13
Andy
Am letzten Tag seines Lebens wachte Andy auf und sah aus den Augenwinkeln, dass Belle noch schlief. Er drehte sich zur Seite und stieg so leise und schnell wie möglich aus dem Bett. Dann lief er auf Zehenspitzen ins Badezimmer, stand vor dem Spiegel, nahm sich einen Moment Zeit und ließ seinen Gedanken freien Lauf.
Die Zeit war definitiv reif, die Angelegenheit mit Belle zur Sprache zu bringen. An diesem Abend nach der Arbeit war die Gelegenheit. Andy war selten in seinem Leben so aufgeregt gewesen. Selbst an dem Tag, an dem er seiner Belle den Heiratsantrag gemacht hatte, war er zwar nervös gewesen, aber nicht so aufgeregt wie heute.
Außerdem beschwingte ihn das Gefühl, geradezu detektivische Fähigkeiten entwickelt zu haben. Er war selbst überrascht, dass es ihm aufgefallen war. Er wusste genau, wann sie die »letzte« gehabt hatte. Daran war nicht zu rütteln. Mittlerweile waren sieben Wochen vergangen. Und dazwischen war nichts passiert. So viel stand fest. Er hatte seine Theorie alle paar Nächte getestet, um am Ball zu bleiben, und jedes Mal war alles in Ordnung gewesen. Überhaupt hatte es nie besser um sie gestanden.
Sie war schwanger. Definitiv. Und er war sich ziemlich sicher, dass sie sich dessen nicht im Geringsten bewusst war.
Er dachte an jene Nacht vor einigen Wochen, als Belle von einem Junggesellinnenabend restlos breit zurückgekommen war. Sie hatte die Wohnung am frühen Abend verlassen, wie immer großartig ausgesehen und ihm das Versprechen abgenommen, nicht auf sie zu warten. Andy hatte daraufhin zur Abwechslung einen Abend für sich allein genossen, einen Science-Fiction-Film im Fernsehen angesehen, über den Belinda die Nase gerümpft hätte, ein Abendessen beim Take-away-Chinesen bestellt und war gegen elf Uhr nach chinesischer Kost und Fernsehunterhaltung (der Film hatte einige ausgezeichnete – natürlich künstlerische – Nacktaufnahmen geboten) zufrieden ins Bett gegangen.
Eine gefühlte halbe Stunde später war er abrupt aufgeschreckt und hatte einen Blick auf die Uhr auf dem Nachttisch geworfen: Viertel vor vier Uhr morgens. Andy saß aufrecht im Bett, blinzelte in die Dunkelheit, versuchte festzustellen, was ihn so plötzlich geweckt hatte. Dann hörte er laute Geräusche im Wohnzimmer. »Ah, das ist es!«, dachte er und stieg benommen aus dem Bett. Eine betrunkene Freundin, die von einem Junggesellinnenabschied nach Hause kam, war der sicherste Wecker.
Andy ging ins Wohnzimmer und tastete nach dem Lichtschalter. Als das Licht aufflammte, bot sich ihm ein rührender Anblick. Belle lag flach auf dem Bauch auf dem Fußboden und hatte das üppige Grün ihrer großen Topfpflanze, eines Farns, »Vern the Fern«, im Arm, benannt nach der gleichnamigen Filmmusik. Offenbar war sie über Topf und Farn gestolpert und hatte sie mit sich zu Boden gerissen. Der Topf lag umgestürzt auf dem Teppichboden, und Erde rieselte auf den beigefarbenen Flor. Ein Bild des Jammers.
»Oh, Babe! Habe ich dich geweckt?«, fragte Belinda mit schwerer Zunge und musterte Andy mit unschuldigem Erstaunen. Ihr Atem verbreitete den leicht süßlichen Geruch von Frauen-Cocktails. Andy sah lächelnd auf Belle hinab. Auch in diesem Zustand sah sie bezaubernd aus. Seine Begeisterung allerdings bekam einen leichten Dämpfer, als er nur eine halbe Stunde später erneut dadurch geweckt wurde, dass Belle hastig und tapsig über ihn kletterte und halb schwankend, halb stolpernd im Badezimmer verschwand, um sich zu übergeben.
Erst am darauffolgenden Abend kam Andy ein Gedanke. War es nicht kurz nach Einnahme der Pille gewesen, dass sie sich in der vergangenen Nacht übergeben hatte? Er beschloss, sich deshalb keine Sorgen zu machen. Auf eine einzelne nicht geschluckte Pille kam es sicher nicht an. Oder doch?
Jetzt allerdings schienen seine Zweifel berechtigt gewesen zu sein. Würde sie wütend auf ihn sein, weil er seine Befürchtungen verdrängt und ihr verschwiegen hatte? Aber warum sollte sie? Offensichtlich hatte sie sich deshalb ebenfalls keine grauen Haare wachsen lassen. Im Übrigen wollten sie heiraten, würden irgendwann sowieso Kinder bekommen. Weshalb also nicht schon jetzt? Die Vorstellung, jung Vater zu werden, gefiel ihm. Wenn seine Kinder alt genug waren, um Fußball zu spielen, war er noch fit genug, ihnen zu zeigen, was in ihm steckte. Und Angeln! Er würde eines Tages mit den Kindern angeln fahren. Ja, er hoffte inständig, dass Belinda wie er eine große Familie haben wollte. Einen Stall voller Kinder!
Schließlich konnte er sich von den rosaroten Fantasien von einer »Trapp-Familie« losreißen und sich auf die Gegenwart konzentrieren. Die Idee war brillant. Welchem Mann war es schon vergönnt, sein Mädchen auf diese Weise zu überraschen? Andys Plan für den Abend war simpel. Angekommen in der Wohnung wollte er ihr vorschlagen, die Füße hochzulegen und sich zu entspannen, während er das Abendessen zubereitete. Es sollte etwas ganz Besonderes sein – allerdings ohne alkoholische Getränke. Anschließend Magnum Mandel (ihr Lieblingseis) zum Nachtisch. Dann wollte er einen Schwangerschaftstest aus der Tasche ziehen, ihr überreichen, warten, bis sie begriffen hatte, was das bedeutete, und sie wahrscheinlich (und hoffentlich) so aufgeregt wurde wie er. Oh ja, und Blumen! Wie konnte er diesen in komplizierten Situationen unabdingbaren Trick nur vergessen? Er musste noch einen großen Rosenstrauß beschaffen. Das war Romantik pur.
Unter der Dusche dachte er daran zurück, wie er die erstaunliche Wirkung entdeckt hatte, die ein Blumenstrauß auf die Psyche eines Mädchens hatte. Es war in der achten Klasse gewesen. Er hatte am Rand des Pausenhofs darauf gewartet, in ein Fußballspiel eingreifen zu dürfen, das seine Kumpel angefangen hatten. Am Vortag hatte James das Unfassbare getan und ihn vor seiner Highschool-Flamme, Tania Stevens, lächerlich gemacht. Andy hatte sich daraufhin geschworen, die Schule nie wieder zu betreten. Eine Absicht, die bei seiner Mutter auf eisernen Widerstand gestoßen war. Andy hatte sich daher damit abgefunden, Tania die restliche Schulzeit über unter allen Umständen aus dem Weg gehen zu müssen. Und dann passierte es. Er beobachtete das Spiel auf dem Fußballfeld und wartete darauf, jeden Moment eingewechselt zu werden, als ihm jemand auf die Schulter tippte. Er roch ihren Duft, noch bevor er sich umdrehte und sie vor sich sah. Erdbeeren und Zimt! Seine Knie zitterten, und er musste tief Luft holen, bevor er ihr in die Augen sehen konnte. Was würde sie jetzt vor allen seinen Freunden zu ihm sagen?
»Du bist der süßeste Junge der Welt.«
Andy war perplex. War das ironisch gemeint?
Und dann passierte noch etwas. Sie beugte sich zu ihm vor … und gab ihm einen Kuss – einfach so. Der Kuss war in drei Sekunden vorüber, aber er hatte das Gefühl, als habe er ihre Lippen eine halbe Ewigkeit auf seiner Haut gespürt. Dabei flüsterte sie ihm ins Ohr: »Wenn du nur älter wärst! Ich würde bestimmt mit dir ausgehen!« Im nächsten Moment war sie fort, tauchte unter in einer Gruppe kichernder Freundinnen.
Die Jungs flippten aus. Aber das Beste war James’ Reaktion. Er war fassungslos und sichtbar angefressen angesichts der Tatsache, dass sein Bruder ihn gerade bei Tania ausgestochen hatte. Andy hatte seinen ersten Kuss bekommen – und zwar vor James. Später fand er heraus, dass seine Mutter lediglich einen Strauß Rosen für Tania in der Schule abgegeben hatte – zusammen mit einer Karte. Der Sinnspruch darauf wies auf Andy als den Überbringer der Rosen hin. Und allein die Tatsache, dass Tania vor den Augen ihrer Freundinnen Blumen erhalten hatte, schien Wunder zu wirken. Seit jenem Tag hatte sich Andy diese Geheimwaffe nach jedem Streit, bei besonderen Anlässen oder gelegentlich während jener schwierigen Monatstage zunutze gemacht, wenn ein Mädchen dringend Aufmunterung benötigte. Und irgendwie hatte es immer funktioniert.
Andy war geduscht und angezogen, noch bevor Belinda die Augen aufschlug. An diesem Tag begannen ihre Vorlesungen erst am späten Vormittag, und es fand kein Schwimmkurs statt, sodass sie ausschlafen konnte. Andy gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie streckte prompt den Arm nach ihm aus, bekam sein Handgelenk zu fassen und hielt ihn fest.
»Hallo, mein Hengst! Kannst du’s mir nicht wie gestern Nacht besorgen und erst übermorgen wieder zur Arbeit gehen?«
»Haha! Den Hengst mach ich dir jederzeit gern … nur jetzt nicht.«
»Hm, möglich, dass ich dich gehen lasse – aber nur unter einer Bedingung! Dass du die Behandlung heute Abend wiederholst.«
»Versprochen.« Er gab ihr noch einen Kuss und ging mit beschwingtem Schritt aus dem Schlafzimmer.
Den ganzen Tag über konnte er sich kaum auf seine Arbeit konzentrieren. Es war wie ein Ohrwurm: »Wir bekommen ein Baby, wir bekommen ein Baby, wir bekommen ein Baby.« Der Gedanke ließ sich nicht abschütteln. Dabei wusste er, dass er sich nicht zu sehr freuen durfte. Was, wenn er sich getäuscht hatte? Wenn Belle doch nicht schwanger war? An diesem Abend war die Stunde der Wahrheit.
Auf dem Weg in die Mittagspause rannte Andrew zwei Stufen auf einmal nehmend in die Empfangshalle hinunter. Nathan aus der Personalabteilung kam ihm entgegen und rief ihm zu: »He, Andy! Hand ans Geländer, Junge! Oder willst du unbedingt einen Arbeitsunfall provozieren?«
»Du kannst mich mal, Nathan!«
Damit lief Andy ohne einen Blick zurück auf die Straße hinaus. Er wusste, dass Nathan ihn dafür büßen lassen würde. Er würde eine E-Mail über Benimmregeln am Arbeitsplatz erhalten, und Nathan würde sich bei seinem Chef beschweren. So war Nathan. Aber Andy war viel zu gut gelaunt, um sich darüber weiter den Kopf zu zerbrechen. Er bog in die Fressmeile an der Pitt Street ein, als Coombes ihn einholte.
»Suzie hat mir gerade erzählt, was du zu Nathan gesagt hast. Mann, du bist ein Held.«
»Ist mir einfach so rausgerutscht. Trotzdem blöd! Wenn Suzie alles gehört hat, dann weiß es mittlerweile das ganze Büro.« Suzie aus der Verkaufsabteilung war eine notorische Klatschtante.
»War’s trotzdem wert. Nimmst du Kebab?«
»Jo. Ich halt einen Tisch frei.«
Mist. Er hatte normalerweise nichts gegen Coombes’ Gesellschaft einzuwenden, aber diesmal hatte er vorgehabt, gleich nach dem Essen einen Schwangerschaftstest in der Drogerie zu besorgen. Und in Coombes’ Gegenwart konnte und wollte er das nicht erledigen. Er musste versuchen, nach der Arbeit und bevor Belle ihn abholte, in den EzyMart zu kommen.
Der restliche Nachmittag verstrich zwar ohne größere Aufregungen – zog sich aber wie Kaugummi. Sein Chef nahm ihn beiseite und hielt ihm einen kurzen Vortrag darüber, wie er sich Kollegen gegenüber zu verhalten habe, und fügte abschließend hinzu: »Muss ein gutes Gefühl gewesen sein, was? Himmel, der Typ ist manchmal ein echter Wichser.«
Andy war kurz davor, das Büro zu verlassen, als ihm die Idee kam, sich kurz bei Facebook einzuloggen. Dabei stieß er prompt auf eine Nachricht von James.
Hallo, kleiner Bruder – was gibt’s Neues?
Typisch. Andy hatte wochenlang nichts von seinem Bruder gehört – wusste nicht einmal, in welchem Land er sich gerade herumtrieb. Und jetzt wollte er Neuigkeiten hören? Ausgerechnet heute! Andy trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch und dachte über eine Antwort nach. Von Belles potenzieller Schwangerschaft durfte er James nichts erzählen. Falls sein Bruder vor ihr davon erfuhr, hatte er schlechte Karten. Vielleicht konnte er ihm einen versteckten Hinweis geben? James war nicht ganz zu Unrecht sauer gewesen, dass er erst im Nachhinein von Andys Verlobungsplänen erfahren hatte. Daraufhin hatte er vor einigen Monaten James in einer feuchtfröhlichen Nacht versprochen, ihm zuerst Bescheid zu geben, falls eines Tages ein Baby unterwegs war.
Ort des Geschehens war die Bar am Martin Place gewesen. James war zu Andys Verlobungsparty mit dem Flugzeug angereist und hatte Belinda zum ersten Mal getroffen. Anschließend hatte James bei ihnen in der Wohnung auf der Couch übernachtet. Als Andy ihm auf das Sofa geholfen und ihn mit einer Decke (und mit einem Eimer, für alle Fälle) versorgt hatte, hatte James noch gelallt: »Das nächste Mal, wenn du dich verlobst, dann schick mir wenigstens eine Zeile auf Facebook, okay?«
Andy hatte nur den Kopf geschüttelt. »Ein nächstes Mal wird’s nicht geben. Aber wenn wir ein Baby bekommen, bist du der Erste, der’s erfährt!«
»Danke, Kleiner.«
Andy hatte damals nicht geahnt, wie schnell er in Zugzwang kommen würde. Er dachte kurz nach und schrieb dann:
Möglich, dass du früher als erwartet in das mächtige Reich von Oz zurückkehren musst. Mach dich auf mehr Infos gefasst.
Das sollte vorerst genügen. James würde natürlich vermuten, dass der Hochzeitstermin vorgezogen werden würde. Was im Übrigen keine schlechte Idee war. Er hatte noch gar nicht bedacht, welchen Einfluss Belles Schwangerschaft auf die Hochzeitspläne haben könnte. Kam darauf an, ob Belle mit dickem Bauch vor den Altar treten wollte. Jedenfalls mussten sie auch das heute Abend besprechen – sobald er sie mit seinen Kochkünsten in gute Laune versetzt hatte.
Andy warf einen Blick auf die Uhr an seinem Computer. Zehn Minuten vor fünf Uhr. Belle holte ihn meistens um zehn nach fünf ab. Damit blieb ihm gerade noch Zeit, den Schwangerschaftstest und einen Wohlfühl-Blumenstrauß in der Pitt Street zu besorgen. Er beschloss, sie kurz anzurufen, um sich zu vergewissern, dass sie nicht früher auftauchen würde. Wenn er Glück hatte, verspätete sie sich. Auf diese Weise hätte er genug Zeit für seine Erledigungen.
Andy tippte Belles Handynummer ein. Sie ging sofort ran. »Hi, Babe, was gibt’s«, meldete sie sich atemlos.
»Bin schon fast fertig.«
»Okay.« Kein Wort darüber, ob sie früher, später oder pünktlich kommen würde.
»Wollte dir nur schnell Bescheid sagen.« Andy gab sich Mühe, unaufgeregt zu klingen.
»In Ordnung.« Noch immer war nichts Genaues aus ihr herauszubekommen.
»Das war’s eigentlich schon.« Was sollte er sonst noch sagen?
»Okay.«
»Dann sehe ich dich bald?« Es blieb ihm nichts anderes übrig, als das Gespräch zu beenden.
»Yep.«
»Okay … bye!«
»Bye!«
Andy legte auf und packte hastig seine Sachen zusammen. Dann beugte er sich über die Trennwand und sagte Coombes, dass er noch kurz zum EzyMart gehen wolle, bevor Belle ihn abholte, und bat ihn, ihr das auszurichten, falls sie inzwischen eintreffen sollte. Andy verließ so ruhig und so schnell wie möglich das Bürohaus. Er ging die Straße entlang und stand bereits im EzyMart vor dem Regal für »Familienplanung« (das außer Schwangerschaftstests hauptsächlich Kondome enthielt) und suchte nach dem zuverlässigsten Produkt, als es passierte.
Bei der Auswahl schwankte er zwischen den Produkten »Schritt ins Glück« und »Schnelles Resultat«, als ein Teenager mit gesenktem Kopf, die Hand in der Innentasche seines Anoraks, den Laden betrat. Er wirkte unauffällig, bis er plötzlich eine Waffe zückte und zu brüllen begann, alle sollten sich augenblicklich und verdammt noch mal auf den Boden legen und sich nicht vom Fleck rühren. Der Junge konnte kaum älter als fünfzehn oder sechzehn sein. Dann wandte er sich mit wirrem, wütendem Blick dem Kassierer zu und fuchtelte mit der Waffe vor dessen Gesicht herum.
Shit, dieser Grünschnabel ist fähig und bringt jemanden um.
Dann fiel Andys Blick auf die nässenden Wunden am Unterarm des Jungen, an denen dieser mit seiner freien Hand heftig kratzte.
Crystal, schoss es Andy automatisch durch den Kopf. Der Junge muss auf Crystal oder Ice sein. Im ersten Moment stand er wie gelähmt vor Schreck einfach nur da. Bevor er wusste, was er tat, hatte sein Unterbewusstsein schon beschlossen, den Aufforderungen des Junkies Folge zu leisten. Andy lag im nächsten Moment mit heftig klopfendem Herzen auf dem Fußboden.
»Bist du taub oder was? Rüber mit der Kohle, Mann! Den ganzen Shit aus der Kasse!« Der große und schlaksige Kassierer war nur wenig älter als der Junkie und wie gelähmt vor Schreck. Er starrte den Jungen durch seine dicken, dunklen Brillengläser nur wie gebannt an.
Gib ihm das Geld, drängte Andy stumm. Gib ihm einfach die Kohle, damit er verschwindet.
Schließlich kam Bewegung in den Kassierer. Er begann nervös, an der Kasse herumzuhantieren. »Ich muss … muss … die Schlüssel … ff… finden«, stotterte er. »Sonst kann ich die Kasse nicht entriegeln – solange sie nicht in Betrieb ist.« Als seine Hände jedoch unter der Theke nach oben kamen, hatte er keinen Schlüssel in den Händen. Zitternd hielt er eine Pistole auf den Junkie gerichtet.
»H… Hör mal«, stammelte er. »Keine Überfälle mehr, hat mein Boss gesagt. Er h… hat die Nase voll. Also verschwinde einfach, okay?«
Andy zog scharf die Luft ein. Heilige Scheiße! Er war kein Experte für solche Situationen, war jedoch überzeugt, dass es nur immer gefährlicher wurde, je mehr Waffen im Spiel waren. Runter mit deinem Schädel, Ando!
Der zugedröhnte Junge reagierte äußerst ungnädig auf die Aktion des Kassierers. Mit einem Satz sprang er auf die Theke, ging dort in die Hocke und auf Augenhöhe des Kassierers. Ohne ihm die geringste Chance für eine Reaktion zu geben, schlug er ihm blitzschnell die Pistole aus der Hand und packte ihn an der Gurgel, als sich ein Schuss aus der Waffe des Kassierers löste, der reflexhaft abgedrückt haben musste. Der Kassierer zitterte wie Espenlaub. Andys Kopf schnellte hoch. War jemand getroffen? Seitlich von der Theke spritzte eisgekühlte Cola aus einem Loch im Automaten. Andy atmete auf. Hatte der Schuss den Jungen in die Flucht geschlagen?
Irrtum. Der Kassierer hatte ihn nur noch wütender gemacht. »Du hast wirklich nix kapiert, Arschloch! Ich brauche Geld! Und du gibst es mir! Jetzt!«, brüllte er den hilflos schlotternden Kassierer an.
Andy überlegte fieberhaft, wie viele Kunden sich außer ihm im Laden und damit in Gefahr befanden. Dort, wo er auf halber Höhe des Mittelgangs auf dem Boden lag, hatte er einen freien Blick auf die Kassentheke. Um ihn herum jedoch war niemand zu sehen. Wer war im Supermarkt gewesen, als er gekommen war? Wer lag sonst noch in panischer Angst auf dem Fußboden hinter den anderen Regalen?
Wie als Antwort auf seine Frage ertönte ein neues Geräusch, das die Aufregung weiter anheizte. Ein Baby fing an, jämmerlich zu schreien. Dem Klang seiner Stimme nach zu urteilen musste es erst wenige Wochen alt sein. Andys Mut sank, als ihm einfiel, dass er eine blutjunge Frau drüben bei den Gefrierschränken gesehen hatte. Sie hatte ein Baby, eingewickelt in eine blaue Decke, in einer der mittlerweile so modernen Babytragen vor den Bauch geschnallt. Vermutlich hatte es während der ganzen Aktion geschlafen und war erst durch den Schuss geweckt worden. Andy starrte auf den Schwangerschaftstest in seiner Hand. Er hatte die Packung aus dem Regal genommen, um die Gebrauchsanweisung zu lesen, und stellte sich unwillkürlich vor, Belle wäre mit ihrem Baby in der Trage hier. Großer Gott, das arme Mädchen.
An weitere Kunden konnte er sich nur schemenhaft erinnern. Möglicherweise waren da noch zwei jüngere Männer in Businessanzügen. Und vermutlich mindestens eine andere Frau mittleren Alters. Automatisch fielen ihm die zahllosen Actionfilme ein, die er gesehen hatte. In fast all diesen Streifen hatte wenigstens ein Mann versucht, den Helden und Weltenretter zu spielen, und unweigerlich als Leiche geendet und damit alles nur noch verschlimmert. Gewöhnlich war es einer der Securityguards, ein Polizist außer Dienst oder ein Exmarine, der günstiger- und zufälligerweise mitten in das Drama geraten war. Zum Glück war ihm in diesem Supermarkt niemand aufgefallen, auf den eine solche Beschreibung gepasst hätte. Trotzdem schickte er ihnen für alle Fälle im Geiste eine Nachricht. Falls einer von euch auch nur daran denkt, den Helden zu spielen – lasst es um Himmels willen sein!
Während Andy all diese Gedanken durch den Kopf gingen, waren nur Sekunden vergangen. Er konzentrierte sich wieder auf die Situation an der Kasse und beobachtete erleichtert, dass der Kassierer jeden Widerstand aufgegeben und die Kasse geöffnet hatte. Der völlig durchgedrehte Junkie begann gierig, mit der Hand Bargeld aus der Geldschublade zu schaufeln und sich in die Taschen zu stecken. Dabei wurde das Schreien des Babys aus dem übernächsten Gang immer lauter und penetranter. Die junge Mutter hatte offenbar Mühe, das Kind zu beruhigen. Der Junkie an der Kasse hielt kurz inne, schien das Babygeschrei zum ersten Mal bewusst wahrzunehmen. Er hielt sich mit den Händen die Ohren zu, ließ die Waffe dabei gefährlich an einem Zeigefinger baumeln und zischte wütend: »Stopft dem kleinen Scheißer gefälligst das Maul, sonst mach ich das!«
Andy hörte ein Schluchzen und dann offenbar die Stimme der Mutter, die verzweifelt versuchte, ihr Baby zu beruhigen. Andys Herz klopfte zum Zerspringen. Komm schon, Arschloch, nimm das Geld und zieh endlich Leine!
Das vollgedröhnte Bürschchen hockte noch immer auf der Theke. Plötzlich wirbelte der Junge herum, sprang auf und starrte auf das restliche Geld in seiner Hand. »Das reicht nicht«, sagte er zuerst leise. »Es reicht nicht!«, brüllte er unvermittelt aus vollem Hals. Sein Blick schweifte über den Verkaufsraum. Von seiner erhöhten Position aus hatte er einen guten Überblick. »Leert eure Taschen!«, befahl er. »Bargeld, Handys, Uhren – ich will alles haben. Raus damit und auf den Boden.« Andy gehorchte sofort und fischte sämtliche Gegenstände aus den Taschen – Handy, Brieftasche, Uhr – und legte sie neben sich auf den Fußboden. Er hörte, wie alle anderen Kunden offenbar dasselbe taten. Als Nächstes wandte sich der Junkie an den Kassierer. »Also, Freundchen. Du spielst meinen Laufburschen. Sammel das Zeug ein und bring’s her. Und zwar ein BISSCHEN PLÖTZLICH!« Seine Stimme überschlug sich fast. Er schien sich kaum noch in der Gewalt zu haben – klang in der einen Minute so ruhig und vernünftig, wie man das in dieser Situation überhaupt erwarten konnte –, bevor er plötzlich wieder wie ein Wahnsinniger ausrastete.
Der Kassierer hatte mittlerweile offensichtlich jeden Widerstand aufgegeben, kam hinter der Ladentheke hervor und begann, die abgelegten Wertgegenstände der Kunden einzusammeln. Als er zu Andy kam, schien er bemüht, dem Junkie an der Kasse den Rücken zugewandt zu halten, und schob unauffällig Andys Handy wieder zurück und drückte es ihm in die Hand, während er mit der anderen Hand Brieftasche und Uhr aufhob. Auf seiner Stirn glänzten Schweißperlen, die Brille war ihm auf die Nasenspitze gerutscht und saß ganz schief.
»Wählen Sie dreimal die Null«, zischte er ihm zu. »Keine Ahnung, warum mein Alarmknopf nicht funktioniert.« Dann wandte er sich ab und verschwand, ohne eine Antwort abzuwarten, im Nachbargang.
Mist! Wieso musste das ausgerechnet ihm passieren? Warum hatte der Idiot ausgerechnet ihm die Heldenrolle zugedacht? Die Polizei anzurufen war viel zu riskant. Wozu war der Typ an der Ladentheke fähig, wenn er ihn dabei erwischte? Er würde ihn vermutlich, ohne mit der Wimper zu zucken, erschießen. Andys Handflächen unter dem Handy wurden feucht und glitschig. Was sollte er tun?
In diesem Moment wurde ihm die Entscheidung abgenommen. Der Kassierer benötigte offenbar zu lange, um Geld und Wertgegenstände von der jungen Mutter drüben bei den Gefriertruhen einzusammeln. Jedenfalls war der Junkie von der Ladentheke gesprungen und lief auf die beiden zu. »He, Mann! Was zum Teufel habt ihr beiden da zu quatschen? Geheimnisse vor mir? Haltet ihr mich für blöd, oder was? Scher dich weg von der Tussi!«
Andy hörte voller Entsetzen einen dumpfen Aufprall. Der Junkie musste den Kassierer brutal von der jungen Mutter weggestoßen haben. »Was hat er zu dir gesagt! Sag schon!«
»Nichts!«, wimmerte die junge Frau. »Er hat gar nichts gesagt. Ich … ich hatte nur Mühe, meine Ringe von den Fingern zu kriegen. Sie saßen fest.« In diesem Moment begann das Baby, das vermutlich die Angst der Mutter spürte, erneut laut zu schreien.
»Habe ich dir nicht gesagt, dass du deinen BALG RUHIG STELLEN SOLLST!«
Mist, der Junkie dreht durch! Andy konnte es kaum noch ertragen. Er musste wissen, was da hinten vor sich ging, konnte die anderen nur hören, aber das genügte nicht – das Regal versperrte ihm die Sicht. Er stützte sich auf Hände und Knie und kroch lautlos zum Ende des Mittelgangs. Dort angekommen presste er den Rücken flach gegen das Regal und spähte vorsichtig um die Ecke. Jetzt konnte er alles sehen. Sein Magen krampfte sich zusammen. Die junge Mutter hielt ihr Baby beschützend umklammert, während sich der durchgedrehte Junkie über sie beugte und wild mit der Waffe gestikulierte. Der Kassierer lag vor der Gefriertruhe auf dem Boden und hielt sich mit schmerzverzerrter, geschockter Miene die Hüfte.
»Der kleine Bastard soll endlich still sein! Stopf ihm das Maul!«, brüllte der Junkie und schüttelte sich, als bereite ihm Kindergeschrei körperliche Schmerzen.
»Ich versuch’s ja«, schluchzte die junge Mutter. »Psst, ganz ruhig, Liebling. Mami ist ja bei dir«, flüsterte sie mit erstickter Stimme, während ihre Tränen auf den kleinen Kinderkopf tropften.
Ich muss etwas tun, ihm zuvorkommen. Andy starrte auf das Handy in seiner Hand. Mit zitternden Fingern begann er den Zugangscode einzutippen und wählte dann dreimal die Null. Er hatte nie zuvor den Notruf gewählt. Konnte er der Person am anderen Ende die Situation erklären, ohne dass der Junkie merkte, was er tat?
Erneut wurde ihm eine Entscheidung abgenommen. Es schien, als könne der Junkie das Geschrei nicht länger ertragen. Mit einer schnellen Bewegung schlug er der jungen Mutter den Pistolenknauf ins Gesicht, beugte sich über sie und begann wütend an den Riemen der Babytrage zu zerren.
»Ich sorge dafür, dass der Scheißer die Klappe hält. Und zwar für immer«, schimpfte er vor sich hin, während er an den Verschlüssen der Trage hantierte. Der Kassierer wandte entsetzt den Blick ab. Andy steckte das Handy wieder in die Tasche. Es blieb keine Zeit mehr, auf Hilfe zu hoffen. Er musste die Sache selbst in die Hand nehmen, konnte nicht einfach zusehen, wie sich der Junkie an einem Baby vergriff – es möglicherweise sogar tötete.
Andy sprang auf und sprintete in Richtung Gefriertruhe. Dann erlebte er alles Weitere wie in Zeitlupe. Er sah, wie der Junge das Baby aus dem Tragesack zerrte. Sah die Mutter, die nach dem Schlag mit der Pistole mühsam wieder zu sich kam, die Augen aufschlug und entdeckte, dass der durchgedrehte Junge mit der Waffe ihr das Baby wegnehmen wollte. Sah, wie sich der Kassierer einfach abwandte, entschlossen, sich nicht einzumischen. Andy stürzte sich auf den Junkie und riss ihn von den Beinen, bevor er der Mutter das Baby wegnehmen konnte.
Andy hörte den Schuss nicht. Er fühlte nicht einmal die Kugel, die in seinen Magen eindrang. Er merkte lediglich, wie er mit Wucht zurückgeworfen wurde. Und als er den Kopf hob, sah er, wie sich der Junkie aufrappelte, voller Entsetzen auf ihn herabsah, wie sein Blick von Andy zu seiner Waffe und zurück zu Andy wanderte und er mit weit aufgerissenen Augen realisierte, was er getan hatte. Dann flüchtete er. Die Waffe fiel klappernd zu Boden, als er durch die Tür und auf die Straße rannte.
Im nächsten Moment versammelten sich alle um Andy, redeten ihm gut zu, drängten ihn, ruhig liegen zu bleiben. Er fühlte, wie Blut warm aus seinem Magen rann, und einen brennenden Schmerz, den er sich nicht erklären konnte. Sein Blick schweifte unstet über die Gesichter, die sich besorgt über ihn beugten. Er sah in entsetzte, verängstigte Mienen. Warum haben die alle solche Angst? Der Typ ist doch weg, oder? Unterschwellig jedoch ahnte er, weshalb alle in Panik geraten waren. Es musste etwas mit dem Schuss zu tun haben, der sich aus der Waffe gelöst hatte, und mit dem brennenden Schmerz in seinem Magen. Dann kam ihm der eine Gedanke: Ich brauche meine Mutter.
Er hielt noch immer das Handy in seiner Tasche umklammert, zog es heraus, drückte auf die Direktwahltaste mit der Büronummer seiner Mutter, hielt es an sein Ohr und wartete. Der Rufton ertönte mehrfach, bis sie abnahm und sich förmlich meldete.
»Guten Tag. Sie sprechen mit Evelyn McGavin.«
»Hallo, Mum.« Er war kurzatmig, brachte die Worte kaum heraus.
Inzwischen kniete einer der beiden Männer im Businessanzug neben ihm, zog sein Jackett aus und presste es auf Andys Unterleib. Idiot! Du machst dein Jackett schmutzig.
»Was gibt’s, mein Lieber?«, antwortete seine Mutter am anderen Ende kurz angebunden.
Andy hatte schon fast vergessen, dass er sie überhaupt angerufen hatte. Oh, ja richtig. Ich wollte ja meine Mum sprechen.
»Kannst du bitte herkommen? Ich brauche dich. Ja, ich brauche dich. Jetzt sofort.« Er sprach in einem merkwürdigen Singsang und rang immer wieder nach Luft. Warum fällt mir das Atmen so schwer?
»Wo bist du?«, fragte sie, Panik in der Stimme.
Beruhig dich, Mum. Alles easy. Ich brauch dich. Das ist alles. »Hm, bin hier. Und ich muss dir was sagen, Mum. Ist so wichtig. Komm einfach her. Ja, ich brauche dich, brauche dich, brauche dich jetzt.« Moment mal. Was genau wollte er ihr eigentlich sagen? Er wusste, da war was, konnte sich nur nicht mehr genau erinnern.
Um ihn herum waren alle mit ihm beschäftigt. Jemand versuchte, ihm das Handy aus der Hand zu nehmen, aber er hielt es eisern fest. »Sollen wir ihn bewegen?« Oh, bitte nicht! Liege hier ganz bequem. Aber trotzdem danke. Aufgeregte Rufe. Lärm und Unruhe störten ihn. Sieht denn keiner, dass ich telefoniere?
»Andrew! Sag mir jetzt, wo du bist! Konzentrier dich! Sag mir ganz genau, wo ich dich finden kann!«
»Ich bin hier, Mum. Brauche dich, brauche dich jetzt. Brauch dich, brauch dich«, sang er unmelodiös. Dann hörte er den Piepton seines Handys. Seine Mutter war nicht mehr in der Leitung. Er nahm das Handy vom Ohr und sah, dass er versehentlich die »Aus«-Taste gedrückt und das Gespräch beendet hatte. Ups. Tut mir leid, Mum.
Sekunden später vibrierte das Handy in seiner Hand. Er versuchte ranzugehen, aber irgendwie geriet er wieder auf die »Aus«-Taste. Hm, warum gehorchen mir meine Finger nicht mehr? In diesem Moment merkte er, dass er in der anderen geschlossenen Faust einen Gegenstand hielt. Er hob die Hand, um erkennen zu können, was es war. Vor seinen Augen begann alles zu verschwimmen. Es gelang ihm, den Gegenstand zu fixieren, und er erkannte den Schwangerschaftstest, den er aus dem Regal genommen hatte. Belinda! Sie weiß nicht mal, dass sie schwanger ist. Andy beschlich das merkwürdige Gefühl, keine Gelegenheit mehr zu haben, es ihr zu sagen. Seine Lippen gehorchten ihm nicht mehr. Sein Mund schien voller Kieselsteine zu sein.
Die junge Mutter beugte sich über ihn. Ihr langes, glänzendes blondes Haar war zu einem Pferdeschwanz hochgebunden, der ihr jetzt über eine Schulter fiel. Eine Haarsträhne klebte an ihrer schweißnassen Stirn. Ihre Wangen waren gerötet, und ein blutiger Striemen, in den sich Wimperntusche mischte, führte von einer hässlichen Platzwunde über der Wange zu ihrer linken Braue. Sie rief ihm dicht über seinem Gesicht etwas zu, doch er konnte sie nicht hören, sah nur, wie sich ihre Lippen bewegten. Ich kann nicht von den Lippen ablesen, sagte er ihr. Sie müssen schon lauter reden. Dann merkte er, dass er gar nichts gesagt, es nur gedacht hatte.
Er sah die mit Tränen gefüllten Augen der jungen Mutter und versuchte ihren Ausdruck zu deuten. Angst? Nein. Panik? Auch nicht. Das war es nicht.
Tod.
Er sah den Tod in ihren Augen. Oh, nein! Sie stirbt? Aber sie ist so hübsch, so schön. So eine zauberhafte junge Frau! Nein, auch das war falsch.
Er sah nicht ihren Tod. Es war eine Spiegelung. Sein Spiegelbild. Sein Tod.
Richtig.
Das ist es also. Der letzte Vorhang für den guten alten Ando. Tut mir leid, Leute, keine Zugabe heute.
Eine weitere Stimme drang in sein Unterbewusstsein. Eine ruhige, vernünftige Stimme. Eigentlich eine ätzende, irritierende Stimme.
»Ja, Andy. Das ist wirklich das Ende.«
Ach, tatsächlich? Und wer zum Teufel bist du, der das behauptet?
Er fühlte, wie sie ihn überkamen, die Emotionen: Angst, Verzweiflung und ein überwältigendes Gefühl der Trauer. »Tut mir leid, Andy, aber du hast nicht mehr lange. Das ist das Ende. Das sind deine letzten Augenblicke. Zeit, Adieu zu sagen.« Die Stimme wurde deutlicher, kräftiger, und er merkte, dass es seine Stimme war, die er hörte und die ihn bis zum Ende begleitete.
Ich schaffe es nicht. Ich werde wirklich sterben.
Er musste seine Stimme wiederfinden, Belle Adieu sagen. Musste ihr sagen, dass er sie liebte. Ihr sagen, dass er wisse, dass sie schwanger sei und dass für sie alles gut werde. Dass sie es auch allein schaffen könne.
Er hob das Handy auf Augenhöhe, sodass er die Nummer eintippen konnte. Dann wurde klar, dass er nicht würde sprechen können. Eine warme, dicke Flüssigkeit rann aus seinem Mundwinkel und über die Wange. Er brachte kein Wort mehr heraus.
SMS. Ich muss ihr eine Textmitteilung schicken.
Schön und gut, aber wie konnte er in wenigen Worten ausdrücken, was er ihr sagen musste? Und was, wenn er sich irrte? Was, wenn sie nicht mal schwanger war? Was, wenn seine letzten Worte an Belle nicht der Wahrheit entsprachen? Was er sicher wusste, war nur, dass ihre Periode lange überfällig war.
Er drückte auf die Taste für Kurznachrichten, gab Belles Nummer ein und schrieb eine Blitz-SMS. Und plötzlich hatte er einen Augenblick von großer Klarheit. Er wusste, es war endgültig vorbei. Das war das Ende. Er hatte nur noch Sekunden, keine Zeit, alles zu erklären – kaum die Zeit, drei Worte einzugeben.
Du bist überfällig.
Dann wurde es dunkel um ihn.
Er glaubte, seine Mutter über ihn gebeugt und lächeln zu sehen, Tränen in ihren Augen. Aber vielleicht bildete er sich das nur ein.
Dann entglitt ihm die Welt, er verlor den Halt, und dann ertönte eine neue Stimme. Eine warme, herzliche Stimme, begleitet von sonorem Lachen, das aus dem Bauch zu kommen schien. Es war das Lachen reinster Freude. Gab ihm das Gefühl, dass jemand so beglückt war, ihn zu sehen, dass er vor Glück nur lachen konnte.
Er sah die Sonne auf dem Wasser glitzern und hörte das Zischen einer Angelschnur, die durch die Luft sauste. Er fühlte eine starke, vertraute Hand auf seiner Schulter.
»Hallo, mein Sohn!«