11
Belinda
Belinda fuhr langsam durch die verschlafene Stadt Wahdoonga. Es war der Tag nach dem zweiten Weihnachtsfeiertag, und sie war froh, nach den Festtagen im Kreis der Familie ein bisschen Zeit für sich zu haben. Sie lenkte den Wagen tief in Gedanken versunken in Richtung Autobahn, neben sich auf dem Beifahrersitz die üppige Wegzehrung, die die Mutter ihr für die Heimfahrt mitgegeben hatte.
In letzter Sekunde, bevor sie in die Auffahrt zur Autobahn einbog, riss sie das Steuer herum und nahm einem plötzlichen Impuls folgend die Auffahrt in die entgegengesetzte Richtung. Plötzlich waren ihr die beiden Mädchen und ihr kleiner Flohmarkt am Straßenrand eingefallen. Und sie erinnerte sich, wie gut ihr die strahlenden Kindergesichter angesichts des üppigen Trinkgelds getan hatten. Sie glaubte, vor der langen Fahrt ein wenig Aufmunterung nötig zu haben, und nahm nach einigen Kilometern die Ausfahrt, die sie schon ein paar Wochen zuvor zu den beiden Mädchen geführt hatte.
Belinda glaubte sich auf dem richtigen Weg zu der Kleinstadt, an deren Hauptstraße die beiden gestanden hatten. Hier irgendwo musste es sein! Belinda steuerte den Wagen im Fußgängertempo durch die Straßen, betrachtete jedes Haus und suchte nach einem vertrauten Detail. Der große Jakarandabaum mit dem Schild der Mädchen war ihr schließlich noch deutlich in Erinnerung. Das Problem war nur, dass an fast jeder Ecke ein Jakarandabaum stand. Sie begann an ihrem Orientierungssinn zu zweifeln und fuhr sämtliche Seitenstraßen ab. Ohne Erfolg.
Nach einer guten halben Stunde kam sie sich reichlich dumm vor und gab auf. Niedergeschlagen fuhr sie zur Autobahn zurück und wusste selbst nicht mehr, wie sie auf die Idee gekommen war, nach den Mädchen zu suchen. Schließlich war es unwahrscheinlich, dass die beiden ihren kleinen Flohmarkt regelmäßig aufbauten.
»Warum hast du mich nicht davon abgehalten, eine komplette Idiotin aus mir zu machen und meine Zeit damit zu verschwenden, dauernd im Kreis zu fahren?«, sagte sie laut und erkannte sofort, dass ihre Worte wieder einmal an Andy gerichtet waren. Bei ihren Eltern hatte sie keinen Gedanken daran verschwendet, Andy könne sie als »Schutzengel« begleiten. Erst im Wagen hatte sich dieses Gefühl wieder eingestellt.
Und plötzlich hatte sie das Bedürfnis, das Gespräch fortzusetzen, ihrem »gespenstischen« Begleiter die Neuigkeiten mitzuteilen, die sie auf der Farm erfahren hatte. »Also, was hältst du von der Bombe, die Dad aus heiterem Himmel hat platzen lassen? Es hat sich doch tatsächlich herausgestellt, dass seine Gene für die Zwillinge verantwortlich sind.« Sie überlegte, was Andy wohl dazu gesagt hätte. Vermutlich hätte er sich über den Ausdruck »Bombe platzen lassen« lustig gemacht, denn das war eindeutig eine typisch Heartford’sche Redewendung. Belinda ertappte sich immer häufiger dabei, dass sie in den Jargon der Familie verfiel, sobald sie längere Zeit auf der Farm verbrachte.
»Soviel ich weiß, hatte deine Großmutter die Hälfte der Schwangerschaft bereits überstanden«, hatte Vater Brett erklärt, »als der Arzt entdeckt hat, dass sie Zwillinge erwartete. Meine Eltern waren alles andere als begeistert. Sie haben gerechnet und gerechnet und sind zu dem Schluss gekommen, dass sie sich zwei Babys nicht leisten konnten. Hatte sie schon eine Menge Überwindung gekostet, sich überhaupt auf ein Kind einzulassen.«
»Dann haben Sie deinen Zwillingsbruder zur Adoption freigegeben? Mein Gott, wir müssen versuchen, deinen Bruder … oder deine Schwester … Weißt du überhaupt, ob es ein Junge oder ein Mädchen gewesen ist?«, fragte Becky atemlos.
»Immer langsam mit den jungen Pferden. Keine falschen Schlüsse, Becky«, meldete sich Barbara zu Wort, die fasziniert zugehört hatte.
»Ich weiß, wo und wer mein Zwillingsbruder ist«, fuhr Brett fort.
»Was? Wo denn?«
»Wollt ihr nicht erst die ganze Geschichte hören?«
Alle hatten zustimmend genickt und sich gezwungen, keine Zwischenfragen mehr zu stellen.
»Nachdem eure Großeltern sich ausgerechnet hatten, dass sie unmöglich beide Babys großziehen konnten, fiel ihnen Joy ein – die Schwester meiner Mutter, die drüben in Perth lebte. Joy konnte keine Kinder bekommen. Also haben sie Joy angerufen und ihr vorgeschlagen, dass sie einen der Zwillinge nach der Geburt als ihr eigenes Kind annehmen sollte. Allerdings hat eure Großmutter zur Bedingung gemacht, dass das Kind nie die Wahrheit über seine richtigen Eltern erfahren dürfe.«
Belinda, Becky und Barbara schwiegen verblüfft. »Dann ist dein Vetter Robbie junior also eigentlich dein Zwillingsbruder?«, fragte Barbara schließlich nachdenklich. »Und damit mein Schwager und der Onkel unserer Kinder? Und das erfahre ich erst jetzt?«
»Robbie durfte es nie erfahren. Deshalb musste ich das Geheimnis für mich behalten … Bist du sicher, dass ich es dir nie erzählt habe?« Brett wirkte nervös und unsicher, wie Barbara auf die Geschichte reagieren würde. »Ein Glück, dass wir uns nicht gleichen wie ein Ei dem anderen.«
»Wie haben sie entschieden, welches Baby weggegeben werden soll?«, wollte Belinda wissen.
»Nun ja … Wären es ein Junge und ein Mädchen gewesen, dann wäre das Mädchen weggegeben worden. Mum und Dad wollten einen Jungen. Er sollte ihren Handwerksbetrieb mal übernehmen. Aber als zwei Jungen geboren wurden, hat Mum die Kinderschwester gebeten, einen Zwilling Joy zu übergeben. Hätte ebenso gut mich treffen können.«
Jetzt, auf der Autobahnfahrt, versuchte Belinda, sich in ihre Großmutter hineinzuversetzen. Was mochte sie gefühlt haben? Leicht konnte ihr die Entscheidung nicht gefallen sein. Wie hatte sie nur so vernünftig und pragmatisch handeln können? Für Belinda wäre allein der Gedanke unerträglich gewesen – ungeachtet der Tatsache, dass das Kind in der Familie der eigenen Schwester aufwachsen sollte.
»Was hältst du davon, Andy? Offenbar habe ich einen Onkel, der keine Ahnung hat, dass er der Bruder meines Vaters ist.« Sie hielt inne und wartete auf eine Antwort. Diese blieb aus verständlichen Gründen aus.
»Mein Gott, lass den Unsinn!«, schimpfte sie mit sich selbst. »Andy ist nicht da. Er lebt nicht mehr. Er ist kein Schutzengel. Und er spukt nicht. FINDE DICH DAMIT AB!«
Die restliche Strecke legte sie bei geöffneten Fenstern und lauter Musik zurück, ohne einen weiteren Gedanken an die Ereignisse der letzten Zeit zu verschwenden.
Zu Hause in der Stadt verblasste die überraschende »Familienbeichte« des Vaters zu einer flüchtigen, für Belinda bedeutungslosen Episode. Sie war vorrangig damit beschäftigt, die Gedanken an einen »spukenden« Andy geradezu mantrahaft aus ihrem Bewusstsein zu verbannen: Andy ist tot. Andy gibt es nicht mehr. Das sagte sie sich immer dann, wenn die Versuchung zu groß wurde, eine peinlich einseitige Unterhaltung mit dem Toten zu führen.
Und diese Versuchung stellte sich häufiger ein, als ihr lieb sein konnte. Da war zum Beispiel bei ihrer Rückkehr aus den Weihnachtsferien die Entdeckung, dass die defekte Klappe ihres Briefkastens, die vor ihrer Abreise noch windschief aus den Angeln gehangen hatte, wie von Geisterhand repariert worden war. Jetzt war der Briefkasten wieder intakt. Belinda hatte Mühe, sich nicht beim »himmlischen« Andy zu bedanken, und redete sich tapfer ein, der Hausmeister müsse seine Hand im Spiel gehabt haben; ein Hausmeister, den sie allerdings in den zwei Jahren, die sie in diesem Wohnblock lebte, nie auch nur flüchtig gesehen hatte. Davon abgesehen hätte ein Hausmeister, so es ihn geben sollte, sicher längst etwas gegen die ärgerliche Dauerbeschallung durch die Fehlerdurchsage im Lift wegen des defekten Aufzugnotrufs unternommen. Da diese Gedanken jedoch unproduktiv waren, wurden sie erfolgreich verdrängt.
Dann kam Silvester. Seit ihrem neunzehnten Lebensjahr der erste letzte Tag im Jahr, den sie allein begehen würde. Sie hatte sich einen schwierigen Abend vorgestellt. Natürlich. Dass es keinen Andy mehr gab, der sie um Mitternacht umarmte und küsste, würde wehtun. Dass der Abend letztendlich so deprimierend verlaufen sollte, damit allerdings hatte sie nicht gerechnet. Sie blieb zu Hause und versuchte die Partys zu ignorieren, die in den umliegenden Apartments gefeiert wurden. Ihre Freundinnen hatten allesamt versucht, sie aus der Wohnung zu locken. Belinda jedoch fühlte sich fett und unattraktiv und hatte darauf bestanden, allein zu Hause zu bleiben. Und der Kontakt zu Andys Freunden war seit der Beerdigung eingeschlafen. Sie hatte noch immer nicht gewagt, einen von ihnen anzurufen und von ihrer Schwangerschaft zu erzählen. Umgekehrt hatte auch niemand Kontakt zu ihr gesucht.
Belinda verbrachte daher eine trostlose Nacht, surfte in Facebook und las die Statusmeldungen, die andere von ihren iPhones schickten:
JULIA GIANNACOPOLOUS Das Feuerwerk des Jahres heute in der City. Und was ist mit mir? Soll ich mich hier allein vergnügen oder was?
STACEY THOMAS denkt an Belinda und hofft, dass sie friedlich schläft.
CHARLI SAUNDERS hat eine geile Party im Keller laufen.
LEAH ATTARD OMG, in NY ist der Silvesterteufel los! Wenn du heute nicht in dieser Stadt bist, kannst du dich begraben lassen. Ehrlich! Kann es kaum erwarten, euch die Bilder zu mailen!
Schließlich riss sich Belinda vom Computer los und ging ins Bett. Allerdings erst nachdem sie Leah Attard als Freundin aus ihrem Facebook-Account entfernt hatte. Um drei Uhr morgens hatte sie dann genug davon, sich ruhelos im Bett herumzuwälzen. Es war unerträglich heiß. Der kleine Ventilator auf ihrem Nachttisch konnte ihr kaum Kühlung verschaffen. Und die Bewohner der gegenüberliegenden Wohnung feierten noch in den frühen Morgenstunden ausgelassen und mit dröhnend lauter Musik. Mittlerweile brauchte Belinda ihren Schlaf. Sie schwang sich aus dem Bett und lief im Nachthemd und mit zerzaustem Haar in Richtung Wohnungstür, entschlossen, die Nachbarn zu bitten, die Musik leiser zu stellen. Während sie durch das Wohnzimmer stolperte, murmelte sie geistesabwesend: »Wenn du noch immer spuken würdest, Andy, dann hättest du inzwischen ganz sicher was gegen diesen verdammten Lärm unternommen!«
Sie hatte schon die Hand an der Türklinke, war kurz davor, auf den Flur hinauszutreten, als die Musik plötzlich verstummte. Eine Männerstimme rief: »Entschuldigung!« Danach folgte Stille. Kein Laut war mehr zu hören.
»Andy?«, flüsterte sie unwillkürlich. Sie legte die Finger sanft gegen die Tür, gestattete sich flüchtig den Gedanken, Andy würde sie im Treppenhaus mit ausgebreiteten Armen erwarten. Dann allerdings gewann der gesunde Menschenverstand die Oberhand. Das war nicht seine Stimme! Unmöglich! Sie weigerte sich standhaft, die blödsinnigen Gedanken weiterzuspinnen. Die Party gegenüber war einfach im selben Augenblick zu Ende gegangen, als sie sich beschweren wollte. Und der Ruf »Entschuldigung« bedeutete vermutlich nur, dass der Gastgeber gemerkt hatte, wie spät es bereits geworden war, und alle, die sich gestört fühlten, um Verzeihung gebeten hatte.
Andy spukt nicht. Andy ist tot. Andy gibt es nicht mehr.
In den darauffolgenden zwei Wochen ging das Leben im gewohnten Trott weiter – so gut, wie das in einer Zwillingsschwangerschaft eben möglich war, die ihren Körper (beziehungsweise ihr Leben) doch stark strapazierte. Nach den Feiertagen nahm sie auch die Arbeit im Schwimmbad wieder auf und absolvierte so viele Kurse, wie sie während der Semesterferien bewältigen konnte. Sie erledigte Einkäufe, traf sich mit Freundinnen, las fleißig Bücher über Babypflege und mied ebenso fleißig das Fitnessstudio. Hatte es überhaupt noch einen Sinn, ihre Mitgliedschaft zu verlängern? Schließlich hielt sie Schwimmkurse ab. Dadurch hatte sie ihres Erachtens genug Bewegung. Und natürlich hatte ihre plötzliche Abneigung gegen das Fitnessstudio absolut nichts damit zu tun, dass ihr unglücklicher Sturz vom Laufband viele Zuschauer gehabt hatte.
Eines Abends kam Belinda nach einem Doppelkurs im Schwimmbad mit einem Kofferraum voller Einkäufe nach Hause. Sie hatte sich auf dem Heimweg in einem Supermarkt nicht nur mit den üblichen Lebensmitteln, sondern mit einem Vorrat an all jenen Dingen eingedeckt, die man in den ersten Wochen nach einer Zwillingsgeburt benötigte: Windeln, Feuchttücher, Badeöl und Watte, zusammen mit anderen Utensilien, die sie in den einschlägigen Regalen des Supermarkts entdeckt hatte. Als Belinda nun in den vollgepackten Kofferraum ihres Autos starrte, bereute sie, Staceys Angebot, ihr beim Ausladen zu helfen, ausgeschlagen zu haben. Die letzten Schwangerschaftswochen waren mühsam. Ihr Rücken schmerzte, die Fußgelenke waren geschwollen, und je mehr sie an Gewicht zulegte, desto weniger konnte sie tragen.
Belinda nahm als Erstes die beiden vordersten Tüten heraus, ließ die Kofferraumklappe geöffnet und ging zum Lift. Eigentlich hatte sie vorgehabt, ihre Einkäufe nach und nach bis zum Aufzug zu transportieren, doch der Drang zur Toilette wurde so groß, dass sie sofort mit dem Lift in ihr Stockwerk hinauffuhr. Dabei hoffte sie inständig, dass sich inzwischen niemand an ihren Einkäufen vergreifen würde. Belinda sank müde gegen die Spiegelwand der Aufzugkabine und stellte die beiden schweren Einkaufstüten neben sich ab, während der Lift langsam aufwärtsfuhr. Als sie den langen Flur zu ihrer Wohnung hinter sich gelassen und die Tür aufgeschlossen hatte, war sie erschöpft und musste so dringend auf die Toilette, dass sie es gerade noch ins Bad schaffte.
Beim Händewaschen zögerte sie kurz und warf einen Blick in den Spiegel. Sie sah furchtbar aus: dunkle Ringe unter den Augen, gebeugte Haltung, das Haar von der Heimfahrt bei geöffneten Fenstern wild zerzaust. Am liebsten hätte sie sich ins Bett gelegt, die Augen geschlossen und für eine Stunde die Welt vergessen. Doch der vollgepackte Kofferraum konnte nicht warten. Sie verließ das Badezimmer, als Selbstmitleid wie eine Brandungswelle über ihr zusammenschlug und ihre Gliedmaßen schwer werden ließ. Das ist nicht fair! Warum muss ich das alles allein ausbaden? Ich hatte einen Verlobten, ein Leben! Ich war fit und stark und kompetent und zufrieden und schön, und jetzt … Nichts ist mir geblieben! Und beinahe gleichzeitig schien ihr Babybauch unter einem wahren Trommelwirbel an Tritten aus den Fugen zu geraten.
Augenblicklich stellten sich Schuldgefühle ein. Wie konnte sie nur so undankbar sein? Natürlich war ihr etwas geblieben – sogar in doppelter Ausführung! Jedenfalls schienen die beiden entschlossen, sich jederzeit bemerkbar zu machen. Und worüber beschwerte sie sich überhaupt? Sicher, ihr Leben hatte sich grundlegend verändert. Andy dagegen war tot. Er hatte kein Leben mehr.
Angesichts dieser Erkenntnisse holte Belinda erst einmal tief Luft. Also gut! Bring es einfach hinter dich. Wenn der ganze Kram ausgeladen ist, kannst du dich auf die Couch setzen und eine Runde heulen.
Belinda öffnete die Wohnungstür und wäre beim Schritt in den Flur beinahe über die fünf oder sechs riesigen Einkaufstüten aus dem Kofferraum ihres Wagens gestolpert, die in Reih und Glied vor der Tür auf sie warteten. Diesmal war sie weder entsetzt noch überrascht. Sie biss sich auf die Lippen, um die Tränen zurückzuhalten, und trug eine Tüte nach der anderen in die Küche.
Als alles verstaut war, ging sie den Flur entlang zum Lift. Dort vor der Aufzugtür standen vier weitere Einkaufstüten. Sie ließ sie dort stehen, stieg in den Aufzug und lief, so schnell sie konnte, auf das Parkdeck. Dabei redete sie sich ein, nur die restlichen Tüten holen zu wollen, aber das war nur ein Vorwand. Sie wollte ihn auf frischer Tat ertappen. Die Sache mit den Einkäufen war nicht das Werk eines Hausmeisters – ebenso wenig wie die Reparatur der defekten Briefkastenklappe. Und es handelte sich nicht um Blumensträuße, die an die falsche Adresse geliefert worden waren. In diesem Fall war keine Verwechslung möglich. Wer auch immer die Einkaufstüten zu ihrer Wohnung geschleppt hatte, wusste genau, für wen sie bestimmt waren.
Als sie um die Ecke bog und freien Blick auf ihren Parkplatz hatte, entdeckte sie über ihren Kofferraum gebeugt eine Gestalt mit einer nur allzu vertrauten Mütze. Ihr Magen krampfte sich zusammen, und diesmal waren nicht die Babys daran schuld. Sie registrierte lange, sonnengebräunte, muskulöse Arme. Ihr Herz schlug schneller. In diesem Moment wandte die Gestalt ihr das Gesicht zu, und die vertrauten Züge verzogen sich zu einem scheuen Lächeln.
Andy.
Sie schlug die Hand vor den Mund, um ein Schluchzen zu unterdrücken. Dann öffnete Andy den Mund, um etwas zu sagen. Die Stimme passte nicht. Andys Züge verblassten. James sah sie an, und sie glaubte, ohnmächtig werden zu müssen. Die Welt um sie begann sich zu drehen, und sie geriet gefährlich aus dem Gleichgewicht.
Andy ist James.
James ist Andy.
Ihr wurde schwindelig, und sie schwankte. Alles drehte sich um sie, und sie fiel. Es war zu spät, ihre Hand fand keinen Halt, und sie wappnete sich instinktiv für den Aufprall auf dem harten Betonboden. Doch so weit kam es nicht.
Starke Arme hielten Belinda umschlungen, bremsten ihren Sturz und ließen sie sanft zu Boden gleiten. Sie kniff die Augen fest zu und versuchte sich einzubilden, in Andys Armen zu liegen. Vergebens. Der Zauber war gebrochen. Sie wusste, dass er es nicht sein konnte. Es nie gewesen sein konnte. Wusste plötzlich, wie dumm sie gewesen war. In diesem Augenblick akzeptierte sie endgültig, dass es Andy nicht mehr gab, nicht einmal mehr als guten Geist. Und es war, als verliere sie ihn in diesem Moment ein zweites Mal. Die Erkenntnis war niederschmetternd.
»Ganz ruhig, Belinda. Ist mit dir alles in Ordnung?« James’ Stimme drang nur gedämpft an ihr Ohr. Sie schlug die Augen auf und sah ihn an.
»Danke«, flüsterte sie. »Das hätte verdammt ins Auge gehen können.«
»Keine Ursache.« James’ besorgte Miene erstarrte, und seine Augen weiteten sich, als sein Blick auf ihren Bauch fiel.
»Bist du …?« Er verstummte verunsichert.
»Richtig. Ich bin schwanger. Mein Bauch ist ja wohl kaum zu übersehen. Und angefressen habe ich ihn mir bestimmt nicht«, zischte sie gereizt.
»Besser, man fragt, bevor man ins Fettnäpfchen tritt.« Er hob abwehrend die Hände. »Kannst mir meine Überraschung kaum übel nehmen. Das war das Letzte, was ich erwartet hätte. Und was war das gerade? Eine Schwangerschaftsohnmacht oder so was?«
»Bitte, können wir uns drinnen weiterunterhalten?« Belinda kam sich dort auf dem Betonboden des Parkhauses ziemlich fehl am Platz vor. Außerdem würde das Pfefferminz-Schokoladeneis schmelzen, wenn sie es nicht schleunigst in der Tiefkühltruhe verstaute.
James half Belinda auf, packte den Rest der Einkaufstüten mit einer Hand und stützte sie mit dem anderen Arm. Sie gingen zum Lift. Belindas Beine fühlten sich an wie aus Gummi.
»Ich möchte ja nicht undankbar klingen, aber was machst du eigentlich hier, James? Wieso diese plötzliche Hilfsbereitschaft? Ich meine, immerhin habe ich dich nicht mehr gesehen seit …« Sie brachte »Andys Beerdigung« nicht über die Lippen.
»Ich weiß. Tut mir leid. Deshalb bin ich ja gekommen.«
»Du bist gekommen, um mir bei meinen Einkäufen zu helfen?«
»Nein, sei nicht blöd! Ich wollte mit dir reden, dir erklären, warum ich mich all die Zeit nicht bei dir habe blicken lassen. Und als ich mit dem Wagen in die Tiefgarage eingebogen und auf einen Gästeparkplatz gefahren bin, habe ich dein Auto mit offenem Kofferraum und die Unmengen von Einkaufstüten entdeckt. Hatte das Gefühl, dass du Hilfe brauchen kannst. Aber warte. Gehen wir erst mal rein.«
Im Lift bemerkte Belinda leise: »Du hast seine Mütze auf.«
»Ja, stimmt. Entschuldige«, murmelte James und riss sich die Baseballkappe vom Kopf.
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Es hat mich nur erschreckt, das ist alles.« Dabei kam sie sich sehr dumm vor. Sie hätte James sofort an seinen hellbraunen Locken erkennen müssen, die so lang waren, dass sie die Baseballkappe nicht vollständig verdecken konnte. Andy hatte sein Haar stets kurz getragen und außerdem schmalere Schultern gehabt. Obwohl James und Andy eineiige Zwillinge gewesen waren, hatte es einige, wenn auch kleine Unterschiede gegeben, die eine aufmerksamere Verlobte hätte bemerken müssen.
James brachte Belinda in die Wohnung und führte sie zur Couch. Anschließend holte er die Einkaufstüten, die vor dem Lift standen. Nachdem alles in Küche, Eisschrank und Tiefkühltruhe verstaut war, setzte James sich neben Belinda. Nach einigen Minuten peinlichen Schweigens war es James, der als Erster das Eis brach.
»Also – hat dich offenbar überrascht, mich hier zu sehen, was?«
Belinda lächelte gequält. Sie war keinesfalls bereit, James zu erzählen, welchem Trugbild sie bei seinem Anblick beinahe erlegen war. Sie zwang sich, seinem Blick standzuhalten, und erwiderte so gelassen wie möglich: »Bin ziemlich erschrocken. Das ist alles.«
»Pah! Überraschung? Schreck? Wo liegt da der Unterschied? Die Wirkung jedenfalls war gleichermaßen durchschlagend!« James grinste, und Belinda musste lachen.
»Touché!«, konterte sie.
»Also gut. Du zuerst. Sag die Wahrheit! Wer ist der Vater?«
»Willst du mich auf den Arm nehmen? Glaubst du, ich wäre nach Andys Tod gleich unter die nächste Bettdecke geschlüpft? Wer zum Teufel, meinst du denn, ist der Vater?«, antwortete Belinda ruppiger als beabsichtigt. Vermutlich war es das schlechte Gewissen, das sich meldete bei dem Gedanken daran, dass sie am Abend nach Andys Tod beinahe wirklich unter die nächste Decke geschlüpft wäre. Beinahe!
»Heiliger Bimbam! Ist das dein Ernst? Ist das überhaupt möglich? Ich meine, du bist mit meiner Nichte oder mit meinem Neffen schwanger?« Er begann an den Fingern abzuzählen, als wolle er nachrechnen, ob sein Bruder auch tatsächlich der Vater sein konnte.
Belinda schlug ihm ärgerlich auf die Hand. »Ja, das ist mein Ernst, du Idiot! Andy ist der Vater. Und es können übrigens durchaus eine Nichte und ein Neffe werden.«
»Wie bitte?«
Eine Viertelstunde später war James über alles im Bilde. Belinda musste zugeben, dass sie die entsetzten Reaktionen auf ihre Zwillingsschwangerschaft allmählich satthatte. James entschuldigte sich sofort wortreich für sein Verhalten.
»Mum hebt ab, wenn sie davon erfährt«, bemerkte James für Belindas Geschmack etwas zu selbstverständlich.
»Ach wirklich? Und wie sollte sie bitte schön davon erfahren?« Sie zog die Augenbrauen hoch und sah ihn drohend an.
»Keine Chance! Du kannst nicht erwarten, dass ich ihr die Neuigkeit vorenthalte!«
»Das kann ich sehr wohl und werde es auch verdammt noch mal tun … zumindest so lange, bis ich dazu bereit bin. Ist das klar?«
James wollte protestieren, doch Belindas Blick brachte ihn zum Schweigen. »Die Sache ist für mich erledigt«, erklärte sie kategorisch. Und um das Thema zu wechseln, fügte sie hastig hinzu: »Was gibt’s denn bei dir Neues? Ich habe seit Monaten nichts von dir gehört. Jetzt bist du an der Reihe. Also … erzähl!«
»Darf ich mit ’ner Entschuldigung anfangen?«
»Klar doch. Heißt allerdings nicht, dass ich sie auch annehme.«
»So einfach machst du’s mir nicht, was?«
»Warum sollte ich? Ich dachte, wir wären Freunde. Immerhin warst du mein Schwager in spe. Aber zusammen mit Andy habe ich offenbar auch dich verloren. Du hast mich bei der Beerdigung keines Blickes gewürdigt. Und seitdem war Funkstille.«
»Mann, Belle! Hat dich das so gekränkt?« James war bestürzt.
»Jetzt mal ehrlich? Was hast du erwartet?« Belinda war entschlossen, diesmal nicht zu kneifen.
James beugte sich vor, stemmte die Ellbogen auf die Knie und legte die Fingerspitzen gegeneinander. Schließlich holte er tief Luft. »Also, es ist so. Als das mit Andy passiert war, war ich völlig fertig. Du als Person … allein dein Anblick hat mich an Andy erinnert. Und das tat einfach verdammt weh.« Er blies nervös die Backen auf.
»Aha? Mich anzusehen hat dich also zu schmerzhaft an Andy erinnert?« Nach einer Kunstpause fuhr sie fort: »Wie zum Teufel glaubst du, dass ich mich fühle, wenn ich dich sehe?«
James nickte. »Nur zu verständlich«, stimmte er zu. »Aber ich habe mich dabei miserabel gefühlt, das musst du mir glauben. Und weißt du was? Du hast mir gefehlt. Wir hatten Spaß zusammen, haben uns betrunken, Andy nach Strich und Faden verarscht. Ich finde, das hat uns irgendwie zusammengeschweißt. Jedenfalls wäre Andy stocksauer auf mich, wäre er noch am Leben. Er wollte, dass wir uns verstehen, und ich war einfach nur gemein zu dir.«
»Ja, das warst du«, betonte Belinda etwas milder gestimmt. »Trotzdem verstehe ich deine Gefühle. Im Übrigen bin ich in letzter Zeit ziemlich hormongesteuert und neige dazu überzureagieren.«
»Können wir noch mal von vorn anfangen? Ich wäre gern öfter mit dir zusammen. Aber wenn ich mich nicht irre, sind feuchtfröhliche Kneipennächte in nächster Zeit für dich vermutlich tabu, oder?«
Belinda nickte lächelnd. »Kann man so sagen. Erinnerst du dich an den Abend, als Andy uns bekannt gemacht hat? Der endete berauschend, was?«
*
»Ah, du bist also das Mädchen, das meinen kleinen Bruder unter die Haube zwingen will?«
»He, Belle! Halte uns den Tisch frei, während wir die Drinks holen, ja?«
»Moment, Andy. Hat James gerade ›kleiner Bruder‹ zu dir gesagt? 'tschuldigung, aber seid ihr nicht Zwillinge? Also gleich alt?«
»Nur weil er als Erster auf die Welt gekommen ist, hält er sich für den älteren und ›weiseren‹ großen Bruder. Wir sind gleich wieder da – Frangelico für dich? Haselnusslikör mit Limone, stimmt’s?«
»Ja, bitte.«
*
Belinda musterte James aus schmalen Augen. »Hast du gewusst, dass ich euch beide an jenem Abend an der Bar belauscht habe, als ihr die erste Runde Drinks bestellt habt? Ich sollte den Tisch bewachen, aber ich musste kurz auf die Toilette. Im Vorbeigehen habe ich gehört, dass ihr beide über mich sprecht. Da konnte ich nicht anders. Ich musste euch belauschen.«
»Himmel, machst du Witze? Ich habe mich an jenem Abend wie ein Arschloch benommen.«
»Am Anfang? Ja«, bekräftigte Belinda lachend. »Aber es wurde besser. Also habe ich dir verziehen.«
»Benimm dich anständig, kapiert, James?«
»Wo liegt dein Problem, Mann? Was habe ich denn jetzt schon wieder falsch gemacht?«
»Ist mir nicht entgangen, wie du Belle angesehen hast. Du gibst ihr keine Chance, stimmt’s? Sie ist ein Supergirl, und ich wäre dankbar, wenn du versuchst, mit ihr klarzukommen. Ich mag sie! Hundertprozentig!«
»Mann, hätte ich nicht gedacht! Nicht mal, als ich diesen verdammt großen Klunker an ihrem Ringfinger entdeckt habe. Wie tief ist das Loch, das der Batzen Edelmetall in deine Finanzen gerissen hat?«
»Das tut nichts zur Sache.«
»Ist auch egal. Aber Mann, wieso hast du dich verlobt, ohne mir wenigstens eine E-Mail oder so zu schicken?«
»Ist das der Grund? Bist du sauer, weil ich mich verlobt habe, ohne Rücksprache mit meinem Bruder zu halten?«
»Wie auch immer. Hat sowieso keine Bedeutung. Die ganze Geschichte geht mir am Arsch vorbei.«
»Jetzt hör mal! Keine Ahnung, warum ich’s dir nicht gesagt habe. Schätze, ich hatte Angst, du könntest es mir ausreden. Und nach deiner langen Zeit im Ausland hatten wir eigentlich nicht mehr viel miteinander zu tun. Trotzdem ist mir deine Meinung wichtig. Also bitte, versuch sie einfach besser kennenzulernen. Wird eine beschissene Hochzeit, wenn der Trauzeuge mit der Braut nicht klarkommt.«
»Trauzeuge?«
»Bist du blöd? Wer sonst sollte das sein?«
»Okay, sie kriegt ihre Chance. Aber nur, wenn du versprichst, nie mehr mit mir über Gefühle zu faseln.«
»Weshalb hatten wir an jenem Abend damals eigentlich so viel Spaß miteinander?«, wollte James plötzlich wissen und runzelte die Stirn.
»Schnaps«, antwortete Belinda lapidar.
»Ah ja, stimmt. Und natürlich weil du genauso gut einstecken kannst, wie du austeilst. Kann mich noch gut erinnern, wie ich dich angemacht habe, weil du den Tisch nicht für uns frei gehalten hattest. Aber den Schuh hast du dir nicht angezogen. Ich war beeindruckt.«
»Und nicht vergessen … Andy war zum Fahren verdonnert. Je betrunkener wir beide waren, desto übellauniger wurde er und desto mehr haben wir uns über ihn lustig gemacht.«
»Als Bruder war ich wirklich eine taube Nuss.«
»Mach dir deshalb keine Vorwürfe. So läuft es unter Geschwistern nun mal. Soweit ich mich erinnere, war Andy am nächsten Tag nur froh, dass wir uns gut verstehen. Er wollte, dass wir Freunde werden.«
Belinda und James gingen immer entspannter miteinander um. Es war alles gesagt, was gesagt werden musste. Die weitere Unterhaltung drehte sich um unverfänglichere Themen. Sie hatten sich einiges zu erzählen. Belinda gestand ihm ihren peinlichen Sturz im Fitnesscenter, was James mit einer angemessenen Mischung aus Belustigung und Besorgnis quittierte. Anschließend berichtete er von seinem Einbruch in die Schule und den Stunden in der Ausnüchterungszelle. Belinda registrierte überrascht, wie couragiert sich Evelyn für ihren Sohn eingesetzt hatte. Bisher hatte sie Evelyn eher für eine Mutter gehalten, die nach dem Motto »Werft sie den Löwen zum Fraß vor« handelte. James’ herzerweichende Geschichte stimmte Belinda noch gesprächiger. Sie erzählte ihm von dem erst jüngst gelüfteten Geheimnis der Familie Heartford.
»Ich muss gestehen, solche Skandalgeschichten hätte ich deiner Familie gar nicht zugetraut«, bemerkte James.
»He! So schlimm ist es auch wieder nicht!«, entgegnete Belinda lachend und schlug mit einem Sofakissen auf ihn ein.
»Okay, okay! Ich ergebe mich!«, rief er und blockte ihre Kissenattacke geschickt ab.
Sie schwiegen einen Moment. Schließlich sah James auf die Uhr. »Donnerwetter! Ist spät geworden. Ich sollte dich jetzt endlich allein lassen, damit du dir was zum Abendessen kochen kannst und so«, fügte er hinzu und begann Handy, Schlüsselbund und Brieftasche einzusammeln.
»Abendessen und so?«, wiederholte Belinda leise, wie zu sich selbst. »Das hat Andy auch immer gesagt. Seine Sätze haben oft mit ›und so‹ geendet.«
James ließ die Schultern hängen. »Tut mir leid. Ich wollte nicht …«
»Unsinn!«, unterbrach sie ihn. »War nicht so gemeint … Ist einfach nett, es mal wieder zu hören.« Nach einer Pause fuhr sie fort: »Warum bleibst du nicht zum Essen? Es tut gut, mit dir zu reden.«
James legte die eingesammelten Utensilien augenblicklich wieder auf den Tisch und sank zurück auf die Couch. »Großartige Idee. Danke. Das Wetter draußen ist sowieso nicht gerade einladend. Nass und stürmisch.«
Belindas Blick wanderte zum Fenster. »Ich habe gar nicht bemerkt, dass sich ein Gewitter zusammengebraut hat.« Sie sah James an, der sich in den Polstern gemütlich zurückgelehnt hatte, und fügte energisch hinzu: »Aber falls du zum Essen bleibst … erwarte nicht, dass du hier auf deinem Hintern sitzen bleiben kannst, bis dir die Tauben in den Mund fliegen! Ab mit dir in die Küche, Junge!«
Belinda und James waren in der Küche ein gutes Team. James bereitete das Gemüse vor, während Belinda das Hühnchen in Balsamico marinierte und in Rotwein dünstete. James schenkte zum Essen für beide je ein Glas Wein ein, was Belinda sofort positiv vermerkte. Ohne zu fragen, ob sie in ihrem Zustand Alkohol trinken wolle, schob er ihr ein kleines Glas über den Küchentresen zu. Eine Erleichterung für Belinda, die sich in letzter Zeit von ihren Freundinnen entweder bevormundet oder gleichgültig behandelt fühlte. Stacey zum Beispiel räumte in ihrer Gegenwart alles aus dem Weg – von Schnapspralinen bis zum Cappuccino –, was den ungeborenen Babys ihrer Ansicht nach schaden konnte. Jules dagegen bot ihr Tequila-Cocktails an und blickte verständnislos drein, wenn sie diese ablehnte. All das nervte sie ungemein.
Beim Abendessen unterhielten sich James und Belinda angeregt. Schließlich landeten sie wieder auf der Couch, wo sie ihre Lieblings-CD von Jack Johnson hörten, sich einen Riegel dunkler Schokolade mit Orangenfüllung teilten und sich im Schutz von Belindas gemütlicher Wohnung einfach nur wohlfühlten, während sich draußen das Sommergewitter entlud, das sich am Spätnachmittag zusammengebraut hatte.
»Das war sehr schön«, bemerkte Belinda und kuschelte sich tiefer in die weichen Polster. »Oh, hallo! Wer da?« Sie verlagerte ihr Gewicht ein wenig und fuhr sich über den Bauch. »Rate mal, wer da wach ist? Möchtest du fühlen, wie sie sich bewegen?«
»Kann man das denn?«, erkundigte sich James erstaunt.
»Klar kann man das, du Dummkopf!« Sie ergriff seine Hand und hielt sie sanft an ihren Schwangerschaftsbauch. »Halte einfach eine Sekunde lang still«, sagte sie.
James wartete einen Moment und fuhr dann erschrocken zusammen, als eines der beiden Babys der Aufforderung nachkam und kräftig gegen seine Hand trat. »Heiliger Strohsack! Der oder die schlägt einen gepfefferten rechten Haken!«
»Ich glaube, das war eher ein Fuß. Und zwar der von ›Zwilling A‹, um genauer zu sein.«
»Wirklich? Woher willst du wissen, welcher oder welche es ist?«
»Das weiß ich ehrlich gesagt auch nicht so genau. Bei der letzten Ultraschalluntersuchung lag Zwilling A auf der linken und Zwilling B auf der rechten Seite. Aber inzwischen können sie durchaus die Plätze getauscht haben.«
»Du verwechselst sie jetzt schon, was? Na, dann viel Vergnügen! Wenn sie erst auf der Welt sind, kannst du dich auf was gefasst machen. Weißt du eigentlich, dass Mum uns ganz am Anfang verwechselt hat? Wir sind damals drei Wochen alt gewesen. Dad war wieder im Büro, und Mum wusste nicht, wie sie zwei schreienden Babys gleichzeitig die Windeln wechseln sollte. Normalerweise konnte sie uns anhand der unterschiedlichen Farbe unserer Söckchen auseinanderhalten. Sie hat uns also auf den Fußboden gelegt, uns die Strampelanzüge samt Strümpfen ausgezogen und uns die Windeln gewechselt. Und als sie uns wieder anziehen wollte, wusste sie nicht mehr, wer welche Söckchenfarbe getragen hatte. Bis heute ist nicht klar, ob sie uns die jeweils richtigen Strümpfe angezogen hat. Später wurde es angeblich immer einfacher, uns zu unterscheiden. Gab wohl doch kleinere Unterscheidungsmerkmale!«
Belinda lachte laut auf, und James stimmte ein. Er beugte sich zu ihr und berührte mit zwei Fingern ihre Wange. »Da hat sich ein kleiner Schokobrösel verirrt«, erklärte er – doch seine Hand blieb auf ihrer Haut, und sie sah ihm länger in die Augen, als es angemessen war bei jemandem, der beinahe ihr Schwager geworden wäre.
»Also rein theoretisch könnte ich auch Andy sein«, erklärte er, um die knisternde Atmosphäre zu neutralisieren.
Der Schuss ging jedoch nach hinten los. Belindas Herz schlug schneller, und ihre Haut prickelte. Ich könnte ihn zurückhaben, ich könnte Andy wiederhaben, hier und jetzt. Sie war nahe daran, sich zu James hinüberzubeugen und ihn zu küssen … Was zum Teufel bildete sie sich eigentlich ein?
Welche Rolle spielte es, wenn der Mann, der vor ihr auf der Couch saß, ursprünglich einmal »Andy« gewesen war – er seinem Bruder so ähnlich sah, dass allein sein Anblick sie ganz schwindelig machte? Damit wurde er keineswegs zu dem Mann, der ihr einen Heiratsantrag gemacht, mit dem sie Urlaube und Kinobesuche erlebt und zahllose, wunderbare Nächte verbracht hatte. Der Mann, mit dem sie verlobt gewesen war, war vielleicht zuerst geboren und ursprünglich James getauft worden – aber das spielte keine Rolle. An dem Tag, als die Mutter die beiden Jungen verwechselt hatte – falls sie sie tatsächlich verwechselt hatte –, war er zu Andy und derjenige geworden, den sie liebte.
Belinda zuckte abrupt zurück. Und James erkannte seinen Fehler. »Entschuldige. Es war dumm. Blöd von mir, das zu sagen.«
»Ist schon in Ordnung. Alles okay«, murmelte sie und starrte auf ihre Hände. »Vielleicht Zeit, dass wir uns für heute verabschieden, was?« Aus ihrer Stimme sprach deutlich Verlegenheit.
»Gute Idee.« Er schien erleichtert über den Ausweg, den sie ihm bot.
James suchte seine Sachen zusammen. Belinda brachte ihn zur Wohnungstür und hielt sie auf, um ihn so schnell wie möglich zu verabschieden. James machte Anstalten, in den Flur hinauszutreten, hielt jedoch im letzten Moment inne.
»Belinda, was gerade passiert ist, tut mir leid – aber ich bin trotzdem froh, dass ich bei dir war. Ich finde, wir können gute Freunde werden, und möchte die Verbindung zu dir nicht abreißen lassen. Ich bin verdammt erleichtert, dass ich den Mut hatte, dich zu treffen, anstatt nur die dämlichen Blumen vor deine Tür zu legen. Das hätte nichts wiedergutmachen können.«
Belinda hatte mit beharrlich zu Boden gesenktem Blick zugehört, sich gewünscht, endlich allein zu sein, um Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Kaum fiel jedoch das Wort »Blumen«, schnellte ihr Kopf hoch. Sie war entsetzt. »Die sind von dir gewesen?«, fragte sie atemlos.
»Ja. Entschuldige, dass ich meinen Namen nicht auf die Karte geschrieben habe. Ich wollte dir den Strauß eigentlich persönlich überreichen, aber dann hat mich in letzter Minute der Mut verlassen. Sollte eine Entschuldigung dafür sein, was Mum zu dir gesagt hatte. Ich war zu dem Schluss gekommen, dass es meine Pflicht ist, mich um dich zu kümmern. Der Blumenstrauß war nur so eine erste Idee …« Er gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn und fügte leise hinzu: »Sind wir wieder Freunde? Versprich mir, dass wir das auch bleiben. Ich möchte, dass du einen Platz in meinem Leben hast. Andy hätte das auch gewollt.«
»Natürlich«, erwiderte sie ruhig, nur um ihn loszuwerden. Sie musste über einiges nachdenken.
Schließlich ging er, zufrieden, dass der Kontakt wiederhergestellt war. Sie schloss die Tür hinter ihm, drehte sich um, lehnte sich dagegen und ließ sich langsam zu Boden sinken. Es war also nicht Andy gewesen, der ihre Einkäufe aus dem Auto geladen oder Blumen geschickt hatte. Waren denn beide Blumensträuße von James gewesen? Wahrscheinlich schon. Vermutlich hatte er zuerst die Rosen vor die Tür gelegt und sich dann erinnert, dass Lilien ihre Lieblingsblumen waren. Schließlich wussten sämtliche Freunde, dass Andy es nie geschafft hatte, ihr die richtigen Blumen zu schenken. Ein Makel, der fast zu einem geflügelten Wort geworden war. Und James hatte beschlossen, sich um sie zu kümmern, und die Blumen waren angeblich ein erster Schritt gewesen. Das bedeutete, dass er hinter all den kleinen guten Taten steckte, die sie Andy zugeschrieben hatte.
»Keine Tränen mehr!«, sagte sie sich energisch. Andy spukte nicht als guter Geist durch ihr Leben. Es war von Anfang an James gewesen. Das musste sie akzeptieren. Alles andere ergab keinen Sinn. Was geschehen war, war geschehen.
Sie presste die Hände flach auf den Fußboden und stand vorsichtig auf.
Es war Zeit, nach vorn zu blicken.