… Minus 012 Countdown läuft …
 
Eine Stunde verging.
Die Zeit ist gekommen, das Walross sprach, zu reden von vielen Dingen … von Segelschiffen und Siegelwachs, und ob Schweine haben Schwingen.
Bilder huschten ihm durch den Kopf. Stacey. Bradley. Elton Parrakis mit seinem Babygesicht. Der Albtraum seiner Flucht. Das Anzünden der Zeitungen im Bostoner YMCA-Keller mit seinem letzten Streichholz. Das Quietschen der Bremsen und der Benzingestank der Polizeiwagen, die ihn verfolgten, die Flammen spuckende Maschinenpistole. Laughlins säuerliche Stimme. Die Bilder von diesen beiden Kindern, den Junior-Gestapoagenten.
Warum eigentlich nicht?
Keine Bindungen mehr, schon gar nicht moralische Bedenken. Wie könnte Moral ein Thema für einen Mann sein, der, losgelöst von allem, frei im Kosmos trieb? Wie klug von Killian, das zu sehen und ihm mit gelassener und sanfter Brutalität vor Augen zu halten, wie allein er war. Bradley und sein leidenschaftlicher Kampf gegen die Luftverschmutzung schienen meilenweit entfernt zu sein, irreal, unwichtig. Nasenfilter. Ja. Es hatte eine Zeit gegeben, da war ihm der Kampf um Nasenfilter groß und sehr wichtig vorgekommen. Das war vorbei.
Die Armen wirst du immer bei dir haben.
Richtig. Sogar Richards’ Lenden hatten ein Muster für die Tötungsmaschine gezeugt. Die Armen würden sich schließlich anpassen, mutieren. In zehn- oder fünfzigtausend Jahren würde ihre Lunge ein eigenes Filtersystem entwickeln. Dann würden sie sich erheben und den Reichen die künstlichen Filter aus der Nase reißen, würden zusehen, wie sie sich krank und stöhnend auf den Straßen wanden und langsam ihr Leben aushauchten, wie sie in einer Atmosphäre erstickten, in der Sauerstoff nur noch eine geringe Rolle spielte. Und was bedeutete Zukunft für Ben Richards? Sinnlos sich zu beschweren.
Eine Trauerzeit würde folgen. Sie würden das akzeptieren, ihn sogar dabei unterstützen. Es würde Wutausbrüche geben, Augenblicke der Auflehnung. Vergebliche Versuche, die Öffentlichkeit auf die absichtliche Luftverschmutzung durch die Regierung aufmerksam zu machen? Vielleicht. Darum würden sie sich kümmern. Sie würden sich auch um ihn kümmern – in der Erwartung, dass er sich eines Tages um ihre Angelegenheiten kümmern würde. Instinktiv wusste er, dass er dazu fähig wäre. Er nahm an, dass er sogar eine gewisse geniale Veranlagung für diesen Job hatte. Sie würden ihm helfen, ihn heilen. Arzneien und Ärzte. Eine Änderung der Einstellung.
Dann Frieden.
Seine Streitsüchtigkeit würde wie Unkraut aus ihm herausgejätet werden.
Er betrachtete den Frieden sehnsüchtig, wie ein Mann in der Wüste Wasser betrachtet.
Amelia weinte in ihrem Sitz immer weiter vor sich hin, obwohl sie schon längst keine Tränen mehr hätte haben dürfen. Er fragte sich, was nun aus ihr werden würde. In ihrem gegenwärtigen Zustand konnte sie schlecht zu ihrer Familie zurückkehren. Sie war einfach nicht mehr die Lady, die routinemäßig, den Kopf voller Kochrezepte und Termine für Wohltätigkeitsveranstaltungen, an einem Stoppschild gehalten hatte. Sie hatte in den Abgrund geblickt. Er nahm an, dass es Medikamente und eine Therapie geben würde, eine Patientin, die angibt. Der Scheideweg, Aufzeigen des Grundes, warum der falsche Weg eingeschlagen wurde. Ein Karneval in dunklen übergeschnappten Brauntönen.
Plötzlich hatte er das Verlangen, auf sie zuzugehen und sie zu trösten. Ihr zu sagen, dass es gar nicht so schlimm um sie stünde und dass ein einfaches, psychisches Kreuzpflaster sie schnell wieder gesund machen würde, dass es ihr dann sogar besser als zuvor ginge.
Sheila. Cathy.
Ihre Namen kamen und wiederholten sich, ertönten in seinem Gehirn wie Glocken, wie Worte, die man so lange wiederholt, bis sie keinen Sinn mehr ergeben. Sprich deinen Namen mehr als zweihundert Mal aus, und du stellst fest, dass du niemand bist. Trauer war unmöglich; er spürte nur Verärgerung und Verlegenheit. Sie hatten ihn genommen, ihn völlig ausgepowert, und er hatte sich als Blödmann entpuppt. Er musste an einen Jungen aus seiner Highschool-Zeit denken, der aufgestanden war, um den Schwur auf die Flagge zu sprechen, dem dabei die Hose runtergerutscht war.
Das Flugzeug brummte immer weiter. Er fiel in einen Halbschlaf, in dem ihn wieder die Bilder der vergangenen Ereignisse heimsuchten, ohne die Spur eines Gefühls.
Dann ein letztes Bild aus seinem Album: ein zwanzig mal vierundzwanzig Zentimeter großes Hochglanzfoto, von einem gelangweilten Polizeifotografen aufgenommen, der vielleicht Kaugummi gekaut hatte. Beweisstück C, meine Damen und Herren Geschworene. Ein verstümmelter, zerschnittener Babykörper in einem blutüberströmten Kinderbett. Splitter und Risse an der billigen Stuckwand dahinter und das zerbrochene Mother-Goose-Telefon, das er für zehn Cent gekauft hatte. Ein großer klebriger Blutfleck auf dem einäugigen Teddybär aus zweiter Hand.
Er schrak aus seinen Träumen auf und saß aufrecht im Sitz. Aus seinem weit offenen Mund löste sich ein durchdringender Schrei. Der Druck aus seiner Lunge war so stark, dass die Zunge wie ein Segel im Mund flatterte. Jedes Ding in diesem Erste-Klasse-Abteil stand plötzlich klar und klagend real vor ihm, überwältigend und furchtbar. Es hatte die körnige Realität eines Filmausschnitts. Zum Beispiel das Bild, wie man Laughlin aus dem Geräteschuppen in Topeka gezogen hatte. Alles, alles war sehr real und in Technicolor.
Amelia schrie gleichzeitig angsterfüllt mit ihm los, zusammengesunken in ihrem Sitz, mit weit aufgerissenen Augen, die wie zerbrochene Porzellantürknöpfe wirkten, versuchte sie sich die Faust in den Mund zu stopfen.
Donahue kam durch die Bordküche gerannt. Seine Augen waren kleine begeisterte schwarze Perlen. »Was ist los? Was ist passiert? McCone?«
»Nichts«, sagte Richards. Sein Herzschlag beruhigte sich gerade so weit, dass er die Worte herausbringen konnte, ohne dass sie gequetscht und verzweifelt klangen. »Ein schlechter Traum. Meine kleine Tochter.«
»Oh.« Donahues Augen versuchten Mitleid zum Ausdruck zu bringen. Es gelang ihm nicht sehr gut. Vermutlich würde er sein ganzes Leben ein Schlägertyp bleiben. Vielleicht würde er dazulernen. Er wandte sich ab, um zu gehen.
»Donahue?«
Donahue drehte sich misstrauisch um.
»Ich hab Ihnen einen ganz schönen Schrecken eingejagt, nicht wahr?«
»Nein.« Donahue wandte sich mit diesem kurzen Wort ab. An seinem Nacken traten die Muskeln hervor. Sein Hintern in der knappen blauen Uniform war so hübsch wie der eines Mädchens.
»Ich kann Ihnen noch mehr Angst einjagen«, sagte Richards. »Ich könnte zum Beispiel drohen, Ihnen den Nasenfilter herauszureißen.«
Exeunt Donahue.
Richards schloss müde die Augen. Das Polizeifoto tauchte wieder auf. Öffnete sie. Schloss sie. Kein Polizeifoto. Er wartete, und als er sich sicher war, dass es nicht wiederkommen würde (zumindest nicht sofort), beugte er sich vor und schaltete das Free-Vee ein.
Dan Killian erschien auf dem Bildschirm.
Menschenjagd
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