10
Evelyn
»Okay. Was hat mein lieber Sohn denn jetzt schon wieder angestellt?«
Evelyn hatte auf der Taxifahrt zum Polizeirevier auf weit geöffneten Fenstern bestanden. Die warme nächtliche Brise, Vorbotin des Frühsommers, hatte ihr Gesicht angenehm massiert, und durch die frische Luft hatte sich der Alkoholnebel etwas gelichtet. Als das Taxi vor dem Revier anhielt, fühlte sich Evelyn einigermaßen ernüchtert. Bei den jungen Leuten von SkyChallenge die Berufsjugendliche zu spielen war nicht schwer. Aber den Sohn aus einer Ausnüchterungszelle zu holen stellte weitaus höhere Anforderungen an sie.
Violet erwartete sie bereits auf den Stufen vor dem Eingang des Reviers, die Arme vor der Brust verschränkt, mit einem Fuß rhythmisch auf das Pflaster klopfend. »Du klingst schon wieder wie die Alte, Ev. Gehen wir rein und lassen uns überraschen. James hat am Telefon leicht wirr gewirkt. Hat irgendwas von Hunters Hill High gefaselt – war das nicht die alte Schule von James und Andy? Außerdem hat er was von ›Gerechtigkeit für Andy‹ gesagt.«
Violet warf Evelyn einen prüfenden Seitenblick zu, als sie Andys Namen erwähnte, so als sei sie sich der Wirkung auf die Schwester nicht sicher. Aber Evelyn blieb gelassen. Sie schüttelte nur den Kopf und seufzte. »Mein Gott – das muss jetzt ein Ende haben. Seit Andrew … seit er gestorben ist, macht James praktisch eine Dummheit nach der anderen – und alles angeblich zu Ehren seines Bruders. Allmählich verliere ich das Verständnis für diese Art der Liebesbezeugung.«
Die Schwestern stiegen den breiten Treppenaufgang hinauf und betraten das Polizeirevier, wo sie von einer stoisch wirkenden Polizeibeamtin empfangen wurden. »Kommen Sie beide wegen des Einbruchs in der Schule?«, erkundigte sie sich lapidar.
»Er ist in die Schule eingebrochen?«, fragte Evelyn giftig.
»Viel haben wir nicht aus ihm rausbekommen. Jedenfalls nichts, was einen Sinn ergeben würde. Ist daher besser, Sie reden mit ihm. Die Angelegenheit ist keine Bagatelle. Es sind Fensterscheiben und die Tür zu einem Klassenzimmer zu Bruch gegangen. Sie sind die Mutter, nehme ich an?« Die Beamtin musterte Evelyn flüchtig und gelangweilt. Evelyn nickte. »Und Sie sind vermutlich die Tante? Sie hat er wohl angerufen, um dem Donnerwetter seiner Mutter zu entgehen.« Der Blick der Polizistin wanderte zu Violet. Sie grinste süffisant, als Violet ihren Blick schuldbewusst erwiderte. »Tja, dann schlage ich vor, dass eine von Ihnen hier den Papierkram erledigt, während sich die andere den jungen Herrn zur Brust nimmt.« Sie starrte mit undurchsichtiger Miene auf ihren Computermonitor und hielt dabei mit einer Hand die entsprechenden Formulare hoch. Offenbar interessierte es sie wenig, wer was übernahm, solange sie nur die Formulare loswurde.
»Möchtest du, dass ich …?«, begann Violet und deutete in Richtung des Zellenblocks auf der Gebäuderückseite.
»Kommt nicht infrage.« Evelyn schnappte sich die Formulare und drückte sie Violet in die Hand. »Wo geht’s lang?«
Damit schien das Interesse der Polizeibeamtin an den beiden Damen mittleren Alters und ihren familiären Verstrickungen und Problemen erschöpft. Sie deutete lapidar zur Rückseite des Gebäudes. »Gehen Sie nach hinten. Constable Tandy führt Sie zu ihm.«
An der Rückseite des Reviers wurde Evelyn von einem jungen Polizisten in Empfang genommen. »Hier entlang, Madam«, begrüßte er sie, schloss eine Zellentür auf und ließ ihr den Vortritt. Seine Miene drückte eine Mischung aus Mitgefühl und Verlegenheit aus. Evelyn fragte sich kurz, inwiefern er seine Haltung nach einigen Dienstjahren ändern und sich wie die Stoikerin am Empfang verhalten würde.
Evelyn ging auf die Pritsche in der Zellenecke zu und setzte sich neben James. Welche Taktik sollte sie jetzt einschlagen? Violets Anruf aus heiterem Himmel und die Angst, James könne etwas zugestoßen sein, hatten sie milde gestimmt. Etwas milde.
»Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?« Es war schlicht zu bequem, in ihr übliches Erziehungsmuster zu verfallen.
»Ist doch egal. Können wir die Sache einfach vergessen, Mum?«
Evelyn hätte sich beinahe verschluckt. »Vergessen?« Sie hätte den Jungen am liebsten erwürgt. »Es ist drei Uhr früh auf einem Polizeirevier, und ich sitze neben dir in einer Gefängniszelle. Und du verlangst, dass ich die Angelegenheit einfach vergessen soll?«
»Du verstehst das nicht.«
James wirkte auf Evelyn weniger wirr, als Violet und die Polizistin ihn beschrieben hatten. Offenbar war in der letzten Stunde oder vielmehr seit dem Telefonat mit der Tante – ähnlich wie bei Evelyn – auch bei James eine gewisse Ernüchterung eingetreten.
Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen, und bemühte sich um ein gewisses Maß an Gelassenheit in der Stimme: »Kommt auf den Versuch an, James. Warum erklärst du es mir nicht? Im Augenblick jedenfalls begreife ich tatsächlich gar nichts.«
»Wie du meinst. Ein paar Freunde und ich haben beschlossen, unserer alten Highschool einen Besuch abzustatten. Wegen Andy.«
Jetzt nur nicht ausfallend werden! Wie auch immer, bloß nicht explodieren – noch nicht.
»Und aus welchem unerfindlichen Grund sollte es Andys Wunsch gewesen sein, dass ihr in seiner alten Highschool Randale macht?«
»Wir haben nicht randaliert – das war nicht der Grund, weshalb wir dort gewesen sind«, entgegnete James bockig.
Evelyns Stimme wurde leicht schrill. »Ihr habt Fenster und Türen eingeschlagen. Als was, verdammte Scheiße noch mal, bezeichnet ihr das sonst?«
Die Fäkalsprache der Mutter schien James einigermaßen zu überraschen. »Schalt mal einen Gang runter, Mum. Wusste doch gleich, dass du das nicht kapierst.«
»Ich soll einen Gang runterschalten? Herrgott, was ist los mit dir? Was kapiere ich nicht? Was wolltest du denn heute Nacht beweisen? War’s eine Wette mit deinen Freunden, die offensichtlich nicht wie du hier im Knast sitzen?«
»Brüder verpfeift man nicht. Sie konnten entkommen – im Gegensatz zu mir. Und ich hau sie nicht in die Pfanne, nur weil die Bullen mich geschnappt haben.«
»Das sind nicht deine ›Brüder‹, mein Sohn. Der einzige Bruder, den du hattest, war Andy. Und der ist tot. Wenn du jetzt nicht endlich Tacheles redest, kann mich nur noch die Polizei davon abhalten, dir den Hals umzudrehen.«
»Also gut. Überredet. Ich versuch mal, mich verständlich zu machen. Erinnerst du dich noch an das Fußball-Endspiel beim Schulturnier damals? Zwölfte Klasse, gegen das Barker College? Andy war der Held des Spiels, hat drei von vier Toren für uns geschossen. In den letzten fünf Minuten der Partie, als es vier zu drei für uns stand, musste Jack verletzt ausscheiden. Andy, der Stürmer war, ist für ihn ins Tor gegangen. Dann, in den letzten 30 Sekunden, hat er einen Elfmeter gehalten und uns vor einem Unentschieden gerettet. Den Elfer hatte ich verschuldet. Hatte einen von den Barkers im Strafraum gefoult. Wir haben gewonnen. Ich habe die Rote Karte gekriegt, und Andy wurde zum besten Spieler des Turniers gewählt. Erinnerst du dich?«
»Ja, sehr gut sogar.« Evelyn verdrängte die Frage, was das alles mit den nächtlichen Aktivitäten in der Schule zu tun habe, und machte ihm ein Zeichen fortzufahren.
»Am darauffolgenden Tag sollte Andys Name in die ›Hunters Hill High All-Stars‹-Liste auf der Gedenktafel eingraviert werden, die in der Sporthalle hängt. Aber Andy war zu diesem Zeitpunkt für vier Tage vom Unterricht suspendiert worden. Weil er die Schule geschwänzt hatte und beim Rauchen erwischt worden war. Der Direktor wollte damals ein Exempel statuieren. Deshalb hat Direktor Blackford entschieden, Andy den ›All-Star-Status‹ abzuerkennen. Sein Name landete also nie auf der Gedenktafel.«
»Richtig. Daran erinnere ich mich – sehr gut sogar. Ich war wütend auf Andrew. Wegen der Suspendierung hätte er fast die ersten Prüfungen für den Highschool-Abschluss verpasst.«
»Stimmt. Aber jetzt erzähle ich dir, wie es wirklich gewesen ist. Das war gar nicht Andy, der geschwänzt und geraucht hatte. Ich war der Übeltäter.«
»Blödsinn! Das ergibt keinen Sinn. Erstens hat Andrew mir gestanden, dass er es gewesen ist … dass er zum ersten Mal eine Zigarette probiert hat. Ich hatte keinen Grund, an seiner Aufrichtigkeit zu zweifeln. Nur … wenn er’s wirklich nicht gewesen ist, wo soll er gewesen sein, als du geschwänzt und Zigaretten geraucht hast?«
»In der Bibliothek. Er hat gebüffelt. Als er gehört hat, dass ich erwischt worden bin, hat er sich die Haare zerzaust, die Schuluniform zerknittert, ist zu Direktor Blackford gegangen und hat so getan, als sei er James McGavin. Blackford blieb nichts anderes übrig, als Andy zu bestrafen. Andy hat seine Rolle sehr überzeugend gespielt. War schon immer schwierig, uns beide auseinanderzuhalten.«
»Aber warum hat Andrew das für dich getan? So besonders gut habt ihr beiden euch in den letzten Schuljahren doch gar nicht verstanden? Wenn ich mich recht erinnere, habt ihr euch dauernd geprügelt.«
»Ich weiß. Aber Andy hat sofort messerscharf geschlossen, dass ich mit meinem Strafregister sofort von der Schule geflogen wäre. Hinterher gab’s kein Zurück mehr. Blackford hätte Andy sowieso suspendiert. Schließlich hatte er ihn angelogen. Und dann wären wir beide geflogen. Außerdem war ich damals ein ziemliches Arschloch. Wusste es nicht mal zu schätzen, was er für mich getan hat.« James betrachtete seine Füße und schämte sich plötzlich. »Mum, ich habe mich nie bei ihm dafür bedankt – habe einfach so getan, als sei mir das alles egal.«
Allmählich ging Evelyn ein Licht auf. »Ihr seid heute Nacht in die Schule eingestiegen, um die Sache mit der Gedenktafel richtigzustellen. Ihr wolltet Andys Namen eingravieren.«
James sah sie an. »Mum, ich war ein Idiot. Das weiß ich. Kein Wunder, dass du stinksauer auf mich bist. Aber du hast Andys Gesicht nicht gesehen, als rauskam, dass sein Name nie auf dieser dämlichen Tafel stehen würde. Keine Ahnung, warum ihm das so viel bedeutet hat. Es war ihm so wichtig. Und aus irgendeinem Grund sehe ich dauernd sein enttäuschtes Gesicht vor mir. Dieser Ausdruck von verletztem Stolz – es hat ihn einfach umgehauen. Andy hat nicht im Traum damit gerechnet, dass sie ihm das vermiesen würden. Er hat gar nicht realisiert, in welche Lage er sich gebracht hat, als er sich für mich geopfert hat. Und deshalb musste ich was unternehmen. Ich musste dieses Gesicht aus meinem System kriegen. Es hat mich fast umgebracht. Ich wollte diese Sache unbedingt hinbiegen.«
Evelyn brauchte einige Sekunden, bis sie merkte, dass sie ihren Sohn James seit seinem fünften Lebensjahr nicht mehr hatte weinen sehen. Beim Begräbnis seines Vaters hatte er keine Träne vergossen. Er hatte sich seltsam benommen, aber er hatte nicht geweint. Bei der Beerdigung seines Bruders hatte er bleich und schlecht ausgesehen – sich später betrunken. Aber hier, in einer Arrestzelle in Hunters Hill, schluchzte er herzzerreißend. Sie legte einen Arm um ihn und zog ihn an sich, damit er seinen Gefühlen freien Lauf lassen konnte.
»Ich vermisse ihn, Mum. Ich vermisse ihn so sehr. Und ich versuche alles zu tun – den ganzen Blödsinn –, nur weil ich glauben möchte, ich könnte damit was wiedergutmachen. Es ist das Einzige, was mich aufrecht hält, mir vielleicht hilft, drüber wegzukommen – aber bisher hat es nichts genützt. Jede Nacht vor dem Einschlafen sehe ich sein Gesicht vor mir und fühle mich schuldig.«
Evelyn wiegte ihn in ihren Armen und fühlte, wie ihr zum zweiten Mal an diesem Tag Tränen über die Wangen liefen.
»Du hast Glück«, flüsterte Evelyn. »Das Gesicht, das ich sehe, ist noch viel, viel … schlimmer.« Und wieder tauchten Andys verängstigtes, bleiches Gesicht, die starren Augen und der leblose Körper auf dem nackten Fußboden des Supermarkts vor ihr auf, und sie umarmte James noch fester. Aber James hörte sie nicht mehr. Ihre Worte gingen in seinem Schluchzen unter. Und unter den entsetzten Blicken des Polizisten namens Tandy weinten sie gemeinsam.
Als James sich beruhigt hatte, marschierte Evelyn zurück in den Bereitschaftsraum und zu der toughen Polizeibeamtin hinter der Empfangstheke. Sie beschloss, dass jetzt nur noch absolute Aufrichtigkeit helfen konnte, und erzählte die ganze Geschichte – beginnend mit dem Fußball-Endspiel der 12. Klasse. Sie schreckte auch vor einer drastischen Schilderung von Andys Tod im Supermarkt nicht zurück und schloss mit der Erklärung dessen, was James in der Nacht in der alten Highschool vorgehabt hatte. Gegen Ende der Story waren sowohl Evelyn wie auch Violet und die Polizistin in Tränen aufgelöst.
»Angenommen, ich bezahle den Schaden und bezeuge, dass mein Sohn James heute Nacht traumatisiert durch den Tod seines Zwillingsbruders ausgerastet ist, kann ich ihn dann mit nach Hause nehmen?«, erkundigte sich Evelyn sachlich, nachdem sie die beiden anderen Frauen mit Tüchern aus ihrer Handtasche versorgt hatte.
Der Streifenpolizist Tandy beobachtete voller Verwunderung, wie seine Vorgesetzte die Formulare nahm, die Violet in der vergangenen halben Stunde ausgefüllt hatte, und sie demonstrativ zerriss. Gefühlsregungen dieser Art hatte er bei seiner erfahrenen Kollegin bislang noch nicht beobachten können.
Am darauffolgenden Tag scheuchte Evelyn ihren Sohn früh und gut gelaunt aus dem Bett. »Zieh dich an. Ich warte im Wagen. Du hast fünf Minuten.«
Evelyn und James fuhren wortlos zur Highschool und gingen geradewegs ins Zimmer des Direktors.
»Mr Blackford. Sicher erinnern Sie sich an meinen Sohn James?«, begann Evelyn förmlich.
»Ist mir unvergessen«, entgegnete der Direktor in seiner üblichen aalglatten Art und lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück.
»Er hat Ihnen einiges zu sagen.«
»Ach ja?« Mr Blackford wartete mit amüsiertem Gesichtsausdruck darauf, dass James das Wort ergriff.
James starrte auf seine Schuhspitzen. »Ich war es, der gestern Nacht die Fensterscheiben der Schule eingeschlagen hat«, begann er.
»Nein, nicht das! Das interessiert jetzt nicht.« Evelyn machte eine ärgerliche, wegwerfende Handbewegung in Richtung ihres Sohnes. »Erzähl ihm, was damals in der zwölften Klasse passiert ist. Was Andrew für dich getan hat.«
Mr Blackfords Blick wanderte zwischen Mutter und Sohn hin und her. Offenbar begann er, dem unangemeldeten Besuch in seinem Büro jetzt etwas mehr Gewicht beizumessen. »Moment mal – Sie sind für den Vandalismus von gestern Nacht verantwortlich?« Er verstummte entgeistert, als Evelyn dazwischenfuhr.
»Ja, ja. Aber was er Ihnen mitzuteilen hat, ist viel wichtiger.«
James musste unwillkürlich grinsen. Seine Mutter war nicht zu bremsen. »Mr Blackford … damals vor dem Highschool-Examen ist es nicht Andy gewesen, der den Unterricht geschwänzt und geraucht hat. In Wirklichkeit war ich der Übeltäter. Andy hat nur die Schuld auf sich genommen und musste die Sache dann ausbaden.«
»Für wen halten Sie mich, McGavin? Das ist mir von vornherein klar gewesen. Ich bin kein Idiot. Mich interessiert allerdings viel mehr, was gestern Nacht passiert ist. Die Polizei ist der Meinung, unser Einbrecher habe in psychischer Notlage unter Alkoholeinfluss gehandelt, und mich gedrängt, von einer Anzeige abzusehen. Jetzt muss ich feststellen, dass Sie dahinterstecken. Könnte mir mal jemand erklären, weshalb Sie für die Geschichte nicht zur Verantwortung gezogen werden sollen?«
»Mr Blackford, die Polizei hat eingesehen, dass es sich hier um einen jungen Mann in einer psychischen Ausnahmesituation handelt. Das ist unbestritten. Außerdem komme ich für den Schaden auf. Könnten wir die Sache also auf sich beruhen lassen? Der Grund für unseren Besuch ist weitaus wichtiger. Andrew hätte nie bestraft werden dürfen. Daher möchten wir, dass sein Name so schnell wie möglich auf die ›All-Stars‹-Liste gesetzt wird.« Evelyn zog erwartungsvoll die Augenbrauen hoch.
Mr Blackford wuchtete sich aus seinem Schreibtischsessel. »Sie glauben, Sie können hier reinplatzen, nach allem, was Ihr Sohn vergangene Nacht angestellt hat, und dann auch noch Forderungen stellen?«
»Oh, nein, Mr Blackford. Dass ich hier ein bisschen Überzeugungsarbeit leisten muss, war mir schon klar. Aber es dürfte nicht schwierig sein, Sie zu überzeugen. Einfach ausgedrückt: Entweder Sie setzen Andrews Namen schleunigst auf diese Gedenktafel, oder ich rufe Ihre Frau an und erzähle ihr von einem gewissen Gespräch, das wir beide vor ein paar Jahren geführt haben.«
Der Schuldirektor zuckte nervös zusammen. »Das wagen Sie nicht. Sie haben keinen Beweis, dass es je stattgefunden hat«, schnarrte er und zupfte erregt an seiner Krawatte.
»Habe ich nicht? An dem Tag, an dem Sie mich angerufen haben, habe ich in dem Moment den Hörer abgenommen, als sich das Band des Anrufbeantworters eingeschaltet hat. So ist das gesamte Gespräch aufgezeichnet worden. Ich habe es nie gelöscht. Hatte irgendwie das Gefühl, dass es mir eines Tages noch mal von Nutzen sein würde. Nur das ›Wann‹ konnte ich nicht ahnen. Also tun Sie sich keinen Zwang an. Stellen Sie mich auf die Probe.« Evelyn musterte den Direktor, während sie auf seine Reaktion wartete.
»Machen Sie sich nicht lächerlich, Mrs McGavin. Das kaufe ich Ihnen nicht ab. Die Aufzeichnung haben Sie unmöglich aufbewahrt.«
»Sind Sie da so sicher? Möchten Sie’s riskieren? Abgesehen davon dürfte ein Anruf bei Ihrer Frau in jedem Fall einige für Sie sehr unangenehme Fragen aufwerfen.«
»Wollen Sie mich allen Ernstes erpressen?«
»Wer redet denn von ›erpressen‹? Aber wir könnten uns gegenseitig helfen, würde ich sagen. Also, abgemacht?«
»Okay, okay. Wie Sie meinen. Ich lasse seinen Namen noch heute Nachmittag auf die Tafel setzen.« Blackford sackte ernüchtert und geschlagen auf seinen Stuhl zurück.
»Ausgezeichnet. Ich schicke Ihnen einen Scheck über den Schaden, den James angerichtet hat.« Evelyn wandte sich zum Gehen. An der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Oh, eines noch, Marty! Auf der Tafel sollte der Name Andy McGavin stehen. Damit wir uns richtig verstehen, ja?«
»Marty?«, zischte James, als sie den Flur zwischen den Klassenzimmern entlangeilten. Evelyn schenkte ihrem Sohn nur ein geheimnisvolles Lächeln. »Mum, ich habe keine Ahnung, worum es da drinnen eigentlich ging. Und ich will es auch nicht wissen. Aber ich möchte dich doch daran erinnern, dass wir überhaupt keinen Anrufbeantworter haben und auch nie einen gehabt haben.«
»Weiß ich. War alles nur Bluff.«
»Du bist unglaublich, Mum! War selten so beeindruckt.«
Auf dem Weg zum Auto fühlte sich Evelyn leicht wie eine Feder.
Später an diesem Nachmittag, als Evelyn das Haus verließ, um ihre Schwester zu treffen, blieb ein ungewöhnlich nachdenklicher James auf der Wohnzimmercouch zurück. Die Schwestern trafen sich wie gewohnt vor Percy’s Coffeeshop, doch als Violet in das Café hineingehen wollte, hielt Evelyn sie am Arm zurück. »Komm, versuchen wir heute zur Abwechslung mal Muffin Break«, schlug sie so beiläufig wie möglich vor.
Violet ließ sich nicht täuschen. »Ah, ich verstehe. Meine diebische Schwester hat Hemmungen, an den Ort des Verbrechens zurückzukehren, was?«, neckte sie, als sie durch das Einkaufszentrum und zu Muffin Break gingen.
»Halt die Klappe, Vi!«
Sie bestellten sich Kaffee und fanden einen Tisch abseits der umlagerten Verkaufstheken.
»Bei dir zu Hause war heute vermutlich Kampf angesagt, stimmt’s? Wenn du möchtest, dass ich mal mit James rede – ich bin bereit«, begann Violet mit der Andeutung von Selbstgefälligkeit in der Stimme und tätschelte Evelyns Hand.
»Wie kommst du darauf, dass James und ich gestritten haben? Wir sind ein Herz und eine Seele. Er hat mich heute Abend als ›Dankeschön‹ sogar zum Essen eingeladen«, erwiderte Evelyn von oben herab.
Violet starrte sie verwirrt an. »Als Dankeschön? Wofür will er … Moment! Unsere Bestellung wird gerade ausgerufen. Vergiss bitte nicht, was du sagen wolltest.« Sie sprang auf, eilte zur Theke und schob Evelyn Minuten später ihren Becher Latte macchiato über den Tisch. »Also, was war bei euch los? Kein Krach mit James? Du weißt schon, keine ›Was zum Teufel hast du dir bloß dabei gedacht?‹-Tirade, gefolgt von ›Lass mich gefälligst in Ruhe, Mum‹ und so weiter?«
»Kein wie auch immer gearteter Krach. Im Gegenteil. Wir haben Nägel mit Köpfen gemacht, James’ Plan ausgeführt und Direktor Blackford überredet, Andrews Namen auf die Gedenktafel zu setzen – wo er schließlich hingehört.«
»Hm, wie habt ihr das denn angestellt? Mit der Brechstange?« Violet sah Evelyn erwartungsvoll an.
»Haha! Diesmal hat James’ Plan durchaus einen Sinn gehabt. Auch wenn seine Methode falsch war, seine Absicht war aller Ehren wert. Er hatte nur nicht erkannt, dass ein ›Bitteschön‹ gelegentlich Wunder bewirkt.«
»Blödsinn! Das kaufe ich dir nicht ab. Ich kenne Marty … Mit einem ›Bitteschön‹ bringst du den nicht dazu, Andys Namen auf die Gedenktafel zu setzen. Also raus mit der Sprache! Wie habt ihr das angestellt?«
»Wie du meinst. Du erinnerst dich vielleicht, dass Marty und ich dieses … ›Techtelmechtel‹ hatten … damals, als wir beide noch nicht verheiratet waren?«
»Und wie ich mich erinnere. Wie könnte ich das je vergessen?« Violet schüttelte sich demonstrativ. »Zum Glück lief das nur ein paar Wochen.«
»Richtig«, fuhr Evelyn fort und ignorierte Violets kindische Reaktion. »Als Andrew in der Zwölften vorübergehend vom Unterricht ausgeschlossen worden war, hat Marty mich angerufen. Er hat vorgeschlagen, Andrew mit einer geringfügigen Strafe davonkommen zu lassen, wenn ich zu einem Rendezvous mit ihm bereit wäre.«
»Ich fasse es nicht! Dieser Wichser!« Violet schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte, dass der Kaffee beinahe aus den Tassen schwappte.
»Ich weiß, ich weiß. Jedenfalls hatte er mein Verlangen, Andrew aus der Klemme zu helfen, überschätzt. Ich war nämlich der Meinung, wer die Regeln verletzt, muss auch bestraft werden. Auch wenn es sich um meinen Sohn handelt. Ich habe Marty also eine Abfuhr erteilt, ihm gesagt, dass seine Frau von seinem Vorschlag wohl kaum begeistert wäre, und aufgelegt. Heute ergab sich die günstige Gelegenheit, diese Angelegenheit zur Sprache zu bringen. Die freundliche Androhung, seine Frau anzurufen, hat genügt, und er ist eingegangen wie eine Primel«, schloss Evelyn stolz.
»Wie eine Primel?«
»Ist nur eine Redensart. War den Versuch wert.«
»Ev, ich bin beeindruckt.«
»Du bist schon die zweite Person, von der ich das heute höre.« Evelyn dachte versonnen lächelnd an James’ bewundernden Gesichtsausdruck.
»Du bist voller Überraschungen … in letzter Zeit.«
»Soll heißen?«
»Bin nicht sicher, ob du das wirklich hören willst. Gestern Nacht bist du endlich aus deinem Schneckenhaus gekrochen. Du hast vorher nie über den Tag gesprochen, an dem Andy gestorben ist. Und James und du, ihr habt gemeinsam um ihn geweint. Auf dem Polizeirevier. Das war gut so. Das ist Teil der Trauerarbeit.«
Evelyn schwieg, und Violet befürchtete schon, zu weit gegangen zu sein. Doch dann blickte Evelyn von ihrer Kaffeetasse auf und lächelte die Schwester an. »Ich bin wieder für Überraschungen gut, meinst du? Und dabei weißt du noch gar nichts von meinem neuesten Hobby.«
Das Abendessen hatte so vielversprechend begonnen. Evelyn und James waren dabei, sich zu versöhnen. Bei der Vorspeise kultiviert mit einem Plausch über James’ Reisen. Während des Hauptgangs folgten Erinnerungen an Andy und beim Nachtisch sogar eine Diskussion über die Möglichkeit, dass sich James in Sydney niederlassen, einen Job und eine Wohnung suchen könnte. James schien des Nomadenlebens überdrüssig zu sein. Dann allerdings brachte James einen Namen ins Gespräch, von dem Evelyn absolut nichts wissen wollte.
Belinda.
»Mum, ich finde, es ist Zeit, dass wir uns bei ihr melden, uns erkundigen, wie es ihr geht, sie wissen lassen, dass wir an sie denken.« Er stocherte nervös mit der Gabel in seinem Käsekuchen.
Evelyn klappte augenblicklich das Visier herunter. »Ich denke gar nicht daran, das zu tun«, erklärte sie knapp und eisig.
»Sie war immerhin seine Verlobte. Und du hast sie auf der Beerdigung ganz schön vor den Kopf gestoßen.« Als Evelyn den Mund aufmachte, um zu antworten, fuhr er hastig fort: »Ich weiß. Es war auch verständlich. Du bist vor Trauer und Schmerz außer dir gewesen und hast es nicht so gemeint.«
»Im Gegenteil, James. Ich habe jedes Wort genau so gemeint. Ich hasse dieses Flittchen. Ich gebe ihr und allein ihr die Schuld an Andys Tod«, erklärte Evelyn mit unbewegter Miene.
James starrte sie entsetzt an. »Wie meinst du das? Das ergibt keinen Sinn. Wie kann sie daran schuld sein? Mum, überleg doch mal! Das ist völliger Unsinn. Sie sollte deine Schwiegertochter werden, und sie hat Andy verdammt viel bedeutet. Wir sind es ihm schuldig, sie fair zu behandeln.«
»Quatsch. Wir haben gegenüber dieser dämlichen Kuh keinerlei Verpflichtungen.«
»Sie ist keine ›dämliche Kuh‹. Sie ist ein tolles Mädchen. Und sie ist ganz sicher verdammt unglücklich.«
»Mach dich nicht lächerlich! Vermutlich hat sie schon ihr nächstes Opfer im Visier. Ich will nichts mit ihr zu tun haben. Und ich verbiete dir, dich auch nur in ihre Nähe zu wagen!«
James warf wütend seine Gabel auf den Tisch und sprang auf. »Machst du Witze? Was bildest du dir ein? Du kannst mich nicht davon abhalten, jemanden zu treffen, den ich treffen will. Du hast dich kein bisschen geändert, Mum. Du bist stur und unbelehrbar wie eh und je.« Damit leerte er sein Glas mit einem Schluck, stürmte aus dem Restaurant und ließ Evelyn mit versteinerter Miene zurück.
»Von wegen Einladung zum Abendessen«, murmelte sie, als sich der Kellner schüchtern mit der Rechnung näherte.
In den darauffolgenden Wochen gelang es Evelyn und James, sich erfolgreich aus dem Weg zu gehen. Eine reife Leistung, wenn man bedachte, dass sie in ein und demselben Haus lebten. James schien sich einen Job in einem Surfshop besorgt zu haben – zumindest vermutete Evelyn das, denn sie sprachen kein Wort miteinander. Bevor Evelyn überhaupt merkte, dass es Dezember geworden war, stand bereits das Weihnachtsfest vor der Tür, und sie begann sich zu fragen, wie es wohl das erste Mal ohne Andy werden würde.
Wie sich herausstellte, verlief es gelinde gesagt ungewöhnlich und nicht gerade konfliktfrei. Violet hatte angeboten, das Weihnachtsfest in ihrem Haus auszurichten. Ihre Kinder waren in Evelyns Gegenwart nervös, hatten ständig Angst, zu laut zu lachen oder zu vergnügt zu sein. James war schlecht gelaunt und trank zu viel, während Violets Ehemann, Mark, ununterbrochen beruflich telefonierte oder E-Mails auf dem BlackBerry abrief. Mark war ein Workaholic. Aber obwohl Evelyn das wusste, störte es sie, dass er sich nicht einmal am Weihnachtstag familienfreundlicher verhielt.
Letztendlich schützte Evelyn eine Migräne vor, verabschiedete sich früh und kehrte in ihr leeres Haus zurück. Dort saß sie bei einbrechender Dunkelheit mit angezogenen Knien stundenlang in der Mitte ihres riesigen Bettes, horchte angestrengt in die Stille und verstand selbst nicht, wie sie sich in diese einsame Lage manövriert hatte. Ein Sohn tot, die Kommunikation zum anderen abgebrochen. Und kein Carl, der ihr sagte, wie sie das alles ins Reine bringen konnte. Sie hätte viel darum gegeben, wieder aus 4000 Metern Höhe in rasantem Flug zur Erde zu gleiten, den Kopf freizubekommen. Die Erinnerung an jenen ersten Solosprung war wie eine Droge. Allerdings war sie seit der Nacht, in der sie James aus der Zelle geholt hatte, nicht wieder bei SkyChallenge gewesen. Das Unternehmen hatte über die Weihnachtsferien geschlossen. Sie musste daher versuchen, auch ohne das euphorisierende Sprungerlebnis oder Bazzas feinfühligen Rat zurechtzukommen.
Schließlich kroch sie unter die Decke und schloss die Augen.
Wenn sie Glück hatte, würde sie in dieser Nacht vielleicht von Carl träumen.