spricht verletzter Stolz.«
Evelyn seufzte gereizt. »Sie geben wohl nie auf, was?«
»Niemals.«
»Na gut. James und ich hatten eine kleine Auseinandersetzung beim Essen … das ist alles.«
»Ich möchte Einzelheiten hören, mit denen ich was anfangen kann.«
»Er hat die Person ins Gespräch gebracht, mit der ich absolut nichts zu tun haben – geschweige denn über sie reden oder an sie denken – möchte. Er wollte mit mir über Belinda, Andrews Verlobte, sprechen. Er scheint der Meinung zu sein, wir sollten Verbindung zu ihr aufnehmen!«
»Darf ich den Advocatus Diaboli spielen und fragen, warum das eine so abwegige Idee wäre?«
Evelyn brauste augenblicklich auf. »Machen Sie Witze? Diese Frau, dieses Mädchen ist für den Tod meines Sohnes verantwortlich! Warum sollte ich also etwas mit ihr zu tun haben wollen?«
»Immer mit der Ruhe, McGavin. Ich bin auf Ihrer Seite. Allerdings müssen Sie mir erklären, weshalb diese Belinda daran schuld sein soll.«
»Wieso? Mein Gott, wo soll ich da anfangen? Er hat sie kennengelernt, und das hat sein Leben radikal umgekrempelt. Hätte er sie nicht getroffen, wäre er nie gestorben. So einfach ist das.«
»Das müssen Sie mir schon genauer erklären. Wo ist da der Zusammenhang?«
Evelyn schnaubte verächtlich. »Na gut. Dann fange ich ganz von vorn an … Bevor er Belinda kennengelernt hat, hat er bei mir gewohnt und sich auf sein Studium konzentriert. Er war fleißig, hatte gute Noten und einen Job in der Buchhandlung um die Ecke. Da er bei mir kostenlos wohnen und leben konnte, hatte er das verdiente Geld zur freien Verfügung. Er konnte sich auf sein Studium konzentrieren, musste sich um Geld keine Sorgen machen.
Dann ist ihm Belinda über den Weg gelaufen. Die Sache wurde sofort ernst. Er hat viel zu viel Zeit mit ihr verbracht. Und dann wollte er plötzlich bei mir ausziehen. Danach hat er einen Vollzeitjob angenommen, um die Miete bezahlen zu können. Für das Studium blieb kaum Zeit. Bevor Belinda auf der Bildfläche erschienen war, hatte er weder die Absicht, bei mir auszuziehen, noch brauchte er für irgendeinen Job sein Studium zu unterbrechen.
Das Entscheidende allerdings ist … Andrew ist einen Block weit von seinem Arbeitsplatz entfernt getötet worden. Auf dem Heimweg vom Büro, fünf Minuten nachdem er die Firma verlassen hatte. Begreifen Sie, was das heißt? Er trifft Belinda. Belinda überredet ihn auszuziehen. Also braucht er einen Job, um leben zu können. Und infolgedessen landet er exakt an jenem Tag und genau zu dem fatalen Zeitpunkt, gleich um die Ecke von seiner Firma, in diesem idiotischen EzyMart in der Pitt Street.«
Bazza zögerte kurz. »Versuchen Sie, das ohne jede Emotion zu betrachten, so zu tun, als wären Sie ein unbeteiligter Zuhörer«, begann er behutsam. »Hören Sie sich das an: ›Er hat sie getroffen, deshalb ist sie schuldig.‹ Na, wie klingt das?«
Bazzas ruhige, vernünftige Haltung machte Evelyn nur noch wütender. »Sie haben mir nicht zugehört. Ist das so schwer zu begreifen? Sie hat sein Leben so verändert, dass er in diesem idiotischen Job landen musste. Also ist sie natürlich schuld. Es war ausschließlich und letztendlich ihr Fehler!« Sie hielt kurz inne und sagte dann abschließend: »Ebenso gut hätte sie abdrücken können!«
Bazza zuckte bei ihren letzten Worten unwillkürlich zusammen. Evelyn hatte nie über Einzelheiten gesprochen. Erst jetzt wurde deutlich, dass Andrew in einem Lebensmittelladen erschossen worden war. Und Evelyn schien selbst über ihre offenen Worte erschrocken. Bazza hatte sich jedoch schnell wieder gefangen.
»Also ich muss schon sagen, McGavin! Ihr Urteil ist verdammt hart!«
»Hart? Mein Sohn ist tot, und Sie finden, dass ich hart urteile?«
»Bitte! Ich bin auf Ihrer Seite. Also ich an Ihrer Stelle hätte diesem Mädchen gegenüber ebenfalls meine Vorbehalte. Aber so weit zu gehen, sie für den Tod ihres Verlobten verantwortlich zu machen? Das ist nicht fair! Und ich sage Ihnen auch, warum – weil das einfach unmenschlich ist. Was lasten Sie dem Mädchen alles an? Sie allein soll für den Tod eines Menschen verantwortlich sein, obwohl viele Faktoren eine Rolle spielen? Wer will schon garantieren, dass Andrew nicht in derselben Firma und bei demselben Job gelandet wäre, hätte er sie nicht getroffen? Vielleicht hätten ihn seine Freunde trotzdem irgendwann überredet, bei Ihnen auszuziehen. Und weshalb ist er in diesem Laden gewesen? Wissen Sie überhaupt, warum er nach der Arbeit in dem kleinen Supermarkt einkaufen wollte? Begreifen Sie, worauf ich hinauswill?«
Evelyn wappnete sich für den Gegenangriff – sie war entschlossen, nicht klein beizugeben –, als Bazzas Augen plötzlich groß wurden und er sich über den Tisch beugte und sie mit ungewohnt erregter Stimme fragte: »Evelyn, entschuldigen Sie, aber wann ist Ihr Sohn ums Leben gekommen? An welchem Tag und in welchem Monat?«
Es war das erste Mal, dass Bazza ihren vollen Vornamen aussprach. Sie beschloss, ihren Gegenangriff zu verschieben und zu antworten. Irgendetwas schien ihn erschreckt zu haben.
»Das ist jetzt vier Monate, drei Wochen und sechs Tage her. Er ist am 8. September gestorben. Und wenn Sie die Tageszeit interessiert … es war um siebzehn Minuten nach fünf Uhr nachmittags.« Sie hielt seinem Blick stand, sprach mit ruhiger, emotionsloser Stimme. »Warum wollen Sie das wissen?«, erkundigte sie sich abschließend resigniert.
Bazza ging auf ihre Frage nicht ein. »Und er ist in einem EzyMart gestorben? In der Pitt Street? Und er wurde …« Er hielt nervös inne. »… wurde erschossen?«
»Ja, das ist richtig.«
»Aha. Tut mir leid, aber Sie müssen mich entschuldigen. Mir ist gerade eingefallen, dass ich noch eine wichtige Verabredung hab.« Er deutete vage nach draußen, als würde das alles erklären.
Evelyn konnte nicht anders. Sie war wie vor den Kopf gestoßen. »Zuerst erklären Sie mir hier lang und breit, dass ich meiner ehemaligen zukünftigen Schwiegertochter unrecht tue? Ohne mir Gelegenheit zu geben, mich zu rechtfertigen? Sie haben mich zum Frühstück eingeladen. Und jetzt versetzen Sie mich einfach?«
Bazza drückte flüchtig ihre Hand. »Tut mir wirklich leid – mir ist nur etwas eingefallen, okay? Und das muss ich dringend erledigen. Außerdem habe ich Sie nicht versetzt. Schließlich bin ich ’ne ganze Weile hier gewesen.«
Damit ging er und ließ die Hälfte seines Frühstücks unberührt zurück. Evelyn schob ihren Teller von sich. Der Appetit war ihr vergangen.
»Ich hab nicht mal ausführlich von meinem Streit mit James erzählen können«, murmelte sie beleidigt.
»Was haben Sie gesagt, Ma’am?«
Evelyn bemerkte erst jetzt die Bedienung, die neben ihr aufgetaucht war. »Nichts«, versicherte sie ihr hastig. »Bringen Sie mir einfach die Rechnung.« Ha! Schon wieder auf der Rechnung sitzen geblieben. Zuerst James beim Abendessen und jetzt Bazza beim Frühstück. Die jungen Männer heutzutage! Keine Manieren!
Es war ärgerlich, Bazza war in den folgenden Wochen für Evelyn nicht erreichbar. Sie verpassten sich bei SkyChallenge, was bedeutete, dass sie ihre weiteren Sprünge mit dem langweiligen Chad absolvieren musste. Auch ans Telefon bekam sie ihn nicht. Evelyn war frustriert. Sie hatte sich all diese schlagfertigen Antworten für ihn zurechtgelegt, all die vernünftigen Gründe, warum sie Belinda für alles verantwortlich machte. Gelegenheit, sie an den Mann zu bringen, hatte sie nicht.
Und was noch ärgerlicher war, waren die zunehmend drängenden Anrufe ihres Büros. Offenbar hielt man dort für eine Mutter fünf Monate Trauerzeit für ausreichend, um über den Tod ihres Sohnes hinwegzukommen und sich erneut ihrer »Pflicht und Verantwortung« zu stellen.
»Hi, Evelyn. Wollte nur wieder mal nachfragen. Wie geht’s dir heute?« Gabbies zuckersüße Stimme bohrte sich jedes Mal unangenehm penetrant in ihr Ohr. Die Anrufe kamen jetzt fast täglich und mit aufreizender Regelmäßigkeit.
Dann kreuzte eines Tages ihr Chef vor ihrer Haustür auf. »Wir verstehen, was du durchgemacht haben musst, aber …«, begann er.
Evelyn antwortete sachlich und ohne Zögern: »Nein, das verstehst du nicht, Alby. Du hast keinen blassen Schimmer.« Und damit machte sie ihm die Tür vor der Nase zu. Es war ein gutes Gefühl – auch wenn sie eigentlich selbst nicht wusste, weshalb sie nicht schon längst an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt war.
Am darauffolgenden Abend beschloss sie, dass zwar die Zeit für eine Rückkehr in ihren Job noch nicht reif war, sie jedoch die Treffen des Literaturkreises wieder wahrnehmen sollte. Auch wenn diese abendliche Gesprächsrunde im Vergleich mit ihrem neuen Zeitvertreib wenig prickelnd zu sein schien. An jenem Abend sollte dieser Lesekreis bei Violet stattfinden. Die Runde bestand aus sehr unterschiedlichen Teilnehmern: zwei nur schwer erträglichen Frauen aus Evelyns Büro, Müttern aus Violets Kindergarten mit einer etwas hyperaktiven Schwiegermutter sowie Violets ausgesprochen spießigem, altmodischem und doch glücklich (und heterosexuell) verheiratetem Nachbarn namens Neville.
Violet war freudig überrascht, als Evelyn vor ihrer Tür stand. »Hallo, verlorene Schwester«, begrüßte sie Evelyn gut gelaunt.
»Verlorene? Wir haben erst vor einer Woche miteinander Kaffee getrunken.«
»Sicher. Aber was unseren Literaturkreis betrifft, bist du in letzter Zeit ein eher seltener Gast.«
Evelyn schüttelte nur den Kopf und ging an der Schwester vorbei ins Haus.
Die anderen Teilnehmer der Gruppe freuten sich ebenfalls über Evelyns Erscheinen. »Darling, es ist schön, dich wieder bei uns zu haben!«, rief Neville, und die Stimme versagte ihm beinahe vor Rührung.
Evelyn warf einen Blick in die Runde, die sich im Wohnzimmer der Schwester versammelt hatte – alle in ihren bequemen pastellfarbenen Strickjacken (Neville eingeschlossen), die ungeachtet der Jahreszeit und Witterung beinahe eine Art Klubuniform waren. Dabei kamen ihr zwei Gedanken gleichzeitig. Der erste lautete schlicht: Gott, sehen die alle langweilig aus! Und als Nächstes drängte sich unwillkürlich und deutlich eine Erinnerung auf. Wie so oft inspiriert von vertrauten Gerüchen oder anderen Details: Sie dachte an eine Veranstaltung des Lesezirkels, die schon einige Jahre zurücklag. Es waren andere Gesichter, die dabei vor ihrem geistigen Auge auftauchten. Die Gesichter der Mitglieder, die inzwischen ausgeschieden waren. Nur die Strickjacken waren dieselben. Und obwohl jener Lesekreis in ihrem eigenen Wohnzimmer stattgefunden hatte, war doch die Atmosphäre vergleichbar: warmes Licht, eine Schale mit Gebäck auf dem Couchtisch und Teetassen zwischen den unterschiedlichen Buchtiteln.
An jenem besonderen Abend hatten sie gerade mit einer lebhaften und geistreichen Diskussion über die Vorzüge eines Autors begonnen, als Andy, James und drei oder vier ihrer Freunde in den Raum gestürmt waren – alle in pastellfarbenen Strickjacken. Sie hatten zwischen den Mitgliedern des Literaturkreises Platz genommen und die Unterhaltung mit todernsten Gesichtern und heftigem Nicken verfolgt. Violet war ganz aus dem Häuschen gewesen, Neville hatte sich aufgeregt und von Neuzugängen gefaselt, die nicht offiziell aufgenommen worden wären, und Beryl, die Schwiegermutter mit dem blau getönten Haar, war über das »junge Blut« in der Gruppe begeistert gewesen. Die Jungs hatten die Komödie gut zwanzig Minuten durchgehalten und sich dann gelangweilt verkrümelt. Sie hatten sich offenbar in einen Pub verzogen, um ihren tollen kleinen Streich gebührend zu begießen.
Zurück in Violets Wohnzimmer, beschlich Evelyn Nostalgie. Sie hätte viel dafür gegeben, diesen Abend noch einmal zu erleben, an dem sie Andys Existenz für eine Selbstverständlichkeit gehalten hatte. Und Evelyn fragte sich dabei, ob ihre Rückkehr in den Lesekreis vielleicht doch verfrüht gewesen war. Für Überlegungen dieser Art allerdings war es zu spät. Neville führte sie bereits zur Couch. Die jungen Frauen aus der Firma empfingen sie begeistert und fragten, ob es stimme, dass sie dem Chef die Tür vor der Nase zugeknallt habe.
Später, als alles vorüber war und Evelyn und Violet die Kaffeetassen in die Spülmaschine geräumt hatten, erkundigte sich Evelyn, ob sich die Schwester an jenen Abend erinnere.
»Du meine Güte, ja. Die Jungs hatten sich sogar Strickjacken und so was angezogen!« Violet lachte fröhlich. »Ich weiß, du hast den Scherz respektlos und blöde gefunden, aber ich habe mich köstlich amüsiert. Ich meine, der Himmel weiß, was die Jugendlichen dazu veranlasst hat, aber man muss sie für den Einfall und ihre Ausdauer bewundern. Sie haben es immerhin fast eine halbe Stunde bei uns ausgehalten.«
Evelyn sah Violet mit traurigem Lächeln an. »Ja, vermutlich hast du recht.« Komisch, dass dieser Streich erst Jahre später für sie einen Sinn ergab – als es längst zu spät war, herzlich darüber zu lachen.
Dann holte Violets ruhige Stimme Evelyn in die Gegenwart zurück. »Ev, ich spiele mit dem Gedanken, Mark zu verlassen.«
Evelyn sah zu ihrer Schwester auf. Sie glaubte, sich verhört zu haben. »Was hast du gesagt?«
»Ich habe gesagt, dass ich Mark möglicherweise verlasse.«
Evelyn starrte sie verdutzt an. »Was soll das heißen? Aus welchem Grund?«
»Ach, du weißt schon … so dies und das …« Violet verstummte und drehte Evelyn den Rücken zu, um die Geschirrspülmaschine einzuschalten.
»Das ist nicht dein Ernst! Komm, setz dich zu mir und hör auf, an diesen Knöpfen herumzuhantieren. Das musst du mir schon näher erklären.« Evelyn zog die Schwester zum Küchentisch.
Violet seufzte tief. »Eigentlich wollte ich das gar nicht ansprechen. Du hast schließlich genug eigene Sorgen. Aber ich muss einfach mit jemandem reden.«
Evelyn nickte ihr aufmunternd zu.
»Na ja, du weißt, dass es schon immer Krach zwischen uns gab, weil Mark so viel arbeitet. Ich war damals verdammt wütend, als er nicht zu Andys Verlobungsfeier erschienen ist. Und es gab zahllose ähnliche Vorfälle: Unternehmungen am Wochenende mit den Kindern, Sportveranstaltungen und so weiter, an denen er nicht teilgenommen hat. Der Weihnachtstag allerdings war der Gipfel. Alle waren bei uns. Du hast wie der Tod auf Latschen ausgesehen und dich mühsam zusammengenommen, um den Tag zu überstehen. Ich hätte Marks Unterstützung, seine Hilfe so nötig gebraucht … Ich wollte für dich da sein. Und er sollte für mich da sein. Aber er begreift das nicht. Und er hat keine Ahnung, wie mir dabei zumute ist. Er merkt es nicht einmal.« Violet verbarg ihr Gesicht in den Händen. »Mein Gott, was sage ich denn da? Bin ich verrückt?«
Evelyn massierte beruhigend Violets Rücken. »Also gut. Fangen wir von vorn an. Du sagst, er merkt von alledem nichts. Hast du denn je mit ihm über deine Gefühle gesprochen? Weiß er überhaupt, dass du überlegst, ihn zu verlassen? Oder ist das schon das erste Problem?«
»Nein, nicht konkret.« Violet klang ungewöhnlich kleinlaut.
»Dann lass dir eines gesagt sein! Nichts überstürzen, meine Liebe. Also, du machst jetzt Folgendes. Du bringst die Kinder dieses Wochenende zu mir, sorgst dafür, dass er keine geschäftlichen Termine hat, und dann fahrt ihre beiden irgendwohin und redet miteinander. Ich muss zugeben, dass mir die Karrieregeilheit deines Ehemannes zu Lasten der Familie schon immer übel aufgestoßen ist. Aber er hat eine Chance verdient. Gib ihm Gelegenheit, sich zu ändern. Du musst ihm wenigstens erklären, dass es ein Problem gibt, ihm freistellen, das Ganze, wenn möglich, auszubügeln. Ich schätze, nach dem Wochenende weißt du, ob es noch eine Ehe gibt, die zu retten sich lohnt.« Evelyn klatschte zufrieden in die Hände. Problem gelöst! »Ist sowieso Zeit, dass ich mal wieder was mit meinen Nichten und Neffen unternehme, ihnen beweise, dass man mit der alten Tante noch Spaß haben kann.«
Violet nickte. Sie wirkte erleichtert, dass die Schwester die Initiative ergriffen hatte. »Danke, Ev. Ich hätte wissen müssen, dass es allein schon hilft, mit dir zu reden.«
»Ja, das hättest du. Ich bin immerhin deine große Schwester. Nur weil du sonst immer meinst, mir sagen zu müssen, was zu tun ist, heißt das nicht, dass ich nicht auch für einen Rat gut bin.« Evelyn stand auf, nahm ihre Strickjacke von der Stuhllehne und legte sie sich um die Schultern. Dann griff sie nach ihren Wagenschlüsseln. »Aber glaub ja nicht, dass ich vergesse, was du über mich gesagt hast. Ich meine Weihnachten und dass ich wie der Tod auf Latschen ausgesehen haben soll. Das wirst du mir büßen.«
Violet lächelte. »Das habe ich mir schon fast gedacht.«
Auf der Heimfahrt war Evelyn seit langem wieder einmal mit sich zufrieden. Sie hatte etwas für ihre Schwester getan. Sie hatte an einen anderen Menschen gedacht, anstatt wie seit Monaten in Selbstmitleid zu versinken. Und sie hatte das Gefühl, dass Violets und Marks Ehe zu kitten war. Jede Ehe geriet gelegentlich in stürmische Gewässer – man musste erst einmal tiefe Täler durchschreiten, um die Höhen genießen zu können. Obwohl sie sich kaum erinnern konnte, solche Tiefpunkte mit Carl erlebt zu haben – von seiner Krebskrankheit einmal abgesehen. Und auch während dieser harten Zeit hatten sie noch etliche wunderschöne Tage zusammen erlebt.
»Großer Gott, unsere Ehe war verdammt glücklich, was?«, murmelte sie und drohte in Melancholie zu versinken. Aber sie schluckte die Tränen hinunter, drehte das Autoradio auf und lächelte. »Und es macht mich noch heute sehr glücklich, dass es so gewesen ist.«