7

Belinda

»Nach allem, was Sie erzählt haben, klingt es, als hätten Sie den Anfang einer schwerwiegenden Schwangerschaftsverdrängung erlebt. Nur gut, dass Sie noch rechtzeitig zu mir gekommen sind.«

Die Frauenärztin lächelte Belinda aufmunternd zu und tätschelte ihre Hand. »Legen Sie sich doch bitte dort auf die Liege. Wollen mal sehen, ob alles in Ordnung ist. Okay?« Die Ärztin sprach mit einem leichten indischen Akzent, der ihrer Stimme einen freundlichen, sanften Klang verlieh.

In den vergangenen fünfundvierzig Minuten hatte Belinda der Ärztin erklärt, weshalb sie so spät zur ersten Untersuchung gekommen war. Stacey hatte an ihrer Seite gesessen und so hilfreiche Kommentare eingeflochten wie: »Das letzte Mal, als wir Wein und Käse am Abend hatten, habe ich ihr den Camembert weggenommen. Ich wusste, dass sie schwanger ist. Und Rohmilchkäse ist für Schwangere gefährlich, stimmt’s? Allerdings hätte ich sie vermutlich eher davon abhalten sollen, Wein zu trinken …«

Als Belinda auf die Liege kletterte, stellte sie die Frage, die sie in den letzten Tagen – seit sie schließlich die Tatsache ihrer Schwangerschaft akzeptierte – beschäftigt hatte. »Wie konnte das eigentlich passieren? Ich habe die Pille nur ein Mal ausgelassen – oder besser gesagt ausgespuckt, als ich mich übergeben musste. Ist die Methode mit der Pille wirklich so unzuverlässig?«

»Das hängt ehrlich gesagt von der Situation ab, meine Liebe. Ich habe Patientinnen, die wurden schwanger, weil sie nur eine einzige Pille zu einer anderen Tageszeit als üblich genommen hatten. Andere dagegen konnten ihre Dosis so unregelmäßig nehmen, wie sie wollten, ohne je schwanger zu werden.« Sie hielt inne, als erwarte sie eine Reaktion. Als diese ausblieb, fuhr sie fort: »Tatsache ist, dass Sie einfach Glück hatten … nehme ich mal an«, fügte sie lässig hinzu.

Belinda fröstelte, als das kühle Gel auf ihren Bauch gestrichen wurde, und wandte den Blick ab, als Dr. Vashna etwas in ihren Computer tippte. Während sie warteten, dass das Bild auf dem Monitor erschien, fiel Belinda etwas ein, das sie bisher nicht bedacht hatte. Sie griff nach dem Handgelenk der Ärztin, als diese gerade das Ultraschallgerät auf ihren Bauch setzen wollte.

»Warten Sie! Der Vater war ein Zwilling. Was, wenn ich Zwillinge bekomme? Oh, mein Gott! Himmel, ich kann unmöglich zwei Babys kriegen!« Sie begann beinahe zu hyperventilieren, doch Dr. Vashna lachte nur laut auf.

»Vertrauen Sie mir! Ich weiß Bescheid. Dafür werde ich schließlich bezahlt. Dass der Vater Zwilling war, bedeutet nicht, dass er auch zwangsläufig Zwillinge zeugt. Also keine Sorge! Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie Zwillinge bekommen, ist genauso gering wie bei mir. Und jetzt lassen Sie bitte meine Hand los, Kindchen.«

Belinda ließ los, entspannte sich und wartete verlegen. Die Ärztin setzte den Schallkopf auf ihren Bauch, begann, diesen mit leichtem Druck hin und her zu bewegen. Ein grießiges Bild erschien auf dem Monitor. Belinda starrte darauf, versuchte etwas zu erkennen, als Dr. Vashna abrupt mit dem Schallknopf in der Hand innehielt.

»Oh!«

»Was ist? Stimmt was nicht?« Belindas Herz klopfte schneller. Da ist was nicht in Ordnung. Ich habe das vermasselt, weil ich es einfach nicht wahrhaben wollte.

»Eigentlich alles in Ordnung. Es ist nur … sehr verwunderlich.«

»Wie meinen Sie das?«

»Nun ja, Belinda … Gibt es auf Ihrer Seite, also in Ihrer Familie, auch Zwillinge?«

Nach ihrem ersten Besuch bei der Frauenärztin begann Belinda, mehr und mehr Zeit im Fitnesscenter zu verbringen. Man hatte ihr versichert, dass sportliche Betätigung noch erlaubt sei, sie jedoch davor gewarnt, es zu übertreiben oder sich zu überanstrengen. Dr. Vashna wollte sie auch an einen Psychologen überweisen, damit sie mit diesem ihre anfängliche Schwangerschaftsverdrängung aufarbeiten konnte. Doch Belinda versicherte der Ärztin, dass sie sich mittlerweile mit ihrem Zustand und sogar mit dem ersten Schock, tatsächlich Zwillinge zu erwarten, abgefunden habe. Zwillinge!

Eines Abends, spät, nach einem langen Uni-Tag, schleppte sie sich müde und gereizt ins Fitnesscenter. Eigentlich hätte sie ein Nickerchen auf ihrer Couch vorgezogen. Aber es war die letzte Woche vor den Examensklausuren, und sie hatte das Gefühl, der Kopf müsse ihr von all den Wiederholungen und Fakten platzen. Im letzten Seminar des Tages hatte Jules neben ihr gesessen und von ihrem iPhone eine Nachricht auf Belindas Facebook-Seite geschickt.

Großer Gott, danach brauchen wir dringend einen Drink!

Cocktails in der Uni-Bar?

Belinda hatte irritiert die Stirn gerunzelt. Offenbar hatte Jules Probleme damit, ihre Schwangerschaft und das, was sie für ihr gesellschaftliches Leben bedeutete, zu akzeptieren.

Im Fitnessstudio versuchte Belinda, die Gedanken an Jules und all die anderen zu verdrängen, die jetzt genüsslich ihre Cocktails schlürften. Sie stieg auf das Laufband, stellte das Programm ein und begann in gemächlichem Anfangstempo. Währenddessen wiederholte sie im Stillen gebetsmühlenhaft: 27. April, 27. April, 27. April. Das war das Datum, an dem sich ihr Leben radikal verändern sollte. Das Geburtsdatum ihrer Zwillingsbabys. Sie war in der fünfzehnten Schwangerschaftswoche, und ihr Bauch wies bereits eine kleine – na gut, eine deutlich sichtbare – Rundung auf. Das Bäuchlein dem reichlichen nächtlichen Eiscremegenuss zuzuschreiben funktioniert nicht mehr, dachte sie mit einem Anflug von Sarkasmus. Das Wissen darum, dass sie bereits schwanger gewesen war, als Andy noch gelebt hatte, ließ die Erinnerungen an die letzten gemeinsamen Wochen in einem anderen Licht erscheinen. Immer wieder musste sie daran denken, dass zwei winzige, unbekannte Wesen schon damals Teil ihres gemeinsamen Lebens gewesen waren.

Als sie die Schrittfrequenz leicht erhöhte, dachte sie wieder einmal an sich und Andy in ihrer gewohnten alltäglichen Routine beim Fernsehen, beim Ausgehen mit Freunden, beim Fußballspiel, bei Andys verrückten Turnieren – und unbändige Wut erfasste sie. Wut auf sich selbst: Jetzt, da sie von ihrer Schwangerschaft wusste, kam es ihr geradezu absurd vor, dass sie es nicht viel früher gemerkt hatte – noch bevor Andy aus ihrem Leben verschwunden war. Es war nicht fair, dass er gestorben war, ohne zu wissen, was ihm entgehen würde. Es war einfach nicht fair.

Dann kam die Wut auf Andy, und sie erhöhte erneut das Tempo. Warum hatte er das geschehen lassen? Er hätte vorsichtiger sein, härter um sein Leben kämpfen müssen. Was, wenn er es gewusst hätte? Wenn sie nur ein bisschen schlauer gewesen wäre, es früher gemerkt, ihm die Neuigkeit erzählt hätte – hätte ihm das den Grund gegeben, den er brauchte? Die nötige Kraft, um irgendwie am Leben zu bleiben?

Sie fiel in einen leichten, schnellen Laufschritt, bewegte die Beine im Rhythmus der Tanzmusik, die durch das Fitnessstudio hallte.

Du hast mich geschwängert.

Mit ZWILLINGEN.

Und jetzt bist du tot.

Und weißt nichts davon.

Und ich konnte mich nicht mal von dir verabschieden.

Sie hatte das Gefühl, vor Verzweiflung durchzudrehen, alles vor ihren Augen verschwamm, und sie schüttelte den Kopf, um wieder Klarheit in ihre Gedanken zu bringen. Sie lief schneller, immer schneller und erlaubte sich schließlich, daran zu denken, weshalb sie so wütend auf ihn war. Sie begann sich an den Tag zu erinnern, an dem Andy gestorben war.

Es war am frühen Abend gewesen, und sie hatte sich auf dem Weg zu seiner Arbeitsstelle, wo sie ihn abholen sollte, verspätet. Bis zu dem Augenblick, da sie in der Nähe seines Bürokomplexes geparkt hatte, war ihre Erinnerung klar und deutlich. Erst das, was danach geschehen war, nahm sie nur ungenau wahr. Als Erstes kam Andys Kollege Michael Coombes aus dem Vordereingang gerannt und rief ihr zu: »Es muss was passiert sein! Am Ende der Straße! Im Lebensmittelladen – Andy ist dort!« Und Belinda rannte, so schnell sie konnte, hinter Coombes zum Ende des Blocks. Auf der Straße vor dem Laden hatte sich eine Menschentraube gebildet. Streifenwagen der Polizei, ein Krankenwagen – blinkende Warnlichter und heulende Sirenen. Niemand schien zu wissen, was im Laden passiert war.

Plötzlich kam Andys Mutter auf sie zu. Groß und kompetent, in ihrem tadellosen Business-Hosenanzug. Die Absätze ihrer Pumps klickten rhythmisch über den Asphalt. Sie hatte ihre Sonnenbrille über die Stirn in ihr kurzes rötliches Haar zurückgeschoben. Belinda hatte keine Ahnung, wo sie so plötzlich herkam, weshalb sie überhaupt vor Ort war. Evelyn drückte kurz Belindas Arm und versicherte ihr: »Keine Angst, Herzchen, ich finde raus, was los ist. Es wird alles gut.« Das erste – und letzte – freundliche Wort, das Evelyn je an Belinda gerichtet hatte. Dann marschierte sie geradewegs an den protestierenden Polizeibeamten vorbei in den Laden. Belinda blieb draußen und wartete, beobachtete Coombes’ ängstliche Miene. Sie war nervös, aber nicht unbedingt besorgt. Die Situation war vollkommen unwirklich. Sie hatte das Gefühl, in eine Folge der Serie Navy CIS geraten zu sein. Mit ihr selbst hatte das alles jedenfalls nichts zu tun. Nicht mit ihrem Leben. Andy konnte unmöglich etwas zugestoßen sein.

Konnte es nicht?

Und dann ging ein Raunen durch die Menge. Da drinnen hat’s einen erwischt. Er ist tot.

Okay, gut – aber doch nicht Andy, oder?

Irgendwann in all dem Chaos bekam sie eine SMS. Ihr Handy begann zu vibrieren. Sie zog es aus der Tasche und hielt es in der Hand. Sie wollte die Nachricht lesen, sobald sie wusste, dass wirklich alles in Ordnung war. Natürlich konnte es nicht anders sein – sie brauchte nur diese Gewissheit. Mehr nicht.

Aber dann tauchte Evelyn in der Ladentür auf. Ihr Gesicht würde Belinda nie vergessen. Und da wusste sie Bescheid. Sie hörte, wie Coombes neben ihr scharf die Luft einsog, fühlte seinen Griff hart an ihrem Arm. Und in diesem Moment warf sie aus unerfindlichen Gründen einen Blick auf ihr Handy und sah die Nachricht. Sie war von Andy. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Sie drückte mit zitternden Fingern auf die Tasten, um die Mitteilung zu öffnen.

Auf dem Display leuchteten drei Worte auf. Seine letzten Worte an sie. Nur drei Worte. Und die Erinnerung an diese Worte brannte seither wie eine offene Wunde in ihr.

Du bist überfällig.

Weil sie an jenem Tag zu spät gekommen war, um ihn von der Arbeit abzuholen. Das bedeutete, er gab ihr die Schuld, denn wäre sie rechtzeitig eingetroffen, wäre alles anders gekommen. Und das bedeutete, dass sie an seinem Tod schuld war.

Und er hatte recht.

Belinda merkte gar nicht, dass sie stürzte. Aber dann registrierte sie mit einem Mal, dass das Laufband seitlich an ihr vorbeilief und Decke und Fußboden des Fitnessstudios sich wie im Karussell um sie drehten. Nur wenige Augenblicke später lag sie mit schmerzendem Steißbein auf dem kratzigen Teppichbelag des Trainingsraums flach auf dem Rücken. In Panik schloss sie die Augen, betete stumm, alles möge sich als ein schrecklicher Alptraum erweisen. Doch es war kein Traum. Offenbar war sie danach kurz ohnmächtig geworden, denn als Nächstes wachte sie auf der Couch im Mitarbeiterraum auf, einen Eisbeutel auf der Stirn und das Gesicht einer jungen Frau über sich, die hörbar Kaugummi kaute.

Belinda richtete sich langsam auf, glitt verlegen die Couch entlang und aus dem Blickfeld der neugierigen jungen Frau.

»Wie geht’s dem Schädel, Liebes?« Sie hatte einen unüberhörbar vulgären Akzent, der durch das schmatzende Kaugummikauen noch verstärkt wurde.

»Prima, danke. Kann ich gehen?«

»Klar doch! Spricht nix dagegen. Brauche nur Ihr Autogramm auf dem Unfallbericht, dann sin’ wa quitt. Keine Vorbelastung durch ’ne Krankheit, von der wir hätten wissen müssen, was, Liebes?« Ihr Blick schweifte flüchtig zu Belindas Bauch. Sie wartete mit hochgezogenen Augenbrauen.

Belinda biss sich nervös auf die Backeninnenseite. Eine Schwangerschaft galt hier offenbar als meldepflichtige Vorbelastung. Sie wollte einfach nur nach Hause.

»Nicht dass ich wüsste«, sagte sie so beiläufig wie möglich.

»Dann könnse wohl gehen.« Die junge Frau hielt kurz inne und sagte dann, was sie sich offenbar nicht verkneifen konnte: »Beachtlicher Looping vom Band, den Sie da hingelegt ham. Irgend ’ne Ahnung, wie Se das geschafft ham?« Ihre Stimme klang beinahe amüsiert.

Belinda weinte den ganzen Weg vom Fitnessstudio bis nach Hause.

Sie war gerade mit wackeligen Knien aus dem Aufzug gestiegen, als sie vor ihrer Wohnungstür einen Gegenstand auf dem Flurboden entdeckte. Beim Näherkommen erkannte sie einen Strauß leuchtend roter Rosen in Zellophanhülle, eine weiße Seidenschleife darum. Auf der beiliegenden Karte stand:

Dachte, du brauchst mal einen Stimmungsaufheller.

Belinda hob die Blumen auf, klemmte sie sich unter den Arm, während sie die Tür aufschloss, und ging in ihre Wohnung. Nachdem sie ihre Schuhe ausgezogen und die Sporttasche abgestellt hatte, rief sie zuerst Jules und dann Stacey an, um festzustellen, wer von den beiden ihr die Rosen geschickt hatte.

»Oh là là«, sagte Jules. »Da hat wohl jemand einen geheimen Verehrer!«

»Wann, bitte, sollte ich Zeit haben, dir Blumen vorbeizubringen!«, entgegnete Stacey gereizt.

Belinda schwieg. Sie wusste, dass ihr nächster Satz Stacey auf die Palme bringen würde. »Was, wenn es Andy gewesen ist?«

»Aber sonst geht’s dir gut, Belinda? Vielleicht erinnerst du dich daran, dass Andy nicht mehr unter uns weilt, ja?«

Doch Belinda spann den Gedanken weiter. »Was du nicht sagst! Aber was, wenn sein Geist hier herumspukt? Ich finde die Blumen vor der Tür, als ich gerade aus dem Fitnessstudio komme. Hatte einen blöden Unfall dort. Ich war völlig am Ende. Und da liegen die Blumen und sagen: ›Wir sind als Stimmungsaufheller gedacht.‹ Kein Mensch weiß, was mir gerade im Fitnessstudio passiert ist. Und Andy hat mir immer Blumen geschenkt, wenn ich Aufheiterung nötig hatte.«

»Andy hat dir immer dann Blumen geschenkt, wenn ihr euch gestritten habt«, verbesserte Stacey die Freundin. »Aber selbst sein Geist hat noch gepatzt und dir Rosen statt deine Lieblingsblumen Lilien gebracht, oder?« Das klang triumphierend, und Stacey fügte hinzu: »Was genau ist eigentlich im Fitnessstudio passiert?«

»Nicht so wichtig.« Hastiger Themenwechsel. »Also, Miss Marple. Wer hat mir deiner Meinung nach die Blumen vor die Tür gelegt?«

»Auf der Karte stand vermutlich weder dein Name noch eine Adresse?«

»Stimmt.«

»Dann ist es eine Verwechslung«, behauptete Stacey kategorisch.

»Was? Die Blumen sollen gar nicht für mich sein? Na prima. Ich fühle mich gleich viel besser.«

»Wer dumm fragt, kriegt eine dumme Antwort.«

Belinda bereitete sich ein spätes Abendessen zu und beäugte immer wieder skeptisch den herrlichen Rosenstrauß. Sie wusste selbst nicht, warum sie so schnell zu dem Schluss gekommen war, hinter dem Blumengeschenk könne auf die eine oder andere Weise nur Andy stecken. Was hast du dir nur dabei gedacht? Dass er ihn von einem himmlischen Floristen auf Wolke sieben geordert hat?, maßregelte sie sich sarkastisch. Danach ging die Fantasie mit ihr durch. Sie stellte sich einen geistergleichen Andy vor, der einen wattigen, gewundenen Weg entlangschwebte und auf ein helles Licht zusteuerte, bis eine mollige durchsichtige Frau unvermittelt aus dem Nebel auftauchte. »Blumen für die Hinterbliebenen! Verabschiede dich nie ins Jenseits, ohne dich vorher bei den lieben Hinterbliebenen erkenntlich zu zeigen. Wie wär’s mit ’nem Strauß Marjeriten für die Witwe, Herzchen?« (Aus irgendeinem Grund musste die Frau unbedingt im Jargon der Eliza aus »My Fair Lady« sprechen.)

Belinda schnaubte verächtlich. Sie hatte zwar von der sogenannten »Schwangerschaftsdemenz« gehört, aber das kam ihr reichlich absurd vor. »Ich weiß, ich weiß. Ich dreh durch«, sagte Belinda zu dem kleinen Hund, als sie den Müllbeutel aus der Küche nahm, um ihn nach draußen zu tragen. Sie öffnete die Wohnungstür und wollte gerade über die Schwelle treten, als ihr Blick auf einen weißen Fleck fiel. Vor ihrer Tür lag ein neuer Blumenstrauß. Lilien! Unwillkürlich ließ sie den Müllbeutel fallen, knallte die Wohnungstür zu, ohne den Strauß auch nur zu berührt zu haben, griff nach dem Telefon und drückte die Wiederwahltaste.

»Stacey, kannst du rüberkommen … und zwar schnell?«

Zwanzig Minuten später betrat Stacey Belindas Wohnung, die Lilien in der Hand, die vor der Tür gelegen hatten.

»Sind immerhin sehr schöne Blumen«, erklärte sie trocken.

»Ich finde sie unheimlich.«

Stacey legte den Handrücken gegen Belindas Stirn, als wolle sie Fieber messen. »Delirium tremens«, diagnostizierte sie. »Belinda, du guckst doch gar nicht Supernatural – obwohl die Jungs in der Serie verdammt heiß sind. Also erzähl mir nicht, dass du plötzlich an den Blödsinn glaubst.«

»Du hast gesagt, dass er nicht mal aus dem Jenseits die passenden Blumen schicken konnte.« Das Bild der himmlischen Floristin tauchte wieder vor ihrem geistigen Auge auf, und sie sah unwillkürlich Andy in deren Laden verschwinden: »’tschuldigung, können Sie mir Lilien besorgen – habe offenbar einen Fehler gemacht – wie immer.«

Stacey arrangierte die Lilien in einer Vase und stellte sie neben die Rosen. »Da ist ebenfalls eine Nachricht dabei«, erklärte sie und zog die Karte von der Verpackung.

»Was steht drauf?«

Stacey hielt sie hoch, damit Belinda das einzelne Wort lesen konnte, das auffällig quer über der Karte prangte: »Sorry!«

»Na bitte! Die Blumen sind von Andy. Er hat uns am Telefon belauscht und entschuldigt sich für seinen Fehler.« Belinda hob den Blick zur Decke, als erwarte sie, Andy dort auftauchen zu sehen. »He, wenn du mich hören kannst, dann wäre ich dankbar, wenn du mir mit den vermaledeiten Zwillingen zur Hand gehen könntest, die du mir hinterlassen hast«, rief sie mit leicht verzweifeltem Unterton in der Stimme.

Stacey nahm Belindas Hände und zog sie sanft zur Couch. »Was hast du getrunken?«, fragte sie mit ernster Stimme. »Und wie wär’s, wenn du mir endlich erzählst, was heute Abend im Fitnessstudio passiert ist.«

Zögerlich berichtete Belinda, wie sie vom Laufband gefallen und irritiert und beschämt im Belegschaftsraum wieder zu sich gekommen war. Sie erwartete, von Stacey ausgelacht zu werden, doch die Freundin blieb ungewöhnlich ernst.

»Du bist schwanger. So einen Sturz kannst du nicht auf die leichte Schulter nehmen. Du musst zum Arzt.«

Belinda wurde ärgerlich. »Ich kenne mich und meinen Körper. Es geht mir gut. Und das gilt auch für alle ›Wesen‹, die von mir ›abhängig‹ sind.«

»Wesen? Interessante Wortwahl. Belinda, ich finde deine Distanziertheit gegenüber deinen ungeborenen Babys ungewöhnlich. Ist vermutlich auch der Grund, weshalb du dich nach dem Sturz nicht hast durchchecken lassen. Sie kümmern dich wohl nicht sonderlich.«

Typisch Stacey! Nur nicht hinterm Berg halten.

»Wie kommst du darauf? Ich fasse es nicht! Natürlich kümmern sie mich. Ich weiß einfach, dass alles in Ordnung ist.«

»Hat dir das dein spukender Verlobter eingeflüstert? Hat er vielleicht übernatürliche Kräfte?«

»Also für solchen Blödsinn bin ich nicht in Stimmung. Vielleicht solltest du jetzt gehen, Stacey. Ich möchte einfach nur noch ins Bett.«

»Du bist wirklich witzig. Zuerst scheuchst du mich her, damit ich dir bei deinen Problemen helfe, und dann wirfst du mich einfach hochkant raus. Ich bin nicht Andrew, Belinda. Du kannst nicht Streit mit mir anfangen und erwarten, dass ich darauf eingehe, nur weil du deine Schuldgefühle an jemandem auslassen musst. So leicht lasse ich mich nicht provozieren, meine Liebe. Zieh dir Schuhe an. Ich fahre dich in die Ambulanz.«

»Stacey, ich bin schon im Schlafanzug!«

Und so landete Belinda erneut im Wartezimmer der 24-Stunden-Notfallpraxis. Sie war zwar nicht so spärlich und schlecht gekleidet wie beim letzten Mal, zog jedoch in ihrem Schlafanzug einige erstaunte Blicke auf sich.

»Heartford. Belinda Heartford?«, murmelte die Frau am Empfang und hämmerte auf ihre Computertastatur ein. Plötzlich hielt sie inne und sah auf. »Oh, natürlich! Belinda Heartford. Sie sind doch neulich mit diesem Welpen hier aufgekreuzt … ausgerechnet!« Belindas Blick fiel auf das Namensschild an ihrer Bluse: »Rita.«

Na großartig. Das war die Frau, die ihr vor ein paar Wochen am Telefon die Leviten gelesen hatte.

Rita musterte sie von oben bis unten, beugte sich vor und zischte vertraulich: »Bei einem Therapeuten sind Sie immer noch nicht gewesen, was?«

Stacey ersparte Belinda die Antwort, indem sie die Freundin mit dem Ellbogen beiseiteschob. »Sie muss unbedingt zu einem Arzt. So schnell wie möglich. Bitte! Sie erwartet Zwillinge, hat heute dummerweise auf dem Laufband trainiert und ist runtergefallen.«

Rita schnappte nach Luft. »Du meine Güte, Zwillinge! Und dann auch noch ein Sturz! Das ist nicht gut. Überhaupt nicht gut. Allerdings können wir hier vermutlich nicht viel für sie tun. Sie muss zu ihrem Gynäkologen.«

»Diese Entscheidung wollen wir doch lieber einem Arzt überlassen, ja?« Staceys kompromisslose Unverblümtheit machte auch vor Fremden nicht Halt.

An Rita allerdings schien das abzuprallen. Sie nickte nur zustimmend. »Natürlich. Unsere Ärzte hier sind top.« Sie wandte sich an Belinda. »Vielleicht nimmt sich Dr. Brookes für Sie Zeit. Was meinen Sie? Dann können Sie sich gleich bei ihm dafür bedanken, dass er sich so rührend um Ihren Hund gekümmert hat.«

Belinda machte den Mund auf und wollte schon sagen, dass es ihr egal sei, wer sie untersuche, vorausgesetzt, sie müsse nicht länger in ihrem Schlafanzug hier herumstehen. Doch Stacey hatte ihr die Entscheidung bereits abgenommen, schob sie weiter und drängte sie, sich auf einen Stuhl zu setzen.

Rita hielt Wort. Doktor Brookes war ausgesprochen nett, konnte ihr allerdings in der Notfallpraxis nicht wirklich weiterhelfen. Er kontrollierte den Blutdruck, tastete ihren Bauch ab und versuchte die Herztöne der Babys mit einem Fetoskop abzuhören (das er privat von zu Hause mitgebracht hatte, da er sich für Geburtshilfe interessierte, obwohl es nicht sein Fachgebiet war). Allerdings war er nicht in der Lage zu beurteilen, ob er mit dem Fetoskop zwei unterschiedliche Herzschläge oder dasselbe Herz doppelt hörte. Er schlug vor, dass sie einen außerplanmäßigen Termin mit ihrer Frauenärztin vereinbaren sollte, damit diese sich vergewissern konnte, dass mit den Babys alles in Ordnung war.

»Jetzt zu dem Welpen, den Sie mir hinterlassen hatten …«, begann er und sah Belinda an.

Stacey fiel ihm ins Wort: »Ja, ja. Wir wissen alle, wie dumm es war, hier mit einem Hund aufzukreuzen. Ich habe ihr deshalb bereits die Leviten gelesen. Also sparen Sie sich die Predigt.«

Belinda vermied es, den Arzt anzusehen, als Stacey sie zur Tür hinausbugsierte. Aber dieses Mal war sie der Freundin für ihre energische Art dankbar.

Zurück in der Wohnung, als sie Stacey endlich los war, überlegte sie, dass es an der Zeit war, zur Abwechslung ihre Familie zu besuchen. Immerhin hatte sie wichtige Neuigkeiten, die sie ihren Angehörigen nicht länger vorenthalten konnte. In den ersten Wochen nach Andys Tod hatte sie fast jeden zweiten Tag mit ihrer Mutter telefoniert. Meistens war es nur ein kurzes Gespräch gewesen, das nach vorhersehbarem Muster verlaufen war:

»Und wie fühlst du dich?«

»Etwas besser. Danke, Mum.«

»Und was macht das Studium?«

»Alles gut.«

»Und der Job?«

»Bestens. Macht immer noch Spaß. Was ist mit der Farm?«

»Es gibt sie noch.«

Dabei umschifften beide sorgfältig die wichtigeren Themen, vermieden es, Andys Namen zu erwähnen. Bei anderer Gelegenheit verließ Barbara die ausgetretenen Pfade dieser Telefonate (absichtlich oder unabsichtlich). Dann weinte Belinda, und die Mutter beruhigte sie.

Nachdem Stacey Belinda jedoch auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt und veranlasst hatte, ihre Schwangerschaft zu akzeptieren, mied sie die Gespräche mit der Mutter aus Angst, sich zu verplappern. Sie lag in ihrem Bett und überlegte, wie die Mutter wohl reagieren würde. Ihre Eltern waren nie streng konservativ gewesen. Trotzdem würden sie schockiert sein, dass Belinda und Andy es vor der Hochzeit hatten geschehen lassen. Vor einer Hochzeit, die nun nie mehr stattfinden würde. Aus diesem Grund hielt sie es für besser, das Geständnis noch einmal aufzuschieben. In ein paar Wochen, sobald die Examensprüfungen geschrieben waren, wollte sie zur Farm hinausfahren, um das Weihnachtsfest mit der Familie zu verbringen. Warum also sollte sie es sich antun und die Angelegenheit am Telefon zur Sprache bringen?

Am Fußende des Bettes bewegte sich etwas. Belinda hob den Kopf und sah das Hundebaby, das sich zu ihren Füßen eingerollt hatte. »Wo kommst du denn her?«, fragte sie lächelnd, während der kleine Hund versuchte, sich so klein wie möglich zu machen. »Es wird Zeit, dich in dein neues Zuhause auf die Farm zu bringen. Du fühlst dich hier schon viel zu wohl. He, Buddy«, fuhr sie fort, als erwarte sie eine Antwort von dem Tier, »vielleicht kriegst du dann auch endlich einen Namen.«

In Belindas Familie begannen sämtliche Vornamen mit dem Buchstaben B. Begründet hatten diese Tradition ihre Eltern Barbara und Brett, deren Freunde ihnen die Spitznamen B ’n’ B (gelegentlich auch zu Bed ’n’ Breakfast erweitert) gegeben hatten. Es war daher nur folgerichtig gewesen, diesen Brauch in Bezug auf die Namensgebung der Kinder fortzuführen. Sie hatten sogar Belindas Schwester »Becky« und nicht Rebecca getauft. Belinda liebte den Gleichklang ihrer Namen. Er schien den Zusammenhalt und die enge Beziehung unter den Familienmitgliedern zu stärken. Sie war sicher, eine leichte Enttäuschung in der Stimme der Mutter entdeckt zu haben, als ihr Andy zum ersten Mal namentlich vorgestellt worden war. Wobei der Buchstabe A natürlich unmittelbar vor B im Alphabet stand. Belindas Exfreund Ben hatte schon aufgrund seines Namens die Sympathie der Eltern gewonnen.

Heiliger Strohsack, wenn ich nicht einmal einem Hund, der seit zwei Monaten bei mir lebt, einen Namen geben kann, dann stehen die Chancen meiner beiden kleinen Jungs in dieser Beziehung wirklich schlecht. Sie berührte instinktiv ihren Bauch. Die kleinen Jungs? Oder waren es Mädchen? Oder vielleicht ein Mädchen und ein Junge?

Sie fühlte, wie es ihr kalt über den Rücken lief. Auf ihren Armen bildete sich Gänsehaut. Es war das erste Mal, dass sie die beiden neuen Menschen, die in ihr heranwuchsen, direkt ansprach. Es war ein seltsames Gefühl.

Sie holte tief Luft und flüsterte nervös: »Hört zu, Jungs. Ich möchte euch nur sagen, dass mir die Geschichte im Fitnessstudio heute wirklich leidtut. Ich wollte nichts tun, was euch schaden könnte.« Die Stimme versagte ihr, und sie fuhr schnell fort: »Ich weiß, dass ich bestimmt keine perfekte Mutter abgeben werde, aber, hm … Ich versuche, mich zu bessern, okay? Also gute Nacht, und seid brav. Keine Prügeleien da drinnen.«

Sie knipste die Nachttischlampe aus, drehte sich auf die Seite und kuschelte sich in die Kissen. Eine Träne rann über ihre Wange, während sie mit einem Lächeln im Gesicht in den Schlaf fiel, die Arme schützend um ihren Bauch geschlungen.