… Minus 096
Countdown läuft …
Sie riefen die A
fast augenblicklich zur ärztlichen Untersuchung und ungefähr zwei
Dutzend Männer standen auf und gingen nacheinander durch eine Tür
hinter dem Free-Vee-Schirm. Auf einem großen Schild über der Tür
stand: HIER ENTLANG. Unter die Buchstaben war ein Pfeil gezeichnet,
der auf die Tür zeigte. Es war allgemein bekannt, dass unter den
Bewerbern für die Spiele viele Analphabeten waren.
Alle fünfzehn
Minuten oder so war der jeweils nächste Buchstabe fällig. Ben
Richards hatte sich gegen siebzehn Uhr hingesetzt. Er schätzte,
dass es mindestens Viertel vor neun werden würde, bevor sie
reingerufen würden. Wenn er sich doch bloß ein Buch mitgenommen
hätte, aber vermutlich war es so besser. Bücher wurden bestenfalls
mit Misstrauen betrachtet, besonders, wenn sie bei jemandem südlich
vom Kanal gesehen wurden. Pornomagazine waren
sicherer.
Unruhig sah er sich
die Sechs-Uhr-Nachrichten an (die Kämpfe in Ecuador waren heftiger
geworden; in Indien waren neue Kannibalen-Aufstände ausgebrochen;
die Detroit Tigers hatten die Harding Catamounts am Nachmittag 6 zu
2 geschlagen). Als um halb sieben das erste Riesengewinnspiel des
Abends begann, ging er unruhig ans Fenster und sah hinaus. Jetzt,
da er einen Entschluss gefasst hatte, langweilten die Spiele ihn
wieder. Die meisten seiner Genossen saßen jedoch mit furchtsamer
Faszination vor dem Bildschirm und sahen sich Schießen macht Spaß an. Vielleicht waren sie
nächste Woche dran.
Draußen ging das
Tageslicht langsam in die Abenddämmerung über. Die Hochbahnen
rasten mit voller Geschwindigkeit über Gleise, die etwas über den
Fenstern im ersten Stock verliefen. Ihre Scheinwerfer bohrten sich
in das graue Abendlicht. Unten auf den Bürgersteigen gingen Scharen
von Männern und Frauen (die meisten von ihnen natürlich Technikos
oder Angestellte des Networks) auf die Pirsch nach nächtlicher
Unterhaltung. Ein offizieller Pusher verhökerte seine Ware an der
gegenüberliegenden Straßenecke. Ein Mann, der an jedem Arm ein
Püppchen im Zobel hatte, ging unter ihm vorbei. Die drei lachten
über irgendetwas.
Plötzlich
durchflutete ihn eine Woge von Sehnsucht nach Sheila und Cathy, und
er wünschte, er könnte sie anrufen. Aber er glaubte nicht, dass das
erlaubt war. Er konnte immer noch einfach gehen, natürlich. Ein
paar hatten das schon getan. Sie hatten den Raum durchquert, ein
verkniffenes Grinsen auf den Lippen, und waren durch die Tür mit
der Aufschrift ZUR STRASSE verschwunden. Zurück in die kalte
Wohnung, mit Cathy, die im Nebenzimmer glühend vor Fieber lag?
Nein. Kann nicht. Kann nicht.
Er blieb noch eine
Weile am Fenster stehen, ging dann zurück und setzte sich. Das
nächste Spiel Grab dir dein Grab fing
an.
Der Mann neben ihm
zupfte ihn ängstlich am Ärmel. »Stimmt es, dass sie schon mehr als
dreißig Prozent bei der ärztlichen Untersuchung
aussieben?«
»Ich weiß es nicht«,
sagte Richards.
»Herrgott«, murmelte
sein Nachbar. »Ich hab eine Bronchitis. Vielleicht Tretmühle zum Zaster …«
Richards wusste
nicht, was er dazu sagen sollte. Das Atmen des Burschen klang wie
ein weit entfernter Diesellaster, der versuchte einen steilen Hügel
zu erklimmen.
»Ich hab Familie«,
sagte der Mann mit leiser Verzweiflung.
Richards blickte auf
den Free-Vee, als würde es ihn interessieren.
Der Mann schwieg
eine lange Zeit. Um halb acht, als das Programm sich änderte, hörte
Richards, wie er seinen anderen Nachbarn nach der ärztlichen
Untersuchung fragte.
Draußen war es
inzwischen vollständig dunkel. Richards fragte sich, ob es noch
immer regnete. Der Abend kam ihm unendlich lang vor.