5
Belinda
Ungefähr eine Woche nach Andys Begräbnis fragte sich Belinda zum ersten Mal, weshalb ihre Periode ausblieb.
Das konnte doch nicht sein … Sie blätterte verwirrt ihren Kalender durch. Dann dämmerte es ihr. In letzter Zeit hatte sie immer wieder Übelkeit und Unwohlsein verspürt. Sie war müde, übellaunig und sehr emotional gewesen. Allerdings hatte sie all diese Symptome mit der Trauer einer jungen Witwe in Zusammenhang gebracht, deren Zukunftspläne gescheitert waren.
Als erste Reaktion griff sie automatisch zum Handy, um Andy anzurufen. Während der Name »Andy« auf dem Display aufflammte, wurde ihr die Sinnlosigkeit ihres Tuns bewusst. Sie war so wütend auf sich selbst, dass sie das Telefon durchs Zimmer pfefferte. Leider stand sie dabei im Schlafzimmer mit dem großen Doppelbett. Das Handy versank zuerst lautlos in den weichen Kissen und prallte dann kraftlos und ohne dramatischen Effekt gegen das Kopfteil.
Okay, reiß dich zusammen. Gehen wir das mal logisch durch.
Erstens nahm sie die Pille – und hatte sie seit drei Jahren genommen. Und zweitens … zweitens … mein Verlobter ist tot. Ich kann nicht schwanger sein. Und sowieso kann ich das auf keinen Fall allein durchstehen.
Eine halbe Stunde später kam sie von der Apotheke zurück, stand im Schlafzimmer und starrte auf den Schwangerschaftstest. Sie spielte mit dem Gedanken, Stacey oder vielleicht eine ihrer Freundinnen von der Uni anzurufen, jemanden wie Jules zum Beispiel, die derartige Dinge entspannter und lockerer sah, beschloss dann jedoch, es vorerst für sich zu behalten. Sollte der Test positiv ausfallen, war die Realität angesichts einer Mitwisserin kaum noch zu leugnen.
Sie machte den Test und setzte sich auf den Rand der Badewanne, um auf das Ergebnis zu warten. Während sie wartete, brütete sie über ihrem Kalender, versuchte sich zu überzeugen, dass nicht sein konnte, was nicht sein durfte. Und überhaupt! Weshalb hatte sie neun lange Wochen das Ausbleiben ihrer Regel nicht registriert? Sie war bereits vier bis fünf Wochen überfällig. Beim Blättern im Kalender stieß sie in den vergangenen Wochen auf den Eintrag in leuchtender pinkfarbener Schrift am 5. August: »Jennys Junggesellinnenabschied«. Das war die Nacht, in der sie sich mit hausgebrauter Sangria betrunken hatte. Furchtbar betrunken hatte. Alles durcheinandergetrunken hatte. In den frühen Morgenstunden hatte sie sich kurz nach der Rückkehr in die Wohnung im Badezimmer übergeben – kurz nachdem sie zu Bett gegangen war und nachdem sie wie immer vor dem Schlafengehen die Pille genommen hatte. Sollte das heißen, dass sie die Pille zusammen mit all der grauenhaften Sangria wieder von sich gegeben hatte?
Großer Gott! Vielleicht ist es doch passiert.
Noch sechzig Sekunden. Sie gab sich ganz unbeabsichtigt einem Tagtraum hin, stellte sich vor, wie sich dieser Augenblick abspielen würde, wenn Andy noch lebte. Obwohl sie sich für die Mutterrolle noch nicht reif fühlte, wäre es ein völlig anderes Gefühl. Voller Nervosität und Aufregung. Es hätte eine Hand gegeben, an der sie sich beim Warten hätte festhalten können. Einen Menschen hier neben ihr auf dem Rand der Badewanne, gegen den sie sich ängstlich hätte schmiegen können. Sie hätten Witze gemacht und sich besorgt gefragt, was wohl ihre Eltern dazu sagen würden – aber letztendlich hätten sie gewusst, dass sie einander hatten, und wenn sie die Hochzeit beschleunigten, konnten sie Mann und Frau sein, bevor die Schwangerschaft offensichtlich wurde. Sie hätten das irgendwie hingekriegt. Andy hatte sich immer viele Kinder gewünscht. Für ihn wäre das alles ganz in Ordnung gewesen … Und zweifellos hätte sein freudiger Optimismus auch auf sie abgefärbt. Bei einem positiven Resultat hätte er vermutlich begeistert gejubelt, sie vom Badewannenrand gezogen und in die Luft geschwenkt und wäre mit ihr durch den Raum getanzt, seine sonnengebräunten Arme eng um ihre Taille geschlungen.
Sie fühlte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten, und schüttelte den Tagtraum von sich ab. Es war Zeit, das Ergebnis zu prüfen.
Zwei Linien. Eine davon blasser als die andere.
Na großartig! Was zum Teufel bedeutete diese verschwommene Linie?
Sie las noch einmal die Gebrauchsanweisung durch. Demnach waren zwei Linien, ob blass oder nicht, zwei Linien.
Und zwei Linien bedeuteten ein positives Ergebnis.
Der begeisterte Jubelschrei blieb aus. Sie holte tief Luft, warf den Schwangerschaftstest in den Mülleimer und ging aus dem Badezimmer. Sie lief minutenlang im Wohnzimmer auf und ab und zweifelte an ihrem Verstand.
Nein, ich muss das falsch verstanden haben. Ich sehe Gespenster. Daran muss wohl der Kummer schuld sein. Und die zweite Linie verblasste in ihren Gedanken immer weiter bis zur Unkenntlichkeit. Schließlich war sie fast sicher, sich diese Linie nur eingebildet zu haben. Wow, ist ja nicht zu fassen! Fast hätte ich mir eingeredet, schwanger zu sein. Wie peinlich! Was soll ich nur heute Abend kochen?
Einen weiteren Monat lang weigerte sich Belinda, über ihre ausbleibende Periode nachzudenken. Jeden Morgen, während die Übelkeitsattacken zunahmen und sie jedes Mal beim Zähneputzen würgte und sich übergeben musste, tat sie dies als … einen unangenehmen Infekt ab! Als Kater! Als Lebensmittelvergiftung – wieder mal! Sie lebte weiter wie bisher. Vier Kurse pro Woche bei ihrer Teilzeitbeschäftigung im Schwimmbad. Ein- oder zweimal wöchentlich im Fitnessstudio. Ein Pfannengericht, Eintopf oder Pasta zum Abendessen – alles, worauf sie gerade Lust hatte, ohne auf jemanden Rücksicht nehmen zu müssen. Vor dem Fernseher einkuscheln und fernsehen … was immer sie wollte! Auch in diesem Punkt musste sie sich mit niemandem abstimmen. Es gab niemanden mehr, der ihre höchst peinliche Leidenschaft für Trash-TV wie Das lustigste Heimvideo oder Die Junggesellin belächelte. Da waren nur sie und der kleine Hund, die sich auf dem Kuschelsofa aneinanderschmiegten. Anschließend ging sie ins Bett, wann immer sie wollte. Mit einer Packung Eiscreme, falls ihr danach war. Häufig genug glitt ihr der Becher mit Eis beim Einschlafen aus der Hand. Dann fand sie beim Aufwachen die Bezüge mit geschmolzenem Fürst-Pückler-Eis bekleckert. Aber das störte niemanden. Das Leben war eigentlich perfekt. So, wie es sein sollte. Man tat einfach, was man tun wollte. Und der kleine Welpe war der ideale Gefährte. Er war mit allem, was sie sagte und tat, einverstanden.
»Möchtest du raten, welche Nachrichtengeschichten uns auf Today Tonight diese Woche erwarten?«
Großes, feuchtes Gähnen des Welpen als Antwort.
»Zu leicht für dich, was? Also gut. Ich setze zehn Piepen auf mindestens eine Meldung über steigende Benzinpreise und über zwei Spiele der Abstiegskandidaten der Liga in der K.-o.-Runde.«
Ein zweifelnder Blick des Welpen.
»Du willst nicht mitbieten? Auch gut. Sollen wir den Einsatz erhöhen? Sagen wir, wir wetten um eine Monatsration des Dr.-Harry-Testsieger-Hunderfutters statt des lausigen Fraßes, den ich dir jeden Abend vorsetze?« Sie zog die Augenbrauen erwartungsvoll hoch. Der Welpe wedelte aufgeregt mit dem Schwanz. »Aha! Er ist dabei!« Sie griff nach der gesunden Pfote des Welpen, lehnte sich in die Polster zurück und knipste den Fernseher an, um zu prüfen, wer die Wette gewonnen hatte.
Nur eine Kleinigkeit störte ihre gute Stimmung. Jeden Morgen – an jedem verfluchten Tag und ohne die geringste Ausnahme – wachte sie auf und erlebte diesen Moment. Diesen Bruchteil einer Sekunde. Tatsächlich reichte es nicht einmal für einen Bruchteil. Es war nur ein Aufblitzen, ein grausames Flimmern, währenddessen sie dachte, dass das alles nie geschehen sei. Sie musste nur die Hand ausstrecken, und Andy würde dort neben ihr liegen. Dort, wo er hingehörte. Sie würde sich umdrehen und sein kurzes, lockiges braunes Haar sehen, sein breites, liebenswertes Lachen mit einem Grübchen – in der linken Backe –, seine strahlenden, klugen blauen Augen. Dann war der Moment vorüber, sie wachte ernüchtert auf, und die Welle der Übelkeit überrollte sie wieder wie gewohnt. Tatsächlich war vermutlich allein dieses Trugbild an ihrem Unwohlsein schuld. Ja, das konnte die Lösung sein! Diese Anfälle von Übelkeit hatten absolut nichts mit diesem Strich, diesem kaum wahrnehmbaren angeblichen Indikator zu tun, der vage in ihrer Erinnerung herumgeisterte.
Danach verliefen ihre Tage nach gewohntem Muster. Sie verdrängte jede glückliche Erinnerung an Andy und ersetzte sie durch jene Momente, in denen sie gestritten hatten: Manchmal handelte es sich nur um eine kleine Meinungsverschiedenheit über ein unwichtiges Detail bei den Hochzeitsvorbereitungen, ein anderes Mal um eine lautstarke, schrille Auseinandersetzung wegen des Mülls, den Belinda hinauszutragen vergessen hatte, oder über Andys Versäumnisse, die Geschirrspülmaschine auszuräumen. Es fiel ihr leichter, an solche Episoden zu denken, sich vorzugaukeln, ohne Andy weniger Probleme, keinen Grund für Tränen und Trauer zu haben.
*
»Today Tonight bringt wieder eine Story über BHs.«
»Du schuldest mir zehn Piepen.«
»Verdopple den Einsatz, oder du kriegst nichts.«
»Gib’s auf, Babe. Du weißt, dass sie in einer oder zwei Wochen wieder so einen Spot bringen.«
»Okay, ich will fair sein. Du kannst dir deinen Gewinn im Bett abholen.«
»Aber nicht jetzt! Wir wollen gerade erst Abendessen kochen.«
»In Ordnung. Nach dem Essen?«
»Da kannst du drauf wetten. Allerdings habe ich eine noch bessere Idee, was wir nach dem Essen machen könnten.«
»Ach wirklich? Und das wäre?«
»Dankeskarten für die Verlobungsgeschenke schreiben.«
»Belle, deine Vorstellung von Spaß ist beschissen.«
»Geschenkt. Muss aber trotzdem erledigt werden. Und ich möchte das vom Tisch haben, bevor wir vergessen, wer uns was geschenkt hat. Ist dir klar, dass seit unserer Party schon zwei Monate vergangen sind?«
»Schon gut. Du bist mal wieder die Stimme der Vernunft.«
»Schätze, es gibt wohl keine Adresse, an die wir deinem Bruder eine Karte schicken könnten, oder? Hast du überhaupt eine Ahnung, in welches Land er entschwunden ist?«
»Ist das wichtig? Ich kann mir nicht vorstellen, dass er auf eine Dankesbezeugung Wert legt.«
»Stimmt. War nur neugierig, wo er diesmal gelandet ist.«
»Was interessiert dich mein Bruder? Vermisst du ihn schon, oder was?«
»Wie bitte? Weshalb sollte ich deinen Bruder vermissen?«
»Na ja, ist immerhin mein Bruder. Und ich dachte, er ist dein neuer bester Freund, oder etwa nicht? War kaum zu übersehen, dass bei unserer Verlobungsfeier zwischen euch beiden der Knoten geplatzt ist.«
»Habe ich was falsch gemacht? Willst du mit mir streiten, oder irre ich mich?«
»Weshalb weichst du mir aus? Gib mir einfach eine Antwort – hast du eine Schwäche für meinen Bruder?«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Du bist unglaublich. Du willst nicht antworten, stimmt’s? Du kannst mich mal! Ich gehe in die Kneipe. Vielleicht bist du ja bereit, mir zu antworten, wenn ich zurückkomme!«
*
Sobald sich eine glücklichere Erinnerung in den Vordergrund zu schieben drohte, wie zum Beispiel jener Abend, an dem sie sich kennengelernt hatten (in der Kneipe, wo sie arbeitete), kamen ihr sofort die Tränen, und sie versuchte solche Gedanken augenblicklich auszublenden. An jenem besonderen Abend damals hatte Andy Belinda in der Kneipe beherzt vor einem Typen »gerettet«, der sie zu belästigen schien. Leider war der Kerl der Rausschmeißer des Ladens und ihre Unterhaltung eigentlich ganz harmlos gewesen. Der Rausschmeißer reagierte ausgesprochen ungnädig auf Andys Versuch, ihn vom Tresen weg und aus dem Schankraum ins Freie zu komplimentieren. Belinda wusste Andys Einsatz dennoch zu schätzen. Sie fand ihn nach Ende ihrer Schicht einigermaßen lädiert draußen vor dem Lokal und kühlte seine geschwollene Lippe mit Eiswürfeln. In der darauffolgenden Zeit hatte sich ihre Beziehung äußerst positiv entwickelt.
Wie gern hatte sie allen immer wieder erzählt, wie Andy und sie sich kennengelernt hatten. Jetzt allerdings war sie überzeugt, dass dieses Thema ihrer Gesundheit nicht zuträglich war, und vergrub sich lieber in ihr Studium. Eines Abends ging sie ihre E-Mails auf der Suche nach einer alten Nachricht durch, die Kontaktdaten einer Kommilitonin enthielt, mit der sie für eine Gruppenarbeit eingeteilt war, und stieß dabei auf ein Rundschreiben von Andy unter dem Motto »Kicker-Runde«. Ohne es zu wollen, öffnete sie die Mail und biss sich auf die Unterlippe, um nicht in Tränen auszubrechen, als sie den flapsigen Mail-Austausch las.
Hallo, Leute,
hier mein Vorschlag: lockeres Fußballern jeweils am ersten Sonntag im Monat, beginnend am 3. April, im Crestwood Oval (auf der anderen Straßenseite gegenüber der Highschool) um 13 Uhr. Alles Weitere vor Ort.
Wollt ihr’s spannend? Dann teilen wir die Gruppe in zwei Teams auf. Sollten die meisten aufkreuzen, reicht es für jeweils ein Fünferteam. Die Verlierer spendieren den Gewinnern nach der Partie eine Runde Drinks im Winsto Pub. Bier nach dem Spiel ist eigentlich kontraproduktiv – ihr wisst schon, Fitsein ist Trumpf und so … aber das kann jeder für sich entscheiden.
Also taucht besser vollzählig auf, sonst muss ich annehmen, dass ihr Weicheier seid. Gilt auch für die Mädels.
Tschüss
Andy
Hallo allerseits,
lasst uns Jungs gegen Mädels spielen. Jungs, wir Mädels machen euch platt! Mädels – wie wär’s? 10-Dollar-Cocktails nach dem Kampf? Wäre das Mindeste!
Belle
Hey, Ando,
nimm deine Frau an die Kandare.
Belle, ist das ein Versprechen, Baby?
Hochachtungsvoll
Der Shankmeister
– Wir hauen auf die Pauke, Leute – Rock out with your cock out
Du hast Klasse, Belle! Wir kriegen diese Jungs dazu, uns literweise Moët zu spendieren.
Wie’s aussieht, verbringe ich die Nacht damit, die Stollen meiner Fußballschuhe scharf zu machen. Sei auf der Hut, Shanks! Das tut verdammt weh. Danach wünschst du dir, ich wäre dir mit meinen Stilettos auf die Zehen getreten.
Peace
Jules
Jungs,
könnt ihr mal aufhören, auf »reply all« zu hämmern?
Gibt noch Leute, die zu arbeiten haben.
Danke.
Und freundliche Grüße
Stacey Thomas
Managerin, Kundenservice
Bardens Leihhaus
»Bardens beendet Sorgen mit Borgen«
Oh, Shit, muss ich gewesen sein mit dem Verteiler.
Tut mir unendlich leid, Stacey!
Hochachtungsvoll
Der Shankmeister
– Wir hauen auf die Pauke, Leute – Rock out with your cock out
Belinda hatte bisher gar nicht registriert, wie sehr ihr Andys Blödel-Fußballspiele fehlten, die während der ungefähr fünf oder sechs Monate vor seinem Tod regelmäßig stattgefunden hatten. Andy und Belle hatten – nachdem sie sich einmal entschlossen hatten, zusammen in einem Team zu spielen – festgestellt, wie gut sie harmonierten. Hatten sie sich in gegnerischen Mannschaften gegenübergestanden, war Belindas sportlicher Ehrgeiz auf Andys Fußballkünste geprallt, und es hatte meistens gekracht.
Während Belinda nun die Mails las, erwog sie erneut, einen von Andys Freunden anzurufen. Der Gedanke, Kontakt aufzunehmen, hatte sie in dem vergangenen Monat wiederholt beschäftigt. Schließlich war sie auch mit den Jungs befreundet gewesen. Wie James übrigens auch. Aber jedes Mal, wenn sie den Telefonhörer in der Hand gehalten hatte, hatte sie irgendeine Ausrede gefunden, um doch nicht anzurufen.
Nicht jetzt, ich sollte fürs Studium arbeiten.
Vielleicht später, wenn ich vom Fitnessstudio nach Hause komme.
Und in dem Moment, da sie auf Log-out klickte und sich vom Computer abwandte, redete sie sich dieses Vorhaben erneut aus.
Ein paarmal hatte der eine oder andere von Andys guten Schulfreunden von sich aus versucht, Kontakt mit ihr aufzunehmen. Auf Facebook hatte sie eine Nachricht von Coombes mit dem Betreff: »Wollte nur wissen, wie’s dir geht« entdeckt, diese jedoch entgegen allen guten Vorsätzen nie geöffnet. Außerdem war da noch die schüchterne, unbeholfen formulierte Nachricht von Aaron Shanks auf ihrem Anrufbeantworter gewesen … Auch diese hatte sie unbeantwortet gelassen. Sie wusste einfach nicht, wie sie reagieren sollte. Andy war eindeutig ihre Verbindung zu den Jungs gewesen. Wie sollte sie sich nach seinem Tod ihnen gegenüber verhalten? Sein Bruder James allerdings hatte weder anzurufen versucht noch eine Nachricht geschickt. Sie musste daher annehmen, dass er ihr gegenüber dieselbe Haltung einnahm wie seine Mutter.
Und je länger sie all diese Kontaktversuche ignorierte, desto schwieriger wurde ein Neuanfang.
*
»Hi, Babe.«
»Hast du dich gut amüsiert?«
»Kann man so sagen. Es tut mir wirklich leid wegen heute Abend. Hab mich wie ein Wichser benommen. Wie ein Arschloch. So viel ist mir klar geworden.«
»Woher der Sinneswandel?«
»Überraschung – Shanks ist schuld. Habe ihn im Pub getroffen. Er hat mir die Augen geöffnet. Ich war wirklich völlig gaga. Der Typ hat definitiv seine hellen Augenblicke.«
»Verstehe.«
»Hm … ich will mich ja nicht beschweren, aber du nimmst das ungewohnt gelassen hin. Bist du nicht wütend auf mich? Ich meine, nicht nur weil ich überreagiert habe, sondern wegen meiner Bierfahne – die du bekanntermaßen hasst.«
»Ja, komisch. Ich war sauer. Supersauer sogar. Du hättest heute Küchendienst gehabt. Aber dann hab ich nachgedacht und versucht, die Sache von deiner Warte aus zu sehen, und na ja … Habe mir eine Auszeit genommen. Und ein paar Gläser Wein haben dabei nicht gerade geschadet.«
»Du bist immer wieder für eine Überraschung gut. Ach, fast hätte ich’s vergessen. Ich hab dir Blumen mitgebracht. Stehen in der Küche. Schon im Wasser.«
»Lass mich raten! Rosen?«
»Richtig.«
»Ach herrje, Babe! Wann lernst du’s endlich? Lilien sind meine Lieblingsblumen. Trotzdem danke. Und um deine Frage von vorhin zu beantworten: Nein, ich habe ganz sicher keine Schwäche für deinen Bruder. Ich habe eine Schwäche für dich!«
*
»Also, wie hältst du dich so die Tage?«, erkundigte sich Stacey, als sich die beiden Freundinnen in einem Café in Nord-Sydney ganz in der Nähe von Staceys Arbeitsplatz zum Kaffeetrinken trafen.
»Wie ich mich halte? Was soll das heißen? Oh, du meinst die Studienarbeiten? Mein Stundenplan ist ziemlich voll, aber ich kriege das hin.«
»Das habe ich eigentlich nicht gemeint. Ich meinte, wie du zurechtkommst … ohne Andy?«
Stacey hatte Andrew früher nie Andy genannt, sich hartnäckig geweigert, seinen Kurznamen zu benutzen, auch wenn es ihm anders lieber gewesen wäre. Der liebevolle Ton ihrer Stimme drohte Belinda jedoch unwillkürlich redselig werden zu lassen. Ihre Freundin war normalerweise eher distanziert und sachlich, nahm nie ein Blatt vor den Mund. Dann tauchte wieder einmal die blasse Linie des Schwangerschaftstests vor ihrem geistigen Auge auf, und sie klappte das Visier schnell herunter, verdrängte die Gedanken daran.
»Ach, das meinst du. Ich muss immer daran denken, dass du nicht viel von unserer Beziehung gehalten hast. Vielleicht musste es also so kommen. Kismet!« Belinda hob lässig ihre Cappuccinotasse an die Lippen. Als ihr das Kaffeearoma in die Nase stieg, zuckte sie automatisch angeekelt zurück. Sie stellte die Tasse unwillkürlich so heftig auf die Untertasse zurück, dass der Schaum über den Rand schwappte.
Staceys Augen wurden schmal. »Wann willst du es uns endlich sagen?«
»Was sagen?« Belindas Verwirrung war nicht gespielt.
»Ich bin deine beste Freundin. Und wenn ich ehrlich sein soll, finde ich es unmöglich, dass du’s mir noch nicht gesagt hast.« Der liebevolle Ton von vorhin war Vergangenheit. Stacey agierte wie immer: direkt und ohne Rücksicht auf Verluste. »Ich bin nicht blöd, Herzchen«, fuhr sie fort. »Du rennst dauernd auf die Toilette, weil dir übel ist und du dich übergeben musst. Du presst die Arme gegen deinen Busen, als würde er dich umbringen, und du betrachtest deine Kaffeetasse, als wollte dich jemand mit dem Inhalt vergiften. Ich erinnere mich noch genau an die erste Schwangerschaft meiner Schwester. Eines der frühen Anzeichen war ihre Aversion gegen den Morgenkaffee. Und da du normalerweise einen guten Teil zum Umsatz von Starbucks beiträgst, muss dein Verhalten zwangsläufig als sonderbar auffallen.«
Belinda stand zitternd auf. Sie wandte sich zum Gehen, aber Stacey war dieses Mal entschlossen, nicht klein beizugeben. Sie packte Belinda beim Handgelenk und riss sie energisch zu sich herum.
»Du musst dich der Sache stellen, Herzchen. Und zwar jetzt. Da gibt es kein Entrinnen.« Sie fixierte Belinda wütend. »Also lass gefälligst das Theater.«
Belinda verlor die Beherrschung. Sie dachte an den Schwangerschaftstest und wie eindeutig er ihr dieses Mal vorkam. Die beiden Striche gerieten vor ihrem geistigen Auge plötzlich in Bewegung, wirbelten wie im Trickfilm tanzend durch die Luft und schwenkten dabei ihre Zylinderhüte. »Uns wirst du so schnell nicht los!«, verkündeten sie fröhlich.
Der Schwangerschaftstest war positiv. Die Wirklichkeit hatte sie eingeholt.
Belinda sank auf ihren Stuhl zurück, stützte den Kopf in die Hände und versuchte ihre Situation zu analysieren. Schließlich sah sie zu ihrer besten Freundin auf. »Ich bin schwanger?«, fragte sie kleinlaut mit brüchiger Stimme.
Staceys Mitgefühl gewann augenblicklich die Oberhand. »Du meine Güte, Belinda!« Sie rückte ihren Stuhl näher zu Belinda und legte den Arm um sie. »Das wissen wir nicht hundertprozentig … obwohl ich glaube, dass es kaum Zweifel geben kann.«
Belinda sah die beiden Striche wieder vor sich. Sie waren gestochen scharf zu erkennen. Sie tanzten Tango. »Doch, wissen wir«, entgegnete sie und begann an der Schulter der Freundin zu schluchzen, bis auch Stacey die Tränen kamen.
Belinda heulte minutenlang, stammelte unter Schluchzen unzusammenhängende Sätze, weinte sich gründlich aus, während Stacey tröstend auf sie einredete.
»I… ich steh das n… nicht allein durch.«
»Du bist nicht allein. Du hast mich und deine Familie. Wir stehen dir bei.«
»Ich habe die ganze Zeit über Alkohol getrunken. Was, wenn das Baby Schaden genommen hat?«
»’ne Menge Frauen trinken in der ersten Zeit Alkohol, wenn ihnen noch nicht klar ist, dass sie schwanger sind. Das Baby ist okay.«
»Verdammt, wie konnte er mich nur so alleinlassen?«
»Das war doch keine Absicht! Wenn er gekonnt hätte, hätte er alles gegeben, um jetzt bei dir zu sein.«
»Was ich vorhin gesagt habe … das war nicht ernst gemeint. Ich meine, dass es vielleicht Schicksal war. Wir waren kein schlechtes Team, oder?«
»Nein, Herzchen. Ihr seid ein großartiges Team gewesen.«
Belinda brachte ein halbherziges Lächeln an Staceys Schulter zustande. »Jetzt lügst du aber. Du hast Andy nie gemocht.«
»Ich bitte dich! Der Typ hat seine Tage mit Computerspielen verbracht. Nicht gerade eine tolle Beschäftigung, oder?«
»Stacey! Er hat Computerspiele entwickelt. Und darin war er brillant.«
»Okay. Okay. Jetzt fall mir bitte nicht in den Rücken. Ich versuche nur, dich zu trösten.«
Belinda richtete sich auf und wischte sich das verschmierte, tränennasse Gesicht ab. »Und das machst du prima, Stacey. Schätze, es ist Zeit, dass ich zum Arzt gehe. Kommst du mit?«